Freitag, 19 November 1954

Raupe und Schmetterling (L)

Die unscheinbare Nonnenraupe
trägt innen den glänzenden Falter; 
als sie in der Vorhalle lange 
gewartet hatte und, nun auf dem Platz es zu dämmern begonnen, 
05 endlich an den Gendarmen vorbei, die in Gruppen zu vieren die 
Drängenden ordnen, 
ins Herz, dessen Riesengewölb hinter Simsen 
verborgene Lampen erleuchten, eindringt, 
in der reglosen Hitze nur vom dunkel 
stockenden Blutstrom der Frommen aufrecht gehalten: 
10 fängt sie jetzt endlich mit dem über 
den Kopf emporgehaltenen kleinen 
Spiegel – darin nie oder nur mit 
schlechtem Gewissen sie sich selbst erblickte – 
den weissen Greis weit vorn auf dem Thron 
15 (man hat alle Fenster geschlossen, damit er sich nicht erkälte), 
der die Menge französisch anspricht: 

und sie jubelt 'Wie schön er doch ist' und 
trägt ihn, Raupe den Falter, dann hinaus auf die Strasse, 
blind für die im Wechsel helle, im Wechsel erloschne Monstranz, 
20 der die Reihen der Klosterschülerinnen von weitem 
durch die Schwärme der Autoglühwürmer mit Kerzen 
entgegenziehn, für den Neonring über jetzt lichten 
Laternen um die Silhouette des Mailänder Doms, der wieder 
die rote Hostie 'Motta', gelb werbend, umkränzt: 

25 trägt ihn, bis dass sie, die Raupe, 
eines sicheren Tags selbst ist ein glänzender Falter.


Blatt 21 (A-5-c_08_264.jpg)

L Raupe und Schmetterling

Die unscheinbare Nonnenraupe
Den glänzenden Falter

trägt innen den glänzenden Falter;
trägt innen die unscheinbare

Nonnenraupe; als sie in der Vorhalle lange

gewartet hatte und, nun auf dem Platz es zu dämmern begonnen,

05 endlich an den Gendarmen vorbei, die in Gruppen zu vieren die

Drängenden ordnen,

eingedrungen war ins Herz, dessen Riesengewölb hinter Simsen

verborgene Lampen erleuchten:, eindringt,

↑in der reglosen Hitze nur vom dunkel↑

stockenden Blutstrom der Frommen aufrecht gehalten,:

fängt sie jetzt endlich  mit dem
10 fängt sie jetzt endlich mit demin den über

den Kopf emporgehaltenen kleinen

Spiegel – darin nie oder nur mit

schlechtem Gewissensie
schlechtem Gewissen  sich selbst sie erblickte –

den weissen Greis weit vorn auf dem Thron

15 (man hat alle Fenster geschlossen, damit er sich nicht erkälte),

der die Menge französisch anspricht: 

und sie jubelt 'Wie schön er doch ist' und

trägt ihn, Raupe den Falter, dann hinaus auf die Strasse,

blind für die im Wechsel helle, im Wechsel erloschne Monstranz,

der die Reihen der Klosterschülerinnen  mit Kerzen von weitem
20 der die Reihen der Klosterschülerinnen von weitem

durch die Schwärme der Autoglühwürmer von weitem durch die Schwärme
\ der Autoglühwürmer mit Kerzen
 
mit Kerzen entgegenziehn durch die Schwärme

der entgegenziehn
der Autoglühwürmer, für den Neonring über jetzt lichten

Laternen um die Silhouette des Mailänder Doms, der wieder

die rote Hostie 'Motta', gelb werbend, umkränzt: 

25 trägt ihn, bis dass sie, die Raupe,

selbst eines sicheren Tagselbst ist
selbst eines sicheren Tags  ist  ein glänzender Falter.

19.11.54

  • Besonderes:

    Typoskript mit Korrekturen

  • Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Strophen: ja
  • Schreibzeug: Schreibmaschine
  • Signatur: A-5-c/08_035
  • Seite / Blatt: 21

Inhalt: 205 Manuskripte und 25 Typoskripte zu 33 Gedichten (3 Endfassungen)
Datierung: 1.1.1954 – 27.12.1954
Textträger: 271 Einzelblätter (A4-Format)
Umfang: 36 Dossiers, 270 beschriebene Seiten
Publikation: Die verwandelten Schiffe (15 Gedichte), Verstreutes (3 Gedichte)
Signatur: A-5-c/08 (Schachtel 35)
Herkunft: Mappe EG 54 I, EG 54 II

Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

Weitere Fassungen

Manuskripte 1954 (alph.)
(Total: 230 )
Manuskripte 1954 (Folge)
(Total: 230 )