Montag, 12 Dezember 1955

Die Wespen (H/J)

Zu lange setzte sich die Wespe auf dem Tassenrand der Versuchung
des Dufts aus
als dass sie nicht schliesslich hätte darin umkommen, 
hinabstürzen und mit Beinen und Flügeln die Kaffeenacht umrühren 
müssen.

Auf dem Mund der Coca-Colaflasche – die ich eben bestellte, 
05 weil ich die zuckende Agonie nicht einmal ansehen kann, 
ohne auch schon den Zweifel zu trinken: muss ich retten? – 
zittert die andere Wespe zwischen Lockung und Warnung. 

Gleich wie dem Motorschiff, das ganz allein draussen im gläsernen 
Sturm blasiert lustfährt, 
hinten das Flugzeug gelb aufhockt und noch nicht weiss, 
10 ob es sich in die Sonnenmilch stürzen soll: 
in die Meerenge tropft sie herab und füllt sie mit Schaum, 
sodass das Wasser die Klippen heraufflieht, Odysseus, 
und dann schnell mit zerschundenen Knien zurücksinkt; 
nur das Bojenmädchen harrt aus und zeigt dem Schiff, 
15 obwohl es sie nicht zu brauchen vorgibt, den Weg durch die Riffe. 

Doch im Glieder- und Flügelzucken der einen, 
im zitternden Zwiespalt der andern Wespe schaut Platon 
– denn ich sitze direkt am Sklavenmarkt wo man ihn feilhält – // 17
im weissen Schiffwindspiel des attischen Reeders, 
20 das seine Wespe durch die Sturmmilch davonträgt, 
schaut Platon immer die reine Idee an; 
und mitten im Feilschen, wenn ein Bauer ihm die Leibwandung 
fern aussen befühlt, 
kostet er nochmals die Tafelgespräche in Syrakus 
und die Nachtspaziergänge mit Dion, unverfaulte Orangen. 

25 Sodass, wenn Amnikeris kommt und ihn freikauft, 
er traumtaumelnd in den neuen Rolls Royce steigt 
und sein ‚Wunderbar‘ nur gibt, weil der andere es ihm mit allen 
Mienen entreisst. 

Aber schon fast in der Stadt, brennt ihn plötzlich das Bild wach, 
das bei der Abfahrt ins Auge hineinglitt und jetzt in der Hirnhalle 
ankommt: 
30 Wie die Wespe endlich reglos im Kaffee liegt, 
indes die Schwester, zum langen Leben entschlossen, 
von der Flasche in die Sonnenmilch wegschwimmt.


Blatt 16 (A-5-c_11_149.jpg)

J
H Die Wespen

Zu lange setzte sich die Wespe auf dem Rand der Tassenrand
Zu lange setzte sich die Wespe auf dem Rand der Tasse
I Zu lange setzte sich die Wespe auf dem Rand der Tassenblüte

  der Versuchung des Dufts
\ der Duftversuchung  | aus,

als dass sie nicht schliesslich hätte darin umkommen,

hinabstürzen und mit Beinen und Flügeln die Kaffeenacht

\ umrühren | müssen.

II Auf dem Mund der Coca-Colaflasche – die ich eben bestellte,

weil ich die zuckende Agonie nicht einmal
05 weil ich die zuckende Agonie nicht einmal ansehen kann,

ohne auch schon den Zweifel zu trinken: muss ich retten? –

zittert die andere Wespe zwischen Lockung und Warnung. 

III Gleich wie dem Motorschiff, das ganz allein draussen im

\ gläsernen Sturm | blai blasiert lustfährt,

hinten das Flugzeug gelb aufhockt und noch nicht weiss,

10 ob es sich in die Sonnenmilch stürzen soll,:

die in die Meerenge helsie herabie hfüllt
die in die Meerenge herab tropft  und  sie mit Schaum füllt,

sodass das Wasser die Klippen heraufflieht, Odysseus,

und dann schnell mit zerschundenen Knien zurücksinkt;

nur das Bojenmädchen harrt aus und zeigt dem Schiff,

15 obwohl es sie nicht zu brauchen vorgibt, den Weg durch die Riffe. 

IV Doch im Glieder- und Flügelzucken der einen,

imzitternden Zwiespalt
im  surrenden  Zittern der andern Wespe schaut Platon

– denn ich sitze direkt am Sklavenmarkt wo man ihn feilhält – //

Blatt 17 (A-5-c_11_150.jpg)

H J Die Wespen 2

im weissen Schiffwindspiel des attischen Reeders,

20 das seine Wespe durch die Sturmmilch davonträgt,

schaut Platon immer die reine Idee an;

und mitten im Feilschen, wenn ein Bauer ihm die Leibwandung

fern aussen befühlt,

kostet er no frische¿ Orangen
kostet er nochmals der¿ie Tafelgespräche in Syrakus / und der¿ie Nachtspazier-

gänge mit Dion,unverfaulte
gänge mit Dion.,  Orangen. 

25 V Sodass er, wenn Amnikeris kommt und ihn freikauft,

er traumtaumelnd in den neuen Rolls Royce steigt

und sein "Wunderbar" nur gibt, weil der andere es ihm mit allen Mienen
und sein ‚Wunderbar‘ nur gibt, weil der andere es ihm mit allen Mitteln¿

entreisst.

VI Aber schon fast in der Stadt, brennt ihn plötzlich das Bild wach,

das bei der Abfahrt ins Auge hineinglitt und jetzt
das bei der Abfahrt ins Auge hineinglitt und  nun in der Hirnhalle

ankommt:

Wie die Wespe ↓endlich
30 Wie die Wespe im reglos im Kaffee liegt,

indes die Schwester, zum langen Leben entschlossen, ↔

sich ↑von der Flasche in die Sonnenmilch wegschwimmt↑.

12.12.55

 

  • Besonderes:

    (J) Überarbeitung von (H); alR Strophennumerierung I- VI
    Verso: Typoskripte (Der Engel im Busch, S. 2, 3), durchgestrichen

  • Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Strophen: ja
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-c/11_017
  • Seite / Blatt: 16, 17

Inhalt: 135 Manuskripte und 21 Typoskripte zu 24 Gedichten (keine Endfassung)
Datierung: 14.11.1954 – 21.11.1955
Textträger: 200 Einzelblätter (A4-Format); v.a. durchscheinende Makulatur von Dissertation und Gedichttyposkripten
Umfang: 25 Dossiers, 213 beschriebene Seiten
Publikation: Die verwandelten Schiffe (12 Gedichte), GEDICHTE (1 Gedicht), Verstreutes (2)
Signatur: A-5-c/11 (Schachtel 36)
Herkunft: Nr. 1-15: braune Mappe EG 55 I; Nr. 16-25: rote Mappe EG 55 II

Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

Weitere Fassungen

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