Notizbuch 1948-49

Inhalt: Notizen, 71 Entwürfe zu 51 Gedichten (5 Endfassungen)
Datierung: 1948 – 1.3.1949 (Datierungen ab 10.11.1948; S. 1-51 undatiert)
Textträger: Braunes Notizbuch, beschriftet "Notes"; liniert, Bleistift
Umfang: 96 beschriebene Seiten
Publikation: Gesicht im Mittag (1); Verstreutes (2)
Signatur: C-2-b/01 (Schachtel 79)
Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1945-50, 1948-50
Kommentar: 10 Texte rhythmische Prosa, 7 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen
Ihnen, den Liebenden, noch er-
scheint der geistige Engel wie
einst dem Abram zu Mittag
am Eingang des Zeltes,
05 in der Laube des Hauses der Väter, wo
fröhlich sie trinken und hinüber-
schaun zu den Türmen der Stadt,
zu den Mauern, die nicht wehren dem
Sommer, wenn er hereinwogt
10 im wuchernd verschlungnen Geäst.
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- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Besonderes: Mehrfach gebrochene Langzeilen; Wiedergabe: Zeilenumbruch folgt dem Textzeugen
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: fehlt
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 003 (oben)
Augenblick der Berührung, da jenes ferne Gestirn dem Innern sich nähert. Die Wachen stehen auf den Zinnen. Glücklich, wer den Schweif des Kometen erhascht, wer den Augenblick des Vorüberganges // 004 nicht verschläft, wenn der Teich in Wallung gerät von der hohen Berührung. Er wird genesen¿.
02 Versuchung der grossen Dauer, dass wir sie nicht erwarten. Dass wir der eklen Speise überdrüssig, dem Mahle fern uns halten. Hier¿ doch erscheint die Freude, plötzlich an der verleideten Tafel, aus dem faden Wein erwacht der Gott von neuem.
03 Zutiefst in der perlmutternen Muschel steht er und lockt. Angetan mit dem Fell des erschlagenen Raubtiers. Es bleibt nur das geistige Lächeln. Sein Töten ist nur Verwandlung ins Licht. Und jenseits liegt die neue Verheerung, aus dem Wissen. Die ist furchtbar wie Blitz, für den noch Sterblichen. Die andern im Heere der Engel sind grösser, verzehren sich täglich. Und achten nicht // 005 mehr auf Schmerz.
04 Hier ist der Pincio. Das wahrere Rom. Gestaltete Stadt in der gelben Weite. Schrecklicher noch am Horizonte das Meer. Hier aber genau die Kuppeln und klar bemessen die Säulen wider das Vage. Pinien greifen den Raum, zwingen¿ Proportionen, Verhältnisse, Mass. Es ist Minerva, die herrschende da, porphyrn auf dem Kapitol und wacht über dem hellsten Wasser.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Prosagedicht
- Datierung: fehlt
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 003 (unten), 004, 005 (oben)
Blendend erhellt im Schweif des Kometen,
Smaragdgrün der Fluss,
golden die Kronen der Bäume // 006
Lohn für das Harren in der grossen Dauer.
05 Schnell wird überdrüssig die ekle Speise,
nicht lockt mehr das Mahl.
Hier doch erscheint die Freude plötzlich an der verleideten Tafel;
Aus dem faden Wein erwacht der Gott von neuem.
09 Zutiefst in der perlmutternen Muschel steht er und lockt. Angetan mit dem Fell des erschlagenen Raubtiers. Es bleibt nur das geistige Lächeln.
10 Sein Töten ist süss. Verwandlung ins Licht. Pforte des Rausches.
11 Jenseits liegt die Verheerung die neue, aus dem Wissen. Dies ist furchtbar wie Blut für den noch Sterblichen.
Die andern jedoch sind grösser, verzehren sich täglich. Achten nicht mehr auf Schmerz. // 007
12 Neues Rom, vom Pincio geschaut. Sicher bemessene Stadt in der lehmigen Weite. Drohender noch, titanischer drohend das Meer in der Ferne. Hier sind die Kuppeln gewölbt und die Säulen wider das Vage erhoben.
13 Minerva porphyrne Gestalt, leuchtet mit Helm und Speer auf dem Kapitol. Zu Füssen entspringt kristallenes Wasser.
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- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Bemerkung: Stillung des Sturms
- Besonderes:
Verse + Prosa; ab hier Fortsetzung in zwei getrennten Gedichten (vgl. Synopse).
Motivische Weiterführung in Stillung des Sturms - Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: fehlt
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 005 (unten), 006, 007 (oben)
- Textverweis: Stillung des Sturms, gereinigter Himmel …* (8)
Aber der Garten braucht geduldige Wartung …
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Details: Emendation: Der → der
- Besonderes: Einzeiliger Ansatz
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: fehlt
- Fassung: Erste Fassung, Letzte Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 007 (Mitte)
Bergwerk, Rufen, Förderkorb,
Bäche¿, Satyr,
Schwäne Kapelle mit dem dunkelglänzenden Bild.
Die hohe Brücke: tief aus einem Garten ragen die Kronen der Bäume herauf zum Geländer. // 008
05 Violette Blütenkerzen.
Reklamen, schreiend farbig an Hauswänden.
Der Tag versinkt gelblich im Westen.
Leuchtende Strassenbahnen.
Bunte Leuchtschriften.
10 Zauberstrom hinziehend zu einem
neuen Dasein. Anderen Wissens.
Glück und Gefahr fortan erdacht und berechnet.
Dawider bricht von unten das Widerspiel auf, das reine
Chaos, wie wir es nicht mehr gekannt, die Titanen lösen
15 sich aus den Fesseln. Wir spüren schon wie sie zerren. Es klirrt im Ohr und die Wagen alle fliehen, die fliehen immer im Kreis. Zu entkommen ist unmöglich. Die Berge schleudern die Mächte¿ wider einander. Die Kinder entmannen den Vater, und waren // 009 sie einstmals noch sanft, auf der Insel von Honig genährt, mit Milch der Ziege getränkt, so sind sie heute erwachsen und kühn und tragen in sich die Gefahr der eignen Vernichtung. Es kommt die Stunde, da sie es wissen.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Details: 01 Rufen] ev. Rüfen
- Besonderes: Stichworte, Prosa, z.T. rhythmisiert; Zeileneinzüge, Absätze etc. unklar
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Prosagedicht
- Datierung: fehlt
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 007 (unten), 008, 009 (oben)
Zu Dürrenmatt: Erliegt dem Zauber der Radikalen Verweigerung. Moderner Ästhetizismus des pessimistischen Pathos. Verlust des Blickes für die Realität. Verneinung der Humanität, damit der menschlichen Aktivität: dort wo für Luther und die Ref. als Rettung Gott und seine Gnade stehen, steht beim Modernen dann einfach nichts. Es ist ein grosser Irrtum Dürrenmatts, wenn er glaubt, er könne // 010 diesen Sachverhalt ändern. Die Überwelt des altprotestantischen Dogmas rekonstruieren. Sie wird heute nicht mehr ernst genommen.
02 Und selbst, wenn sie es noch würde: der Dürrenmattsche Gott ist einfach ein anderer Ausdruck für das Nichts, die absolute Finsternis. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sie im Kleid der Gnade auftritt <wobei diese Gnade ein anderes Wort ist für Tod, Vernichtung. Echte Mystik lässt Vernichtung nur gelten als Durchgang, via purgativa, gelangt so zur unio mystica. Hier // 011 ist nur Tod, Vernichtung. Die Gnade überzeugt nicht. Sie wird unvermittelt herabgeglaubt, aus Verzweiflung. Dann das Ganze konstruiert und peinlich wirkend.> Weltschmerz, aus dem Sentimentalen ins Pathetische gewendet. Begeistertes Ja zur Selbstvernichtung. Letzte Dekadenz.
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- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Prosanotat
- Datierung: fehlt
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 009 (unten), 010, 011 (oben)
Aus der Kuppel schwebt die Taube herab, weissen, schwebend, wehenden Flügels aus der lichten Rundung. Die Gemeinde ihr bereitet. Entflammt zu vielen Zungen. Verblassend die Engel an den Gesimsen. Sie werden einst¿ Bilder, alle Kraft in der Gemeinde vereinigt. Sie gehen sicher allein unter dem Wurf der Berge, unter geschleuderten Blöcken. Und wenn jene Kinder Kains dem Vater entrinnen¿, so fürchten sie nicht die Saat von dem vergossenen Blute. Die Taube schwebt still und leuchtet. Ihre // 012 Weisheit wacht, Glanz bleibt sie in der Kuppel, wider das Chaos gestellt.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Details: Z. 01 weissen] ev. weisses
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Prosagedicht
- Datierung: fehlt
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 011 (unten), 012 (oben)
Taube, licht aus der Kuppel
flügelnde Weisse,
Herab aus der Rundung,.
flammender Väter[.]
05 rot im Ornat allverständlicher Zungen.
Als Einzige sicher im Stürzen der Dinge,
im Sausen der Blöcke,
von Titanen geworfen im Spiel,
sind sie als einzige furchtlos.
10 Ohne Furcht vor dem Blut
des entmannten Gottes,
der gigantischen Saat,
harren sie aus,
bleibt die Taube,
15 flügelnd, hell in der Kuppel.
Ewige Weisheit.
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- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: fehlt
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 012 (unten)
Wie schnell nicht verleidet die tägliche Speise!
Bald schon reizt nicht mehr das Mahl.
Doch hier erscheint plötzlich die Freude:
Aus dem faden Wein erwacht von neuem der Gott.
05 Zutiefst in der perlmutternen Muschel steht er und lockt
Angetan mit dem Fell des erschlagenen
Raubtiers lacht er, weil die List ihm gelungen.
Sein Töten ist süss, Pforte des Rausches.
Jenseits liegt neue Verheerung aus Wissen.
Das ist für den noch Sterblichen furchtbar.
Die andern jedoch achten nicht mehr auf Schmerz.
10 Vom Pincio schauen sie nieder auf Rom,
die sicher bemessene Stadt. // 014
Rings zwar droht lehmige Weite,
titanischer droht in der Ferne das Meer.
Hier aber sind die geistigen Kuppeln gewölbt
und die Säulen über das Vage erhoben.
15 Vom Kapitol leuchtet porphyrn Minerva.
Zu ihren Füssen der Quell kristallklaren Wassers.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Besonderes: Unterteilung der vorherigen rhythmischen Prosa (Blendend erhellt im Schweif des Kometen …) in zwei Gedichtstrophen; ab hier unterschiedliche Stränge (vgl. Synopse)
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: fehlt
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 013, 014 (oben)
Der Erde jedoch
bleibet verborgen
das wechselnde Antlitz
Wolken im Spiel
05 Die Blinden tröstet
das rieselnde Wasser
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Details: V. 03, 04: ev. Kommas am Zeilenende
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: fehlt
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 014 (Mitte)
Goldene Maste und Segel geben dir herrliche Fahrt. Doch Sicherung nicht deinem Herzen, nicht deiner // 015 Seele vor dem Sang der Sirenen. Gefährlich sind alle Inseln. Von zaubrischen Mächten bewohnt. So suchst du nach dem festen Land, nach den dauernden Bergen. Dort sind die Quellen verlässlich, und ohne Arg sind die Wälder. Vom Pincio schaust du nieder auf Rom, die sicher bemessene Stadt. Rings zwar droht lehmige Weite, in der Ferne, dunkle Erinnerung, das Meer. Hier aber sind die geistigen Kuppeln gewölbt und die Säulen über das Vage erhoben. Vom Kapitol leuchtet porphyrn Minerva, zu ihren Füssen der Quell kristallklaren Wassers.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Besonderes: Vgl. S. 011, 012 Das ist für den Sterblichen furchtbar…
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Prosagedicht
- Datierung: fehlt
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 014 (unten), 015
Kristallkugel drehend,
glänzende Welten darin,
geordnet nach Zahl und Mass,
Musik der drehenden Räder.
05 Der Fasan ruft und schaukelt,
Glasfasan mit mechanischer Stimme.
Dieser vollendete Körper,
wenn er nur nicht zerbricht.
Genaue Wiederholung der Welt,
10 die tot ist.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1948-49
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: fehlt
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/01
- Seite / Blatt: 016 (oben)