Montag, 07 November 1960

Positaneser Elegie

Der Schiffer steht und stösst
das Boot mit dem Ruder. Er hält, er winkt.
Aber es ist
zu hell und du fällst in den Strandkies.
05 Im November ists Zwielicht, die Blätter
der Bäume sind fahl, bedeckt
vom Staub eines ganzen
endlosen Sommers. Wo die Boote
anlegten, springt eine riesige
10 Welle und reisst
deine Liebe mit hinab und hinaus // 151
unter das grosse dunkle Laken Tod,
das man zwischen den Felsen aus-
gebreitet. So wird das 
15 Winterrequiem langsam
vorbereitet. Die Badehütten
sind schon weggeräumt und die
Boote bis an die Felsen
zurückgezogen. Oben sind sie
20 verbrannt und fast kahl und so
bereit für die
Feier, welche die Nächte 
des Dezember und des Januar mit schrecklichem, // 152
lautem Pomp erfüllen wird. Doch ich fliehe
25 vorher, bevor die letzten
halbreifen Orangen zögern zu fallen,
bevor die gierige rote Blüte sich an den Wänden
zutode geküsst hat. Die letzten
Küsse füg ich hinzu zu den roten
30 glühenden Küssen, die über die Mauern
überall stürzen. Die Wolken
kommen heute hervor aus dem Hinterhalt<,>
sie zerbrechen, zerschellen an den Gebirgen, 
die schweigen und giessen 
35 ihren Missmut aus. Die Strand- // 153
schuhe sind dafür nicht
gemacht und brauchen zum Trocknen drei Tage.
Das todblaue
Meer will nichts mehr ertragen, seine
40 Sommergeduld ist erschöpft, wir fliehen
rückwärts hinweg durch die Felsen.
Noch einmal
hör ich das Hupen. Es gellt in den Kurven,
es gellt wieder, verkündet
45 den Winter. Der Schiffer fährt mit der Lambretta
die letzten Fische
hinauf zur Chiesa Nuova. Dort bleibt er und baut // 154
ein kleines Haus für den Winter, zu-
sammen mit Vater und Brüdern. Wir fahren
50 und schlafen heut nacht,
das hängt von den Zugverbindungen ab,
im Bett in Rom oder vielleicht bloss in Neapel.
Unsere Küsse hängen
Blüten rot herab überall über die
55 Mauern. Ein paar Orangen
sind grün, und sie werden
nicht fallen, und niemand
wird sie pflücken.


Seite 150 (A-5-d_04_150.jpg)

Positaneser Elegie

WDer Schiffer steht und stösst mit dem Ruder

das Boot mit dem Ruder. Er hält, er winkt.

Aber es ist

zu hell und du taumelst und fällst in den

Strandkies.

05 Im November ists Zwielicht, die Blätter

der Bäume sind fahl, bedeckt

vom Staub eines ganzen

endlosen Sommers. Wo die Boote

anlegten, springt eine riesige

10 Welle und reisst

deine Liebe mit hinab und hinaus //

Seite 151 (A-5-d_04_151.jpg)

unter das grosse dunkle Laken, Tod,

das man zwischen den Felsen aus-

gebreitet. So wird das 

Requiem

15 Winterrequiem langsam

vorbereitet. Die Badehütten

sind alle schon
sind alle schon weggeräumt und die

Boote bis ganz an an die Felsen

zurückgezogen. Oben sind sie

20 verbrannt und fast kahl und so

vorbereitet

als bereit für die schreckliche, laute

Feier, welche die Nächte 

des Dezember und des Januar mit schrecklichem, //

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lautem Pomp erfüllen wird. Doch ich fliehe

vorher, bbevor
25 vorher, solang noch ein paar die letzten

halbreifen Orangen zögern zu fallen,

solang noch

bevor die gierige rote Blüte sich an den Wänden

zutode geküsst hat. Die letzten

Küsse füge füg ich hinzu zu den roten

30 glühenden Küssen, die über die Mauern

überall stürzen. Die Wolken

kommen heute hervor aus dem Hinterhalt hinter

Gebirgen, die schweigen, zerbrechen, zerschellen

sie zerbrechen, zerschellen an den Gebirgen, 

die schweigen und giessen 

35 ihren Missmut aus. Die Strand- //

Seite 153 (A-5-d_04_153.jpg)

schuhe sind dafür nicht

gemacht und brauchen zum Trocknen drei Tage.

Das todblaue

Meer will nichts mehr ertragen, seine

40 Sommergeduld ist erschöpft, ich fli wir fliehen

rückwärts hinweg durch die Felsen.

Noch einmal

hör ich das Hupen. Es gellt in den Kurven,

Der Fischer Schiffer

es gellt wieder, verkündet

45 den Winter. Der Schiffer fährt auf dem mit

der Lambretta

die letzten Fische

hinauf zur Chiesa Nuova. Dort bleibt er

und baut
und baut //

Seite 154 (A-5-d_04_154.jpg)

ein kleines Haus für den Winter, zu-

sammen mit Vater und Brüdern. Wir fahren

und schlafen
50 und finden heut nacht,

das hängt von den Zugverbindungen ab
das hängt von den Verbindungen ab ,

ein Bett in Rom odervielleicht bloss in
ein Bett in Rom oder  Neapel.

Unsere Küsse hängen

mit den Blüten rot herab überall über die

55 Mauern. Ein paar Orangen

sind nicht reif grün, und sie werden

nicht fallen, und niemand

wird sie pflücken.

7.11.1960

 

  • Details:

    V. 52 Emendation: ein → im

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Fassung: Erste Fassung
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-d/04
  • Seite / Blatt: 150, 151, 152, 153, 154

Inhalt: 87 Entwürfe zu 82 Gedichten (3 Endfassungen), Motiv-Notizen
Datierung: 18.6.1958 – 15.1.1961
Textträger: Schwarzes Notizbuch, karierte Seiten, Bleistift, S. 188 (V.4) - 189 blauer Stift
Umfang: 192 beschriebene Seiten
Publikation: GEDICHTE (28), Flussufer (18 Gedichte), Verstreutes (1)
Signatur: A-5-d/04 (Schachtel 29)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1958, 1959-60, 1961, Typoskripte 1958, 1959, 1960, 1961
Kommentar: Ab S. 192 Motiv-Notizen, von hinten her eingetragen
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (ohne die Motive)

Weitere Fassungen

Notizbuch 1958-61 (alph.)
(Total: 88 )
Notizbuch 1958-61 (Folge)
(Total: 88 )
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