Donnerstag, 22 Januar 1953

Brief an Jens

Die Dichtung als Repräsentation, Vergegenwärtigung eines höchst Allgemeinen. Ihre Bildwelt (für mich) möglichst archetypisch: d. h. sie erzählt Grundvorstellungen der Seele. Die uns gemein sind. In diesem Sinn anerkenne ich keine Verpflichtung auf irgendeine Aktualität. Das Gültige ist immer aktuell. Nun freilich kommt es darauf an, immer mehr, immer unerbittlicher auf das Wesentliche zu kommen. Die Gefahr dieser Methode ist, dass sie, wenn die Konzentration des Dichters auch nur einen Augenblick aussetzt, statt Gestalten Kulissen errichtet, Leere mit Staffagen verdeckt. Sie verlangt also klarste Skepsis des Dichters gegenüber ihm selber. Damit er das heilige Bild errichten // 094 kann. Denn die Kunst ist eine Form der Liturgie: eine sinnfällig gewordene Bewegung des Geistes auf ein Übersteigendes, Vollkommenes hin. Und die Bewegung selbst, und ihre Frucht, das Kunstwerk, ist eine Abbildung, ein Abglanz dieses Übersteigenden, Vollkommenen.

02 Denn das Wesentliche verändert sich nicht: es kann in der Veränderung der Konstellation der Weltelemente verändert erscheinen – darum gibt es immer wieder neue Kunstformen und Kunstmittel – aber die Kunst selbst, ihre Gesetze verändern sich nicht. Das Schwierige nun¿ besteht aber darin, das zuzeiten Verwirrende, dass wir diese Gesetze zwar erforschen müssen, dass uns // 095 die Verantwortung gegen uns selbst, der Zwang, über unser Tun uns klar zu werden, uns immer zu dieser Erforschung bewegt: dass wir aber nie damit zu Ende kommen werden, dass wir diese Gesetze nie ganz kennen werden, solange wir die Übersicht über das Ganze nicht haben, nicht selber gleichsam Gott geworden sind. So bleibt die Diskussion über die Regeln der Kunst immer offen (vor allem heute und in Deutschland, wo es so wenig zwingende Konvention gibt).


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Tübingen

Brief an Jens   Die Dichtung als Repräsentation, Vergegen-

wärtigung eines höchst Allgemeinen. Ihre Bildwelt (für

mich) möglichst archetypisch: d. h. sie erzählt
mich) möglichst archetypisch: d. h. bebildert¿ Grund-

vorstellungen der Seele. Die uns gemein sind.

In diesem Sinn anerkenne ich keine Verpflichtung auf

irgendeine Aktualität. Das Gültige ist immer aktuell.

Nun freilich kommt es darauf an, immer mehr, im-

mer unerbittlicher auf das Wesentliche zu kommen.

Die Gefahr dieser Methode ist, dass sie, wenn die

Konzentration des Dichters auch nur einen Au-

genblick aussetzt, statt Gestalten Kulissen

errichtet, Leere mit Staffagen verdeckt. Sie

verlangt also klarste Skepsis
verlangt also wachste¿ Kritik¿ des Dichters gegenüber

ihm selber. Damit er das heilige Bild errichten //

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kann. Denn die Kunst ist eine Form der Liturgie:

eine sinnfällig gewordene Bewegung des Geistes

auf ein Übersteigendes, Vollkommenes hin.

Und die Bewegung selbst, und ihre Frucht, das

Kunstwerk, ist eine Abbildung, ein Abglanz

dieses Übersteigenden, Vollkommenen.

02 Denn das Wesentliche verändert sich nicht: ines

kann in der Veränderung der Konstellation der Welt-

elemente verändert erscheinen – darum gibt es im-

mer wieder neue Kunstformen und Kunstmit-

tel – aber die Kunst selbst, ihre Gesetze ver-

ändern sich nicht. Das Schwierige xxx besteht

aber darin, das zuzeiten Verwirrende, dass wir

diese Gesetze zwar erforschen müssen, dass uns //

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die Verantwortung gegen uns selbst, der Zwang,

über unser Tun uns klar zu werden, uns immer

zu dieser Erforschung bewegt: dass wir aber

nie damit zu Ende kommen werden, dass wir

diese Gesetze nie ganz kennen werden, solange

wir die Übersicht über das Ganze nicht haben,

nicht selber gleichsam Gott geworden sind.

So bleibt die Diskussion über die Regeln der Kunst

immer offen (vor allem heute und in Deutschland,

wo es so wenig zwingende Konvention gibt). Mit¿

einigen¿ xxx.

22.1.53

  • Besonderes:

    Orstangabe: Tübingen; Adressat: Walter Jens

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/05
  • Seite / Blatt: 093, 094, 095

Inhalt: 131 Entwürfe zu 121 Gedichten (17 Endfassungen), Motiv-Notizen, 4 Briefe
Datierung: 16.12.1951 – 13.1.1954
Textträger: Rotbraunes Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 193 beschriebene Seiten
Publikation: Die verwandelten Schiffe (20 Gedichte), Verstreutes (3 Gedichte)
Signatur: C-2-b/05 (Schachtel 79)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1952, 1953, 1954, Typoskripte 19521953, 1954
Kommentar: S. 184-195 Motiv-Notizen, von hinten her eingetragen
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

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