
Meine liebe Schwester,
01 da es offenbar unmöglich ist
anderswie eine Stelle zu finden oder Geld
aufzutreiben, werde ich nächste Tage mit Kägi
über meine Angelegenheiten sprechen.
Vielleicht weiss er einen Ausweg; es ist mir
dies sehr unangenehm, ich ziehe nur un-
gern andere in meine Sorgen. Vor
allem ni ungern jene, mit denen ich
eine von Natur ausschliesslich geistige
Beziehung habe. Wenn ich ich auf diesem
Weg nichts erreiche, werde ich mich
um eine provisorische Lehrerstelle be-
werben, daneben an meiner Diss schrei- //

ben. Du weisst, ich tue weniges mit
geringerer Begeisterung. Aber jetzt bin ich
am Punkte, da ich alles akzeptieren
muss, wenn ich anständig weiterleben
will. Anständig, das heisst, ohne
totale Kapitulation vor der Gesellschaft.
02 Das Leben ist ein Kom-
promiss. Leuten wie mir wird er abge-
listet, ertrotzt, aber machen müssen
sie ihn trotzdem. Du kannst Dir vielleicht
denken, wie schwer die äusseren Sorgen
auf mir lasten, gerade jetzt, wo ich
mich, koste es, was es wolle, den wichti-
gen und entscheidenden Dingen zu-
wenden muss:
03 Die Anschauung des reinen Seienden, der
göttlichen Flamme auf dem Grunde aller
Dinge stets näher zu kommen. Dass ich
bin, ist ein Zufall oder eine Fügung,
wer weiss das schon. Aber die Verpflich-
tung besteht, ich kann, wen¿ mich,
leider, nicht darum drücken, das Mög- //

liche daraus zu holen. Die meisten leben
auf einer der äussern Schichten und
befinden sich wohl dabei: für mich
wäre es der Abfall, die Sünde schlecht-
hin, mich mit zu ihnen an den Tisch
zu sitzen, als wäre ich einer der
ihren. Es gibt ein Stigma und
es brennt jährlich heisser, unauslöschlich.
Es ist dies Stolz, man kann es so nennen,
Hybris („Überhebung“ wie man zuhause
so schön sagt), aber man bezahlt ihn
teuer. Es quält und reisst, und den-
noch, wäre ich befreit, ich wäre nicht
mehr. So ist Reflexion darüber müssig.
Ich erwähne das hier nur Dir zur Er-
läuterung, damit Du besser verstehst,
wie die Problematik aussieht, darin ich
stehe.
04 Daraus ergibt sich: meine poetischen
Versuche einer Mystik, der Versuch den
Punkt, wo das Sein (das Göttliche
oder Gott, wenn du Du willst) mit //

der Welt unserer der Erscheinungen,
des uns Sichtbaren, sich berührt, im
des uns Sichtbaren, sich berührt, mit
Wort anzupeilen. Von hier aus müsste
sich wiederum eine ein Weg finden, zum
Jahrhundert zu sprechen, zur Menschheit.
Vielleicht, dass ihr, z. B., aus dem Ge-
dicht der Ort, wo sie steht merkbarer,
sichtbarer wird, die Gefahr der Welt-
stunde und ihre Möglichkeit:
05 die höchste Bewusstheit wird allmäh-
lich erreicht. Die Mythologien – seien
es Mythologien der Natur wie die antiken,
seien es Mythologien der Seele, wie man
sie inn inne im Christentum eine sehen
will – sind erloschen, der Geist hat
sie überholt. Und der Verlust bedeutet
furchtbare Leere. Dichtung kann nun
noch, das hat sie voraus, alle Gestalten
gebrauchen, sich aller Erinnerungen bedie-
nen und damit jene letzten Meinun-
gen, die hinter diesen Gestalten standen
von neuem aussagen und noch mehr //

dazu, ohne dass man sie deswegen miss-
versteht. Sie hat deswegen einen un-
mittelbaren Zugang in die Seele des Men-
schen, die sich vor jeder andern Aussage
immer mehr kritisch verschliesst, vor allem
vor den grössten Aussagen in den Lehren
der christlichen Religion (woran aller-
dings ihre Verkünder nicht ganz un-
schuldig sind).
06 Willst Du nicht an der Fastnacht
herkommen für einen Tag, um Dir
dies Dionysische Fest anzuschauen?
Ich verstehe, wenn es Dir nicht möglich
ist, wegen Mann und Kindern. Aber
das Heraufkommen der Vorz Vorzeit mit-
ten in scheinbar modernen Menschen soll-
test Du einmal sehen: den Morgenstreich
am 7. Februar morgens 4 Uhr!
07 Doch Du findest die Idee sicher absurd.
Sei mir wenigstens nicht böse deswegen.
21.2.49