GEDICHTE 1960

Titel: GEDICHTE
Verlag: Claassen Verlag GmbH, Hamburg (1960)
Druck: Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege
Inhalt: 46 Gedichte
Textträger: Broschiertes Oktavbändchen, gelber Umschlag, 56 Ss
Vorstufen: Notizbuch 1955-57, 1957-58, 1958-61, Manuskripte 1957, 1958, 1959-60, Typoskripte 1957
Kommentar: Auslieferung: 29.3.1960
Titel auf dem Umschlag in Minuskeln, auf der Titelseite in Versalien (KUNO RAEBER / GEDICHTE), auch Gedichttitel in Versalien und Sperrdruck
Auflagenhöhe: 700 Exemplare
S. 5-51 Texte, S. (53f.) Inhaltsverzeichnis mit durchnumerierten Gedichten
E. Groenewold (Claassen Verlag) an Raeber, 8.3.1960:
Nun haben wir wirklich im allerletzten Augenblick noch Ihre beiden neuen Vorschläge, das Gedicht DER KARDINAL aus der Neuen Zürcher Zeitung und den Dialog hinzufügen können. Der Dialog ist ein schöner Abschluß des Bändchens. Auch den Hinweis auf DIE VERWANDELTEN SCHIFFE haben wir hineingenommen.
In etwa zwei Wochen werden Sie nun wohl die ersten fertigen Exemplare in Händen haben.
Die Auslieferung des "kleinen Bandes" der GEDICHTE wurde Raeber von Hilde Claassen am 29.3.1960 mitgeteilt (B-4-c-GED; hier auch die übrigen Dokumente zu Publikation und Honorierung und Rezensierung des Gedichtbandes).
Der Flügelfrühling und die zerstreuten
Federblätter liegen unter dem schwarzen
Ameisenschnee ihres Winters,
der auch dies flache Bild auf dem Boden
05 – vom Herbstrad des Autos schnell
aus dem Stoff und der Farbe des Vorbilds gebildet –
noch schmölze: Wenn nicht das vom Rand
der Straße aufgeworfene Blicknetz des Knaben
es zöge hinein in den Teich
10 der Augen, die jetzt noch blinzeln über
dem Schmatzen, dem Apfelkauen des Mundes:
weit noch vom Traum und vom gewittrigen
Sommer, der das Bild vom Grund, wo es lange
bleibt, wenn es hin und her auf der Fläche
15 geschaukelt und endlich hinab
gesunken, künftig einmal von neuem
deutlich und schwarz überwimmelt heraufspült.
- Details
- Konvolut: GEDICHTE 1960
- Details: 08 aufgeworfene] ausgeworfene (alle vorangegangenen Textzeugen)
- Besonderes: Schon 1954 entstanden (nicht in Die verwandelten Schiffe) aufgenommen
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: pauschal (Konvolut)
- Fassung: Letzte Fassung
- Seite / Blatt: 05
- Textnummer: 001
- Werke / Chronos: Bd.1, 83 / Dieses enorme Gedicht, 105
Als ich die Augen auftat in der Kammer,
bekam ich Angst und begann
mich durch das Grabmal langsam aufwärts zu tasten.
Oben richtete ich mir Gemächer,
05 wo ich in schwerem Brokat ging und,
voll Lust zur Übertreibung, eine dreifache Krone trug:
Die Reste von Bescheidenheit,
die ich im Leben von den Alten noch hatte,
ließ ich jetzt ganz weg,
10 da mir die Biegung der Seele so wichtig geworden war seither.
Und nur gelegentlich, zur Entspannung,
befleißigte ich mich der Sprache und Gestik
verzückter Fische,
die einfach, ohne Reflexion,
15 still schimmernd schwimmen.
Bis ich mich schließlich,
nach all den vielen Versuchen,
mein Imperium so darzustellen,
daß keiner, den es ergriff,
20 sich ihm jemals wieder entziehen könnte:
entschied für eines der Bilder,
die lange wirken, auch wenn sie
den Verdacht der bloßen Maskerade auf sich ziehn,
und trat auf die Zinne:
25 Die Flügel noch gebreitet vom Herabflug,
das Schwert der Seuche in die Scheide steckend;
kurz, in der schönen Pose
des nach langem Groll versöhnten,
durch Bitten, Bußasche, Kerzen und Prozessionen endlich beschwichtigten
30 und so auf dieser hohen Stelle fromm erinnert festgehaltnen
die Stadt beruhigenden Engels.
- Details
- Konvolut: GEDICHTE 1960
- Besonderes: Keine Typoskripte überliefert
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: pauschal (Konvolut)
- Fassung: Letzte Fassung
- Seite / Blatt: 06
- Textnummer: 002
- Werke / Chronos: Bd.1, 84-85
Hier ist nichts,
was man unbedingt gesehen haben müßte;
nicht Denkmäler wegen gefällt es mir hier;
sondern weil es Stunden gibt,
05 wo du hier tiefer in Venedig bist als selbst am Rialto:
Am Herbergshügel,
das Ohr dem Klang der Sterne geschärft,
die über den Hafen tönen –
wenn auch zu fern, als daß nicht die Schreie
10 der Lötlampen kälter aus den Docks übers Wasser
hinschliffen und wüchsen.
Klammere dich nicht an meinen Arm;
du sollst dich nicht fürchten,
wenn du das große Gesicht weiß liegen siehst zwischen den Schiffen,
15 mit offenem Mund,
verstummt und wie schlafend.
Du sollst dich nicht fürchten, weil eine geheime
Strömung es sogar in diesen entlegenen Hafen herschwemmte:
Städte und Häfen magst immer du fliehen,
20 ich glaube, immer fände dich's wieder.
Drum sieh drüber weg, und steige ganz auf den Hügel;
von da ist's einfach der Mond,
der bescheiden mit Sternen, wenn du's nur willst,
liegt zwischen den Schiffen im Becken:
25 Du sollst dich nicht fürchten.
- Details
- Konvolut: GEDICHTE 1960
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: pauschal (Konvolut)
- Fassung: Letzte Fassung
- Seite / Blatt: 07
- Textnummer: 003
- Werke / Chronos: Bd.1, 86-87
Werfen die persischen Reiter dort drüben
die Wolke am Horizont auf?
Wenn sie heranstöben, wären
sie freilich enttäuscht;
05 denn sie fänden hier nicht den Kaiser
im Purpurzelt, sie fänden
den unrasierten Reisenden nur, von dem sich
kein Genius, sein Gesicht verhüllend, mehr wendet.
Genien verhüllen und wenden
10 sich nur in purpurnen Zelten.
Aber die Luft
entwich längst aus den Reifen.
Und schösse auch eine Lanze
heraus aus der Wolke,
15 sie durchschlüge einen rostigen Kühler.
Und löste sich trotzdem die Ordnung
des Heers auf, so doch nur,
damit es sich um den Wagen versammle: die Marke,
das Baujahr, die Zahl
20 der Pferdekräfte zu sehen.
Doch wahrscheinlich wirft niemand mehr Lanzen,
wahrscheinlich haben alle neuere Wagen
gesehen und fahren in Panzern vorüber …
Sind die persischen Reiter,
25 der Genius und das purpurne Zelt,
sind sie Julians,
sind sie sein eigener Tod, den die Wolke
vom Horizont dort drüben heranträgt?
- Details
- Konvolut: GEDICHTE 1960
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: pauschal (Konvolut)
- Fassung: Letzte Fassung
- Seite / Blatt: 08
- Textnummer: 004
- Werke / Chronos: Bd.1, 88-89
Wer es vermöchte,
dich hinauszuführen zum Schilfplatz,
wo der schlammbärtige Greis einen Moment
innehielte im Ausgießen des Flußkrugs,
05 um, wenn auch umsonst, zu entdecken,
warum du hier stöhnend am Baum stehst:
Wer dies vermöchte,
dem bliebe erspart,
in der Lapislazulihöhle der Kirche
10 aufzuzucken unter dem Schwirren
eines jeden einzelnen Pfeils,
der aus dem Hinterhalt der Gebete
deinen Leib trifft.
Dort draußen schwängen die Engel
15 sich von den Zweigen, zu trocknen
mit Linnen dein Blut,
so daß noch stummer stünde das Staunen des Greises.
Wenn er dich auch vielleicht, mit Mühe, endlich erkennte,
so erkennten dich kaum je die verdrängten
20 Luftgeister, Flußfrauen, Dryaden:
Wer es vermöchte …
- Details
- Konvolut: GEDICHTE 1960
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: pauschal (Konvolut)
- Fassung: Letzte Fassung
- Seite / Blatt: 09
- Textnummer: 005
- Werke / Chronos: Bd.1, 90
Zweifelst du, Leser von Büchern, nur darum
nicht am Dasein dieses Menschen,
der neben der Frau im Garten sein Bier trinkt
und neben dem sommersprossigen Söhnchen,
05 das, den Mund von Erdbeereis ganz überschmiert,
aus Biertellern ein Haus baut:
nur darum nicht,
weil manchmal eine Bewegung
seiner Schulter ihn als den Sohn der Sonne verrät,
10 der auf Emesas Mauer den Purpur sich umwirft;
nur darum nicht,
weil manchmal ein Glanz im Winkel des Augs
und ein Zucken im Winkel des Munds
ihn als den gleichen Cäsar verrät, der am Fenster
15 des Palasts in Lutetia erstmals den Ruf
hört: Augustus –?
Zweifelst du nur darum nicht, Leser von Büchern,
weil der Jubel des Kindes über das Haus
aus Biertellern sich verrät als der Jubel
20 der Legionen für Spenden,
das Lächeln der Frau als das Lächeln der neu erhöhten Augusta,
die Schaumkrone des Biers als der Lorbeer?
Zweifelst du, Leser von Büchern,
nur darum nicht am Dasein dieses Menschen?
25 »Nein, es ist die uralte Münze,
und diese Lösung hat sie für einmal gereinigt: Kann sein,
daß eine schärfere Lösung ein genaueres Bild gibt.«
- Details
- Konvolut: GEDICHTE 1960
- Besonderes: Zum "Sohn der Sonne“ (V. 09) und dem Kult von Emesa (V. 10) vgl. Werke 1, 420, Anm. 91; ebd. zu Ausrufung von Kaiser Julian zum Augustus in Paris (Lutetia).
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: pauschal (Konvolut)
- Fassung: Letzte Fassung
- Seite / Blatt: 10
- Textnummer: 006
- Werke / Chronos: Bd.1, 91
Nur in den ersten
Nächten des Frühlings erregt
der Gesang der Sibylle:
»Wie unter Tiburs Bäumen,
05 wenn da der Dichter saß
und unter Götterträumen
der Jahre Flucht vergaß …«
die Gebirge zum Grünen.
Treibt den einen in die Hotelbar, die
10 von Lippenrot heißen
Schnäpse zu trinken.
Den andern erregt er,
die rauhe Uralte
selber im Tempel zu suchen: Sie hat sich
15 in der Cella verborgen.
Und voll
strahlt jetzt erst der Mond. Die Hänge
dampfen; die Droge
wäre jetzt wohl am stärksten.
20 Doch ihn erschrecken
Ruinen schon wieder, und Blüten
fand er so üppig sonst nur auf Gräbern.
Sogar die Kaskaden, sie fallen
stumm vor der Stimme,
25 die aus der Cella
»Wenn ihn die Ulme kühlte
und wenn sie stolz und froh
um Silberblüten spielte,
die Flut des Anio«
30 im Wachtraum heiser herabschreit.
- Details
- Konvolut: GEDICHTE 1960
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: pauschal (Konvolut)
- Fassung: Letzte Fassung
- Seite / Blatt: 11
- Textnummer: 007
- Werke / Chronos: Bd.1, 92
- Nachdruck: Gegengewichte. Basel 1978, S. 67
Die Fischhändlerin leert
den Eimer aus auf die Straße: das Wasser
kommt nicht auf gegen den heißen
Asphalt und ist, kaum
05 er es nur begriff, schon verdunstet.
Der Fisch aber war
gerade so weit,
als man ihn fing heute früh:
»Seit ich einmal ins Licht
10 und in die Wärme hinaufstieß,
von wo vor langem der Hochfisch, der seither,
Seesterne im Ohr, auf der Brust
Polypen, im Grund liegt,
herabgestürzt war:
15 Seit ich einmal hinaufstieß,
fürchte ich mich: Das Kühle
war nicht mehr da. Mir erstarrten
die Kiemen. Die Flossen
fanden nicht Widerstand mehr,
20 sich voran zu bewegen …
Gehn wir alle dorthin und verlieren
wie der Hochfisch Kiemen und Flossen?
Der Hochfisch war Übertreibung. Unten
muß man bleiben und die
25 verdächtigen Höhen vermeiden.
Wohnen will ich von morgen
an in seinem noch freien
Ohr, wo die Erinnerung
Ansporn und Warnung zugleich ist … « // 013
30 Gerade so weit war der Fisch,
als man ihn fing heute früh.
Doch das Wasser, das die Händlerin ausgießt,
kommt gegen den heißen
Asphalt der Straße nicht auf
35 und ist, kaum er es nur
begriff, schon verdunstet.
- Details
- Konvolut: GEDICHTE 1960
- Besonderes: Doppelseite; vgl. Tagebuch, 21.12.1957 und "Die Lügner sind ehrlich" (1960), S. 86
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: pauschal (Konvolut)
- Fassung: Letzte Fassung
- Seite / Blatt: 12-13
- Textnummer: 008
- Textverweis: Tagebuch, 21.12.57
- Werke / Chronos: Bd.1, 93-94
- Nachdruck: "Der Tag", 18.3.1962, S. 7 ("DER FISCH")
Die Engel öffnen
zwar täglich sein Glashaus, aber nur,
um ihn schnell in die Lüfte
zu tragen, bis ihn der Wipfel
05 peitscht und er fürchtet,
hinab in die Öllache vor der Garage zu stürzen.
Dort hupt man und ruft
und hört nicht den Zank,
den die Nachbarsengel mit seinen Engeln aufrühren,
10 die heftig auf- und abfahren und zerren
und ihn wirklich fallen ließen, beinahe.
Doch wieder sicher im Glashaus, zerschlägt er,
als er die Hand hebt, um einen,
der vorbeigeht, zu grüßen, die Wand
15 und wirft ihm die Scherben
grad ins Gesicht,
so daß er das Blut
mit dem Taschentuch von der Stirn wischt und wegläuft.
Seine Engel schweigen; aber
20 sie werden die Last, eine neue
Scheibe zu schneiden, zu kitten,
morgen heimzahlen beim AuffIug.
- Details
- Konvolut: GEDICHTE 1960
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: pauschal (Konvolut)
- Fassung: Letzte Fassung
- Seite / Blatt: 14
- Textnummer: 009
- Werke / Chronos: Bd.1, 95
Das Mädchen weint am Morgen und trinkt seine Milch und
vergißt den nächtlichen Löwen.
Aber in der nächsten Nacht kommt aus der Ecke
hinter dem Schrank ein anderer Löwe hervor
und erfüllt das Zimmer mit der Schnauze und mit der Mähne.
05 Und das Mädchen küßt ihn, wenn es auch zittert.
Und zum Lohn verwandelt sich der Löwe zum Prinzen.
Aber Prinzen vertragen Küsse nicht besser als Löwen:
Er erstarrt und liegt, ein Steinblock, in der Ecke des Zimmers.
Das Mädchen weint am Morgen und trinkt seine Milch und
vergißt den nächtlichen Löwen.
10 Aber in der nächsten Nacht wird es den neuen Löwen doch wieder küssen.
Bald liegen die Findlinge in allen Ecken des Zimmers,
zurückgelassen von den nächtlichen Gletschern.
Die Besucher tun, als ob sie nichts sähen;
sie wissen ja nichts von der Sekunde des Prinzen.
15 Das Mädchen weint am Morgen und trinkt seine Milch und
vergißt den nächtlichen Löwen.
- Details
- Konvolut: GEDICHTE 1960
- Letzter Druck: GEDICHTE 1960
- Textart: Verse
- Datierung: pauschal (Konvolut)
- Fassung: Letzte Fassung
- Seite / Blatt: 15
- Textnummer: 010
- Werke / Chronos: Bd.1, 96 / 107