Materialien: Tagebücher

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

Donnerstag, 16 Februar 1956       )

16.2.56

Wenn ich die Gedichte des vergangenen Jahres durchsehe, dann bemerke ich darin, vor allem in der zweiten Serie, zuweilen eine unerfreulich pedantische Neigung, das Prinzip der „natürlichen“ Wortstellung // zutode zu reiten, d. h., auch dort den Satz nach der in der Prosa, im Alltagsgespräch üblichen Weise aufzubauen, wo ich es sonst, wenn es nur nach mir, nach der Stimmung der Situation gegangen wäre, nicht getan hätte. Ich glaubte, der Konvention, der Gewohnheit des Lesers diese Konzession schuldig zu sein. Dazu brachten mich vor allem Thomas und Jens mit ihren Aussetzungen an meinen älteren Versen: Es wird wohl sein, dass ich früher nach der anderen Seite übertrieb, auf die „natürliche“ Wortstellung im Satz überhaupt nicht achtete und dass es ein Gewinn, eine notwendige Erweiterung war, als ich es nun einmal so zu versuchen begann. Ich entdeckte so neue Mittel, war gezwungen, andere Verfahren zu suchen, um meinen Versen Kraft und Farbe, das Abweichende zu geben, was sie eben erst zu Versen macht. Aber trotzdem, ich wurde in der Vermeidung des alten Mittels pedantisch, und das scheint mir jetzt in jedem einzelnen Fall, // wo es wirklich nur Pedanterie und nicht Notwendigkeit war, beim Wiederlesen sofort deutlich zu sein. Ich muss mir die Freiheit nehmen, es so oder anders zu machen, ohne mich von aussen her beirren zu lassen. Bleiben wird mir immerhin das Wissen, das ich zuvor nicht hatte, um den Unterschied zwischen der üblichen und der unüblichen Wortstellung, die Möglichkeit je nachdem bewusst mit der einen oder der andern zu arbeiten: aber die Entscheidung soll immer nur vom Kern her getroffen werden, aus dem ich das jeweilige Gedicht bilde.

Auf diese Überlegungen brachte mich vor allem auch die Lektüre des Joseph-Romans: hier wird sogar der Prosasatz ganz und ausschliesslich nach den Erfordernissen der Situation geordnet, nie nach einer allgemeinen Regel. Und Thomas Mann erreicht Wirkungen mit diesem Verfahren, die er auf andere Weise niemals erreichen könnte. – // 

Ich kann es mir nicht genug wiederholen: ich kann beim Anhören von Kritiken und Ratschlägen zu meinen Arbeiten nicht vorsichtig genug sein. Die Gefahr, dass mir durch Nichtbeachtung der Meinungen anderer – auch der besten Freunde – wesentliche Möglichkeiten verloren gehen, dass ich Mängel, die leicht zu verbessern wären, übersehe und stehen lasse, ist sicher nicht grösser als die andere, dass ich mich immer wieder von meiner Richtung, die ja nur ich allein wissen kann, abtreiben, auf Nebengeleise locken lasse, wo ich zwar dies oder jenes Nützliche finden kann, von wo ich aber immer wieder nur mühsam, unter Verlust von viel Zeit und Kraft, auf meine Hauptlinie zurückkomme. Man müsste den idealen Kritiker erst noch erfinden: der genau wüsste, worauf sich Kritik beziehen kann und darf, der wüsste, was vorgegeben ist und zur Substanz des Gedichtes gehört und was entbehrlich, diskutabel ist, // so gemacht werden kann oder auch anders. Aber so ein Kritiker müsste mich besser kennen, mit mir einiger sein als das ein anderer Mensch sein kann; er müsste mit mir identisch sein und zugleich von mir und meiner Arbeit eine sichere klare Distanz haben – denn nur so könnte er ja diese Arbeit wirklich sehen und beurteilen – von mir extrem verschieden sein. Die Forderung nach einem solchen Kritiker ist wohl anmassend, utopisch. Höchstens ich selber kann vielleicht, in sehr langer Zeit, diesen zureichenden Kritiker in mir ausbilden.

Sonntag, 19 Februar 1956       )

19.2.56

Kunst, Literatur, das ist Freiheit, Frechheit, Frivolität, kühnes, tollkühnes Spiel mit dem unendlichen Stoff Welt. Zur Voraussetzung hat sie geistige Überlegenheit, einen hohen Grad der Unabhängigkeit von den Bedingungen der Umwelt und Herkunft. […] Jeremias Gotthelf oder Spitteler haben für mich nie die geringste Bedeutung gehabt, obwohl sie Schweizer sind, Jakob Schaffner habe ich überhaupt nie gelesen, Siegfried Lang kaum je. Ich will mich deswegen nicht loben: Aber als Schüler und Student fielen mir andere Autoren in die Hände, bildeten andere Autoren – in einer fast ganz schweizerischen // Umwelt – den Gesprächsstoff: Rilke, Hölderlin, Trakl, George, Heym, Goethe, Jünger, Stifter, Hofmannsthal usw., alles durcheinander aufgezählt, später dann noch Kafka, Thomas Mann. Diese Autoren beschäftigten mich, waren meine Anreger, sind es zum Teil noch, meine Vorbilder. Von den Schweizern hatte ich nur eine Beziehung zu einzelnen Werken Gottfried Kellers, zu einzelnen Gedichten C. F. Meyers (die ich freilich sehr bewundere). Aber mich oder andere Schweizer in eine spezifisch schweizerische Linie einzuordnen, dafür fehlt mir jedes Verständnis. Der deutsche Sprachraum ist für mich eine Einheit, worin ich zu allem den gleichen Zugang habe, worin mich das eine mehr, das andere weniger berührt und bestimmt, nicht so sehr von landschaftlichen, sondern von individuellen Voraussetzungen her. Das Landschaftliche ist natürlich vorhanden, aber es wird vom Individuellen bis zur Unkenntlichkeit abgewandelt, vor allem in einer Zeit, wo der Intellektuelle, der bewusste // Mensch höchstens noch, wenn überhaupt, an den Raum seiner Muttersprache gebunden ist. Und wenn es für mich innerhalb dieses Raumes eine Landschaft gibt – was ich auch nicht weiss –, deren literarische Überlieferungen und Produkte mich besonders bestimmen oder bestimmt haben, so ist es sicher nicht die Schweiz, die deutsche Schweiz als eine Ganzheit (als was ich sie nie erfahren habe), sondern am ehesten der süddeutsch-katholische Bereich, der die katholischen Länder der Schweiz und Österreichs, Bayern, Franken, Teile von Schwaben umfasst. Wien, München, Bamberg, Würzburg, Freiburg lagen mir immer näher als Zürich oder Basel (obwohl ich gerade Basel immer sehr liebte). Aber heute haben auch diese Unterschiede keine große Bedeutung mehr, scheint mir; zu lange schon lebe ich, und zwar ganz vergnügt, im protestantischen Deutschland.

Sonntag, 06 Mai 1956       )

6.5.56

Von Proust zu lernen, nie genug an ihm zu bewundern: wie jeder Gegenstand, den er anrührt, Poesie wird. Die Welt ist ihm Poesie. Kunst ist die Verwandlung des Alltäglichen in sein Gegenteil, und zwar nicht durch eine Steigerung ins Pathetische, „Bedeutende“, sondern durch eine ganz leichte, scheinbar beiläufige Berührung, die das Banale kostbar macht, den dichtesten, gröbsten Stoff durchsichtig und schwebend macht. // Von Benn zu lernen (siehe Artikel von Fabri in der F.A.Z): Dass auch sprachlich die Grenze zwischen „Poesie“ und „Prosa“ nicht existiert, dass man sehr viel durch das Überspielen der Grenze zwischen Vers und Prosa erreichen kann. Es gibt einen breiten Raum ( und gerade er ist für mich interessant) zwischen dem Vers im strengen, traditionellen Sinn und der Prosa im strengen Sinn. Dieser Raum ist vielleicht heute der eigentliche Wohnort der Kunst.

Montag, 07 Mai 1956       )

7.5.56

Der Rhythmus, in „Eisnacht“ z.B., ergibt sich nur aus dem Gedicht selbst. Sobald man ihn nach einer allgemeinen Regel misst, empfindet man eine Disharmonie, die stört. Dabei kommt es aber darauf an, dass die Disharmonien als Bestandteile und Voraussetzungen jener Ordnung, die das Gedicht ist, verstanden werden: es wäre ein Leichtes, das Gedicht zu glätten, es im üblichen Sinn fehlerlos musikalisch zu machen. Dann aber wäre es sinnlos, mindestens ärmer, weniger genau. Es geht // mir darum, die einzelnen Elemente, die Klänge, Bilder zu einem möglichst genau gestimmten Ganzen zu komponieren. Ich muss also darauf achten, dass die Milde hier durch die Schärfe dort, die Glätte hier durch die Rauhheit dort ausgewogen, grundiert ist. Anders kann ich mir im Augenblick einen Mikrokosmos, der das Gedicht ja sein muss, nicht vorstellen. Ohne die Tendenz wenigstens zur Vollständigkeit kommt man da nicht aus.

Donnerstag, 17 Mai 1956       )

17.5.56

Die DVA schickt mir die Gedichte mit einer schroffen Ablehnung zurück: das seien gar keine Gedichte, es handle sich um eine Aneinanderreihung und Verkoppelung von Einzelheiten, um mehr nicht, usw. – Ich kann nicht unabhängig genug von Lob und Tadel, Erfolg und Misserfolg werden: Ich muss, als Dichter, immer identischer werden mit meinen innersten künstlerischen Antrieben, mich ganz den Rhythmen und Bildern überlassen, die meinem Geist erscheinen. Mein Formwille und mein Verstand haben // dann die Aufgabe, das im Zentrum Erscheinende zu fassen, genau zu gestalten, zum Gedicht zu vollenden. Aber nicht nach irgendeinem äusseren Gesetz, das mir irgendwelche Kritiker insinuieren, sondern allein nach dem Gesetz, das dieser ersten Erscheinung von Anfang an innewohnt, das sich aus ihr dem genau Hinschauenden und Hinhorchenden notwendig ergibt. – Das ist das Furchtbare für den Künstler: ob sein Unternehmen scheitert oder gelingt, weiss er nie sicher, auch Erfolg und Misserfolg sagen nur wenig darüber aus; dass er dieses Nichtwissen aushalten muss, so unbewegt wie möglich: und wenn er als Mensch auch nicht anders kann, als sich über den Erfolg zu freuen, über den Misserfolg zu betrüben, so darf ihn das als Künstler keinen Augenblick beirren. Je vollkommener sein Gleichmut gegen die Meinungen der anderen ist, je kälter ihn Misserfolg und Erfolg lassen, desto vollkommener wird sein Werk sein – Was interessiert // es mich schon, was die Lektoren von meinen Versen sagen: mich interessiert nur und darf nur interessieren, dass sie mich drucken.

Samstag, 19 Mai 1956       )

19.5.56

Die tiefere, ältere, die Primärschicht aus der meine Dichtung kommt, ist die Welt meiner Kindheit, also die katholisch-mediterrane, eine Welt der Mystik, der Askese, der Heiligenbilder, der Prozessionen, der Angst um das Seelenheil, der Entrückung und Erlösung durch das Sakrament, der Wunder und Verwandlungen, des Welthasses, des Weltrausches, der schmerzhaftesten Herzensspaltung, der entzücktesten Einungen. – Die obere, neuere, die Sekundärschicht ist die Welt der modernen Kultur, also der deutschen Nationalsprache und Nationaldichtung, der Kritik, der Aufklärung, der Skepsis, des Individualismus, des Freiheitspathos, des Fortschritts. – Poetisch interessanter, unentbehrlicher ist zweifellos die Primärschicht. Aber fruchtbar, wirksam wird sie erst, wenn ihre Triebe heraufwachsen durch die Sekundärschicht: wenn die Gestalten, die aus der Tiefe heraufsteigen, hier gerinnen, einfrieren, // „verfremdet“ werden. Der Reiz meines Gedichtes soll darin beruhen, dass das Alte und der Epoche Fremde im neuen Element neu und unerhört, unüberhörbar, unübersehbar wird. – Habe ich damit die Bedingungen der poetischen Vollkommenheit genannt: das Ewige und Uralte muss zugleich ganz neu, das Allgemeinste zugleich ganz einmalig, ganz besonders sein?

02 – Die Primärschicht wird mir hier in Hamburg besonders bewusst, weil ich hier das erste Mal an einem Ort lebe, wo man ganz auf die Sekundärschicht beschränkt ist, wo es mit der Primärschicht kaum eine Berührung gibt. So dass ich das Gefühl habe, in einer halben Welt zu leben: der Gegenstand meiner grossen Auseinandersetzungen, an dem ich mich mass, an dem ich meiner selbst bewusst wurde – auch in den protestantischen Städten des Südens immer spürbar und wirksam – ist hier einfach nicht vorhanden. Das, was mir hier an Kultur, an Geist begegnet, scheint mir ein schöner Turm, der in die Luft gebaut ist, ohne Basis. Wobei das mir // wahrscheinlich so vorkommt, weil ich zur vorhandenen Basis keine Beziehung habe, weil ich sie als solche nicht anerkennen kann: Europa ist hier oktroiert, noch viel mehr als bei uns, das Mittelmeer – und das ist mir im Grunde identisch mit Kultur, mit Kunst, mit Poesie – ist hier nur noch Import, viel mehr als bei uns, in Süddeutschland und in der Schweiz, die wir doch noch am Rande des Orbis Romanus leben.

Samstag, 26 Mai 1956       )

26.5.56

In dem Gedicht „Der Zipfel“ ist genau das Motiv veranschaulicht, das am Anfang aller Kunst steht, das zur künstlerischen Produktion treibt und zwingt: die Leere, die nach Gestalt schreit, sie auszufüllen. Wir malen, bilden, schreiben, um die namen- und gestaltlose Leere auszufüllen. Eine Banalität, die so wichtig ist: frühe Völker (heute noch, liest man, in Indonesien) warfen Früchte, Tiere, Menschen in den Abgrund, um die Gottheit gnädig zu stimmen. So stellen wir Gestalten vor die gähnende Leere, um sie zu besänftigen, zu beschwichtigen. Wir werfen seit Jahrtausenden // Bilder, Gedichte hinab, um sie zu füllen. Und unsere Existenz, unser Menschsein bedarf dieser Erfahrung der Leere, dieser Angst vor dem Fürchterlichen. Denn nur sie provoziert uns zur geistigen Antwort, zu jener äussersten Leistung, die allein unser Dasein von der blossen Natur unterscheidet. (Die felix culpa und die beata nox der Osterliturgie!)

Samstag, 17 November 1956       )

17.11.56

Mein Vers ist vielleicht gar kein Vers im herkömmlichen Sinn, wenigstens oft nicht: die Schreibweise in festen Zeilen soll oft einfach // zum richtigen Lesen, zum richtigen Verständnis des Gedichtrhythmus anleiten. Es ist nicht gleichgültig, an welcher Stelle eine Zeile aufhört, eine neue beginnt. Meine Verse sind immer insofern Verse, als sie den Rhythmus an einer bestimmten Stelle unterbrechen, an einer bestimmten Stelle neu einsetzen lassen. Manchmal freilich fliesst die Bewegung so stetig oder es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, den Rhythmus zu interpretieren, zu lesen, dass ich darauf verzichte, die Zeilenanfänge und Enden zu fixieren. Dann entstehen die Prosagedichte. Oft fange ich ein Gedicht als Versgedicht an, und merke erst in der dritten oder vierten Fassung, dass es besser als Prosa geschrieben wird, dass ich es bloss aus Gewohnheit in Versen schrieb, oder doch fast bloss aus Gewohnheit. // Denn der weitaus grösste Teil meiner Gedichte steht hart an der Grenze von Vers und Prosa. Nur wenige setzen sich zusammen aus eindeutig festen Verskörpern, unter den neuesten vielleicht am ehesten „Zwischen den Kerzen“, „Die Nymphe“.

Samstag, 02 Februar 1957       )

2.2.57

Ich gehöre zu jenen, die nur die höchste Ambition zur Leistung bringt. Nur wenn ich das Äusserste will, erreiche ich etwas. Und ich glaube, dass ich sogar viel erreiche. Die Frage ist nur: wie vereine ich diese Anspannung, diese unablässige Anstrengung mit dem andern, was ebenso nötig ist, für meine Arbeit nicht weniger als für meine ganze Existenz: mit der Leichtigkeit, der Ironie, dem nie Ganz- und nie Allzuernstnehmen? Es gibt da nur das stete Hinsehen auf die Exempla: Thomas Mann, André Gide, Goethe. Zugleich ernst und frivol, wissend und leichtfertig sein. //

02 Gides „Falschmünzer“ faszinieren mich durch die Kunst, die Dinge indirekt zu sagen; für den, der weiss, alles zu sagen und dem, der nicht weiss, ein unterhaltendes Spektakel zu bieten. So entsteht jene Atmosphäre des Schwebenden, Durchsichtigen, Leichten und zugleich Tiefsinnigen, des Scherzens, das Furchtbares verhüllt und zugleich präzisiert und erheitert: die Atmosphäre Mozarts. Sie ist das Höchste, was ein Kunstwerk erreichen kann. –

03 Sicher, der Gebrauch von Kategorien wie Ambition, Erreichen, Anstrengung, Hinsehen, Exempla, das Höchste bestätigt immer wieder meine christliche Herkunft, einen tief sitzenden Moralismus. // Aber im Moment komme ich noch nicht ohne aus.

Donnerstag, 10 Oktober 1957       )

10.X.57

Der Hunger nach dem Absoluten greift nach jeder Erscheinung, beinah wahllos, scheinbar wahllos. In jeder Erscheinung spürt sie den Funken auf, zieht ihn heraus (Siehe: „Das inwendige Licht“) –

[…]

Samstag, 21 Dezember 1957       )

21.12.57

„Der Fisch und der versunkene Poseidon“: Der Fisch soll in einem lockeren, sachlichen, fast vernünftelnden Stil sprechen. Er zieht sich, praktisch, hinter die Linie zurück, die er erreicht hatte. Siedelt sich aber im Ohr des Poseidon an, um so, wenigstens theoretisch, eine Beziehung zu dem, was ihn übersteigt, zu bewahren. – Diese Art Gebilde ist spröde, hat nicht den Glanz, den ich meinen lyrischen Gedichten zu geben versuche: sie sind Lehrstücke, Balladen, mit einer handgreiflichen Moral. – Ich bin selber dieser Fisch, oder auch die Wache, die sich hütet, über // die Linie aus weissen Pflastersteinen hinauszugehen: ich bin an dem Punkt angekommen, wo ich mich zurücknehmen, d. h. die Dichtung streng vom Leben trennen muss. Das sind zwei Spiele mit ganz verschiedenen Regeln. Gerade weil ich und wenn ich in der Dichtung ein Äusserstes leisten will, muss ich mich im Leben bescheiden: d. h. versuchen, ein möglichst unauffälliges, möglichst „normales“ Leben zu führen. – Experimente muss man in dem Augenblick abbrechen, wo man merkt, dass sie uns mehr kosten und aufbrauchen, als dass sie uns einbringen und weiterführen. – Der Fisch ist nicht sympathisch, // braucht es auch nicht zu sein. Klugheit ist selten sympathisch. Aber es geht nicht ohne.

Samstag, 18 Januar 1958       )

18.I.1958

Der Unterschied zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Darstellung besteht nicht darin, dass der Wissenschafter andere Gegenstände behandeln würde als der Künstler, nicht darin, dass beispielshalber der Wissenschafter die Gegenstände theoretisch abstrakt, der Künstler, der Dichter aber sinnlich bildhaft darstellen würde. Auf jeden Fall muss man genau // angeben, was man unter dem einen und was man unter dem anderen versteht. –

02 Der Dichter kann die gleichen Gegenstände mit der gleichen Terminologie behandeln wie der Gelehrte. Er kann sich, wenn er es beherrscht und wenn er will, des Vokabulars jeder beliebigen Wissenschaft bedienen. Der Unterschied liegt darin, dass der Dichter auch den – scheinbar – wissenschaftlichen Gegenstand, die – scheinbar – wissenschaftliche Terminologie poetisch verwendet. D.h. er wird statt logisch zu denken, der ästhetischen Forderung seines formenden Geistes folgend assoziieren. // Sogar, wenn er eine Abhandlung – scheinbar eine Abhandlung – schreibt, hat sie die Bedeutung eines Bildes. Sie will nicht überzeugen, sondern faszinieren. Es wäre ein Gedicht denkbar, das ausschliesslich aus abstrakten Begriffen bestünde und dennoch ein reines Gedicht wäre – ein reineres als jene vielen Gedichte, die Philosopheme in Bilder eingewickelt mitteilen –: wenn es nämlich diese abstrakten Begriffe einem rein ästhetischen Zwang, einem künstlerischen Antrieb folgend, ordnen und vereinigen würde. – Das gleiche gilt vom Roman: man braucht da nichts zu // sehen, zu hören, zu schmecken, im üblichen Sinn. Es genügt, wenn der Roman unsere geistige Sinnlichkeit anspricht, unseren Sinn für Rhythmus, Proportion, Spannung, Lösung auf der höchsten Stufe. Es braucht da, äusserlich, gar nicht viel zu passieren. Die Bewegung der Empfindungen des einen Menschen für einen anderen innerhalb einer Viertelstunde ist ein ausreichender Stoff für einen Roman. Dass sowohl der, der ihn zu schreiben, wie auch der, der ihn zu lesen imstande wäre, noch nicht geboren ist – wahrscheinlich – ist doch wohl kein Einwand dagegen.

Samstag, 21 Juni 1958       )

21.VI.1958

Nach einem Gespräch mit Curt Hohoff: Die spezifisch moderne Lyrik ist so wenig eine charakteristisch jugendliche Gattung der Poesie, wie die antike oder die barocke es war. Der noch weit verbreitete Glaube, es sei für einen Mann von 40 Jahren nicht mehr möglich oder sogar unwürdig, Gedichte zu schreiben, hat zur // Voraussetzung eine romantische Lehre und Auffassung der Dichtung (siehe Emil Staigers Poetik, Kapitel über Lyrik): Lyrik, im Gegensatz zur Prosa, zum Drama Äusserung eines spontanen, direkten, noch naiven Gefühls. Bewusstheit, geistige Formkraft, Distanzierung vom Stoff sind, nach dieser Auffassung, der Lyrik fremd, machen sie unmöglich. – Abgesehen davon, dass uns heute die Unterschiede der Gattungen gar nicht mehr so wichtig sind wie früheren Generationen, sind Namen // wie Goethe, Mörike (er freilich mit Vorbehalten), Meyer, Rilke, Benn Beweise genug gegen die These von der Jugendlichkeit der Lyrik. – Und was soll man erst zu Valéry, Mallarmé, Auden, Eliot sagen, deren Kunst zum wesentlichen Teil nur als die Kunst eines reifen Alters denkbar ist? Ich möchte, im Gegenteil, sogar sagen: nur das Wissen, die Skepsis, der Weltabstand, der schmerzlich-ironische, die elegisch-leidenschaftliche Erfahrung der Vergeblichkeit des reifen Lebensalters war und ist das // zu schaffen imstande, was wir als moderne Lyrik kennen. Eine Kunst, die freilich Horaz, Ovid und den Alexandrinern näher steht, auch den Dichtern des Barock, als dem 19. Jahrhundert. – Vielleicht entspricht die Lyrik als Kunstgattung unserer Zeit darum besonders, weil sich in ihr die künstlerischen Prinzipien und Methoden, die uns am nächsten liegen, am reinsten anwenden, am deutlichsten vorführen lassen. // Die kühne Assoziation, der „Bildsprung“ ist ein spezifisch lyrisches Verfahren, die Komposition der Gegensätze (der scheinbaren), alles, was man als Eigentümlichkeit moderner Dichtung kennt. Man macht das heute alles auch im Roman, im Drama. Aber in der Lyrik ist es wohl am besten am Platz: die modernen Methoden sind anstrengend, verlangen vom Autor und vom Leser jeden Augenblick die gespannteste Aufmerksamkeit. So liegt die Kurzform der Lyrik nahe. Die längere des Romans, der // Erzählung, des Dramas strengt leicht zu sehr an. So wirken moderne, wirklich moderne, Romane oft wie überlange Gedichte, oder oft auch wie durch Lyrik kommentierte, von Lyrik durchsetzte Erzählungen. – Aber hier schliesst sich der Ring: die Gattungen fangen an, wie in der Spätantike, ineinander überzugehen. Und heute wird alles zur Lyrik, wenn auch – sofern man das auf deutsch überhaupt sagen darf, ohne gleich umgebracht zu werden – zu einer sehr spröden, zu einer intellektuellen Lyrik.

Dienstag, 01 Juli 1958       )

1.VII.1958

[…] – Ich hasse den rein solipsistischen Künstler. Kunst geschieht, für mich, in der Welt. Der Künstler kann ein Narr sein, aber er muss ein Hofnarr sein, der Narr eines Hofes. – Nur unter äusserstem Zwang könnte ich mich entschliessen, in die Wüste zu gehen, die Stimme des Rufenden aus der Wüste zu spielen. Ich tue es, wenn ich muss, aber ich werde mich bis zum letztmöglichen Augenblick gegen dieses // Schicksal wehren. Meine Antipathie gegen Hölderlin, gegen Rilke, gegen Nietzsche, trotz aller Bewunderung, kommt daher, von diesem Misstrauen gegen das ungemischt Dämonische, das Brutale, das Unkonziliante dieser Figuren. Meine Liebe zu Thomas Mann, Hofmannsthal, André Gide (auch André Gide?) kommt aus meinem Einverständnis mit ihrem „gesellschaftlichen“ Künstlertum, das immer menschlich blieb, ohne das Geringste an Intensität aufzugeben. –  Heute ist die Frage // für mich die, ob ich diesen Standpunkt halten kann, ob ich ihn nicht modifizieren muss. […] // […] Ich habe eine – unglückliche Liebe zum Bürgerlichen. Ich möchte ein bürgerlicher Künstler sein. Ich fürchte, ich muss, wenn ich überhaupt ein Künstler sein will, diese Ambition aufgeben, weil ich der doppelten Belastung, vielleicht, nicht gewachsen bin. […]

Sonntag, 13 Juli 1958       )

13.VII.58

Der Trapezkünstler unternimmt die halsbrecherischen Sprünge, Stürze, Schwünge. Aber für den Zuschauer sind sie ein ästhetisches Vergnügen: schön ist vor allem die Vereinigung von Todesverachtung, Kühnheit und Leichtigkeit. // Vielleicht gibt es gar keine wirkliche Schönheit ausser der Gefahrenzone. – Vielleicht darf ich mich nicht mehr erschrecken über die Sprünge, Stürze, Schwünge. Sie gehören vielleicht einfach dazu. Gibt es den Trapezkünstler, der nicht weiss, dass er einer ist, der wider Willen einer ist? Der vom hohen Seil seine Angst herabschreit und seinen Überdruss, aber trotzdem immer weiter geht und springt und stürzt, weil ihm etwas anderes einfach nicht übrig bleibt?

02 Ich bin der Tanzbär auf der glühenden // Platte. – Aber vielleicht ist diese Situation für mich gar nicht konstitutionell, sie ist vielleicht nur okkasionell. Ich kann mir denken, dass sich gar nicht allzuviel ändern müsste in mir und in meinen Verhältnissen, damit ich ein vergnügter, ein verhältnismässig unproblematischer Poet würde? – Nach welcher Richtung mache ich mir da etwas vor? Sehe ich die Dinge zu tragisch oder zu harmlos? Eines von beidem auf jeden Fall.

Donnerstag, 06 November 1958       )

6.11.1958

Zur Diskussion in der Gruppe 47: Jeder Mensch reagiert auf andere Reize. Und jeder dieser Reize, jede Art von Reizen verführt den Künstler zu spezifischen Fehlern. Er muss sie kennen und versuchen, ihnen zu entgehen, sie zu überwinden. – So wird der Dichter, der seine Motive aus seiner nächsten Umwelt, aus seinem Alltag nimmt, leicht in Gefahr geraten, muffig und hausbacken zu werden, Literatur für Hausfrauen // und Schulmädchen zu schreiben. Derjenige aber, der sich durch fremde Länder, alte Mythen, die Geschichte anregen lässt, kommt leicht in Gefahr, die Faszination seines Stoffes schon für ausreichend zu halten, bloss zu kolportieren, statt zu gestalten, zu vergessen, dass ein grosser und leuchtender Stoff noch kein grosses und leuchtendes Gedicht ergibt. – Der eine wie der andere hat seine Gründe für seine Motivwahl. Aber es kommt ausschliesslich darauf an, was einer aus seinem Motiv macht. Die // Gründe liegen tief unten in seinem Innern, er müsste sich sein Leben lang analysieren, um sie frei zu legen. Das ist sicher müssig, sicher unwichtig. Aber wichtig, unvermeidlich, absolut nötig ist es, dass der Dichter seine Motivwahl durch die Gestaltung rechtfertigt. Das vom Dichter gewählte Motiv muss dem Leser als das einzig mögliche erscheinen. Er darf gar nicht auf den Gedanken kommen: warum hat er jetzt gerade dieses und kein anderes gewählt?

02 Klischees: es gibt modernistische, historische, // mythologische, touristische (Italien, Spanien, Afrika, Skandinavien, Amerika usw.) Klischees. Es ist ganz unmöglich, zu schreiben, ohne Klischees aus einem oder mehreren dieser Bereiche zu benützen. – Diese Erkenntnisse über Motive und Klischees scheinen mir die selbstverständliche Voraussetzung jeder irgend ernst zu nehmenden Diskussion von Schriftstellern über diese Gegenstände. Jeder Streit über erlaubte und unerlaubte Motive, über die Vermeidbarkeit von Klischees // überhaupt scheint mir sinnlos, zeigt höchstens, dass die Leute nicht wissen, wovon sie reden. Aber das ist ja das Erheiternde: die Leute meinen immer, dass gerade die augenblicklich gebräuchlichsten Motive die besten, die augenblicklich gängigsten Klischees keine Klischees seien.

Sonntag, 18 Januar 1959       )

18.I.1959

Die Motive, die Stoffe sind in meiner Arbeit verhältnismässig gleichgültig. Ich bin hier vielleicht leichter imstande, zu wechseln<,> mich umzustellen als andere. Es mag sein, dass dies vom einen oder anderen als Charakterlosigkeit empfunden wird. Aber das Gegenteil ist der Fall: // was in meinem Zentrum ist, was zur poetischen Äusserung drängt, ist so stark, dass es durch jedes Motiv, durch jeden Stoff gleichermassen durchschlägt. Im Grund schreibe ich immer das Gleiche, schreibe ich immer um das Gleiche herum, dem ich mich von allen Seiten annähere. Man kann mit diesem Heranpirschen ein Leben verbringen, man wird nie ganz dran sein. Wenn ich sterbe, bin ich ganz dran.

Montag, 19 Januar 1959       )

19.I.1959

Reduktion durch Konzentration. Konzentration durch Reduktion. Ich hatte noch nie den Mut, mir das Telefon abstellen // zu lassen. Überhaupt, ich darf keine Reserven halten, keine Hintertüren offen lassen. – Ich hinke mit etwa einem Jahrzehnt hinter meinem Lebensalter her. Ich bin in meiner literarischen und menschlichen Entwicklung dort, wo ich mit siebenundzwanzig Jahren hätte sein müssen –, und vielleicht auch hätte sein können. Wenn mir zur richtigen Zeit die richtigen Leute begegnet wären. Ich habe 1946 zwar André Gide gesehen. Aber er nahm mich nicht wahr, konnte mich nicht wahrnehmen: ich lag noch verborgen unter einem Schuttberg von Konventionen, von mir unangemessenen Meinungen // und Wertungen. Es hätte jemand einen sehr grossen Einsatz machen müssen, um mich auszugraben. […]

Mittwoch, 18 März 1959       )

18.III.1959

W. D. rät mir, einen bewussten Rückzug zu machen, mich um Preise u.ä. überhaupt nicht mehr zu bekümmern. Ein Gedanke, der mir auch seit langem immer etwa wieder kommt: In meiner Lage erreicht man vielleicht am meisten, hat man vielleicht am ehesten Erfolg, wenn man den Erfolg verachtet, d.h. so fest an ihn glaubt, dass man überzeugt ist, ihn einfach durch seine Arbeit, ohne irgend weiteres Zutun auf sich zu // ziehen. Die Arbeit als unwiderstehlicher Magnet für den Erfolg. – Während meine eifrigen Bemühungen gegenwärtig mir wohl wirklich mehr schaden als nützen: mit meiner Attitüde des zu kurz Gekommenen, des Verkannten mache ich wohl mehr den Eindruck der Unsicherheit. Und Unsicherheit irritiert die Leute, auf die es ankommt. Eindruck macht die selbstverständliche überlegene Ruhe. – Von diesem Standpunkt gesehen, wäre es wohl am besten, gleich nach Italien zu ziehen, um aus dem literarischen Betrieb hier herauszukommen. Denn solange ich hier bin, gerate // ich unweigerlich immer wieder in den Sog von Wirbeln und lasse mich zu Bewegungen und Reaktionen verführen, die ich später bereue. Da wäre räumliche Distanzierung die beste Sicherung. Aus ökonomischen Gründen kann ich sie mir leider nicht leisten. – 

02 Die Attitüde des zu kurz Gekommenen: sie erklärt sich wohl vor allem daraus, dass ich in meiner innern Entwicklung als Künstler schon viel weiter bin als in meiner literarischen Geltung. Als Künstler bin ich vielleicht wirklich siebenunddreissig // Jahre alt. Auf dem literarischen Markt und damit in der Gesellschaft bin ich jetzt an einer Stelle angekommen, die ich irgendeinmal zwischen fünfundzwanzig und dreissig hätte erreichen müssen. Aber nicht erreichen konnte, weil ich mich verzettelte, auf zu viele Pferde zugleich setzte. Daher meine hektische Bemühung heute, diesen Abstand zu überwinden, die verlorene Zeit einzuholen, koste es, was es wolle. – Dabei käme ich wohl weiter, wenn es mir gelänge, mich ganz mit meiner Arbeit zu identifizieren, nur noch an meine Arbeit selber zu denken, sodass mein Geltungsbedürfnis // ganz in meiner Arbeit unterginge, eine reine Funktion davon würde. Dann käme der Erfolg von selbst und viel sicherer.

Sonntag, 24 Mai 1959       )

24.V.1959

Jene, die vom Künstler das „Engagement“ verlangen, haben einen zu engen Realitätsbegriff. Sie glauben, die sie im Augenblick bedrängenden politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Fragen seien die eigentlichen, alles andere sei uneigentlich, Ausflucht, bestenfalls Spiegelung des Eigentlichen. –

02 Diese Betrachtungsweise entspricht wohl dem aktiven Menschen, der seine ganze Energie, seine ganze Phantasie, sein ganzes Interesse in die Lösung der praktischen Fragen legt, die ihn gerade eben beschäftigen. Er kann sich nicht vorstellen, dass der Künstler, so weit er eben // Künstler ist, auf einer anderen Ebene lebt. Dass er zwar, zum Teil wenigstens, die gleiche Welt sieht, aber dass ihre Gegenstände sich für ihn zu anderen Figuren vereinigen.

Mittwoch, 27 Mai 1959       )

27.V.1959

Kunst ist – ihrem Wesen nach – kein Kampfmittel. Obwohl sie natürlich auch als das gebraucht werden kann. Der Künstler ist – insofern er Künstler ist – kein Kämpfer, es sei denn für die Durchsetzung seines Werks. Aber der Künstler ist immer auch Mensch in einem weiteren Sinn. Er bewohnt immer auch jene Räume, die alle andern bewohnen. Und dies wird sich in seinem // Werk auswirken, so oder anders. Ein politisch interessierter Künstler z.B. wird oft – nicht immer – dazu neigen, seine politische Auffassung in seiner Arbeit zu zeigen, oder sie sogar mit seiner Arbeit und in seiner Arbeit zu verfechten. Das Kunstwerk kann aus jedem Stoff gebildet werden, kann sein Motiv aus jeder Sphäre beziehen, auch aus der politischen. Jene aber, die von ihm verlangen, dass es das tun müsse, die vom Künstler politisches Engagement verlangen, machen den Fehler, ihre, politische, Realität für die einzige zu halten. Jeder, der sich hier nicht einsetzt, ist nach ihrer Auffassung feige, nicht „auf // dem Boden der Realität“, ein Träumer. Dabei ist alles, was es gibt, die ganze Welt gleich wirklich. Es kommt nur darauf an, ob ich es verstehe, durch jeden Gegenstand hindurch die Wirklichkeit, den Kern gleichsam zu sehen. Diese Wirklichkeit zu zeigen, das ist die Aufgabe der Kunst. Ob ich nun als Material für diese Operation die Gesellschaft vornehme oder ein Gänseblümchen, das bleibt sich gleich. Jeder Gegenstand hat für den Künstler seine spezifischen Gefahren und seine spezifischen Vorzüge. –

02 Weltanschauung, bewusste Weltanschauung, Glaube an eine geschichtliche Idee, ein politisches Ziel: all dies und Kunst schliesst sich gegenseitig nicht aus. Aber es // sind ganz verschiedene Dinge. Denn das Kunstwerk ernährt sich mehr aus dem, was der Künstler nicht weiss, was unerhellt in ihm, in seiner Zeit, in seiner Gesellschaft liegt, als aus dem, was er weiss und will. Kunst ist eine Methode der Erhellung, der Gestaltfindung für das bisher Gestaltlose. Sie ist nicht ein gefälliges Herrichten von guten Ideen und löblichen Zielen. Insofern ist Kunst auch nicht „human“ ihrem Wesen nach. Sie ist weder moralisch noch unmoralisch. Sie ist amoralisch, insofern sie – ihrem Wesen nach – nichts will und nichts beabsichtigt: aber eben dies: ein auf andere Weise nicht Ausdrückbares auszudrücken. // Dazu kann alles dienen. Auch das Moralische, auch das Politische. Alles kann Stoff für ein Kunstwerk sein. Das Ausserordentliche an Bert Brecht, das, was ihn zu einem Dichter macht, ist, dass bei ihm nicht so sehr das Kunstwerk einer politischen Idee, sondern die politische Idee dem Kunstwerk dient. Hier wird eine grosse Überzeugung zum Material für grosse Poesie. Etwas, was ganz wenigen gelingt. Und auch Brecht gelingt es nicht immer, und dann wohl unabsichtlich, einfach weil er ein großer Künstler ist. –

03 Das Kunstwerk drückt eine höchste und äusserste Erfahrung aus, die anders nicht ausdrückbar ist. Als Stoff dient dem Künstler dazu alles, // was ihm seine Zeit zur Verfügung stellt, was ihm die Konvention anbietet. Die Kühnheit grosser Kunst besteht also nicht im Stoff, den sie wählt, sondern in der Art seiner Behandlung: Wenn ein mittelalterlicher, ein Renaissance- ein Barockmaler den heiligen Sebastian malt, so ist das keine Propaganda für das Martyrium oder für den Jenseitsglauben, nicht einmal ein Bekenntnis dazu. Der Wert des Martyriums und der Jenseitsglaube werden als selbstverständlich vorausgesetzt. Das Kunstwerk steht innerhalb dieses Glaubens, ganz selbstverständlich, es bedient sich seiner. So versteht es sich, dass Zeiten grosser weltanschaulicher Auseinandersetzungen kaum je Zeiten künstlerischer Blüte sind. // Ein Minimum an gemeinverbindlichen Anschauungen, an Selbstverständlichkeiten muss da sein, damit das Kunstwerk als es selber entstehen, als es selber wirken kann. Damit es nicht stofflich missverstanden wird. Damit der Beschauer, der Leser nicht am Stoff hängen bleibt, muss dieser eine gewisse Selbstverständlichkeit haben, darf er nicht zu sehr auf die Willenssphäre wirken. Denn das Kunstwerk löst zwar Affekte aus, aber sie dürfen nicht zu konkret, nicht zielgerichtet sein, sonst kann es nicht mehr in jene Seelenschichten eindringen, für die es bestimmt ist. Die grosse christliche Kunst entsteht // erst nach Konstantin, die Kunstblüte des 16. Jahrhunderts hört mit der Reformation fast schlagartig auf. Und die grosse Literatur um 1800 findet man so wenig in Frankreich wie die des 20. Jahrhunderts in Russland. –

04 Hier ergibt sich einer der vielen Gründe für die Entstehung der abstrakten Kunst in der Gegenwart: die Ablösung vom Motiv im überlieferten Sinn erlaubt dem Künstler einer Epoche, die sich in erbitterten weltanschaulichen Kämpfen zerfleischt, dem Schicksal zu entgehen, dass sein Werk weltanschaulich missverstanden und bloss vom Stoff her interpretiert wird. Der abstrakte Künstler arbeitet, // wie die Künstler aller Zeiten, mit den Formen und Grundfiguren, die nicht Gegenstand politischen Streites sind, die noch als sie selber genommen werden. Auf dem Boden dieser noch verbindlichen Konvention kann er – wenn er ein Künstler ist – noch am ehesten Neues und Kühnes erfinden, als Künstler verstanden werden und nicht missverstanden als Parteigänger. So ist er nicht feige, sondern er tut seine Pflicht: das ihm erreichbare Allgemeinste in den seiner Zeit gegebenen Formen und Materialien sichtbar zu inachen. Dem Kampf entgeht er so wahrlich auch nicht. Aber die Chance ist dann grösser, dass es ein Kampf um die Prinzipien der Kunst und // nicht um die einer Parteipolitik ist.

Mittwoch, 24 Juni 1959       )

24.VI.1959

Moras erhebt Einwände dagegen, dass ich das Bild des Spiegels verwende: das sei ein verbrauchtes Klischee. – Es gibt kaum mehr ein Bild, ein Motiv in meinen Gedichten, von dem nicht irgendeinmal jemand gesagt hat, es sei konventionell und verbraucht. Diesen Vorwurf zieht die heutige Poesie darum leicht auf sich, weil sie ja aus dem Kult der Originalität, der Ablehnung der klassischen // Vorbilder entstanden ist. Eine Dichtung, die auf Protest beruht, muss es sich mehr als irgendeine gefallen lassen, dass man sie daraufhin untersucht, ob sie auch wirklich über das hinaus führt, wogegen sie protestiert. – Daran ändert wenig, dass ich mich persönlich gar nicht als einen Protestierenden empfinde, dass ich mich einer poetischen Gesamttradition verpflichtet glaube, an der die Moderne, die ich vielleicht mitrepräsentiere nur ein Ast, aber auch ein Ast ist. Das Streben nach Originalität ist eine Eigentümlichkeit der ganzen Richtung und Epoche. Es wirkt nach von den ersten Generationen her, die die moderne Dichtung begründet haben. Woraus seine Fragwürdigkeit deutlich wird: das Streben // nach Originalität selber ist schon längst zum Klischee geworden. Entscheidend für die Qualität eines Gedichts ist die individuelle Substanz des Verfassers: dass sie stark genug ist, immer wieder durch die Klischees zu schlagen. Ob das im einzelnen Fall geschieht, das ist wohl für die Zeitgenossen am schwersten zu beurteilen: Tintoretto wollte Veronese nachahmen. Nicht einmal er selber, sowenig wie die Venezianer seiner Zeit, erkannte, dass er Tintoretto war. – Anderseits mag Moras darin recht haben, dass ich mich in der letzten Gedichtserie von dem Punkt, den ich letztes Jahr erreicht habe, nicht fortbewege. Dass ich im Kreis gehe. Das entspricht meiner alten Gewohnheit: wenn ich an einer Stelle // angekommen bin, lange ringsum zu laufen – eine weisse Maus im Käfig – bis ich einen Ausschlupf finde. Die Entwicklung meiner Arbeit geschieht in Schüben. Es ist darum vielleicht gut, wenn ich mich eine Zeitlang ganz auf Prosa konzentriere und die Lyrik ruhen lasse, bis ich glaube, dass ich die Kraft habe, die Wand zu durchstossen.

Sonntag, 15 Januar 1961       )

15.1.1961

Früher spekulierten die bildenden Künstler naiv auf das Assoziationsbedürfnis und die Assoziationsfähigkeit des Publikums. Sie vertrauten auf die Wirkung bestimmter Motive, von denen sie voraussetzten, dass sie bestimmte Emotionen erzeugen würden. Die Macht dieser Motive war übrigens so gross, dass sie nicht nur auf das Publikum wirkte, sondern vor allem auch auf die Künstler selber: das Motiv inspirierte ihn, es setzte seine Kreativität in Bewegung. Das hat sich heute weithin geändert. Ein Maler, // den das Motiv bestimmt, kommt heute leicht in Gefahr, im bloss Dekorativen steckenzubleiben, man empfindet ihn als Kunsthandwerker. Seit es abstrakte Kunst gibt, ist die Beziehung zum Gegenstand problematisch geworden. Wir verlangen von einem Maler vielleicht nicht unbedingt, dass er rein abstrakt malt, aber wir verlangen von ihm, wenn wir ihn als Maler ernst nehmen sollen, dass er den Gegenstand mit einer maximalen Freiheit, dass er ihn spielerisch behandelt. Dafür ist Picasso das klassische // Beispiel. Karl Rössing, bei dem ich gestern war, steht eigentümlich zwischendrin: er nimmt seine Gegenstände zu ernst, bleibt ihnen zu nahe, zu pedantisch nahe, um ein ganz grosser Künstler zu sein. Anderseits hat er einen zu ausgeprägten Sinn für Farben, Proportionen, aber auch für das Geheimnis und den Zauber der Gegenstände, um kein Künstler zu sein.

Die moderne Literatur steht natürlich vor ähnlichen Fragen. Nur müssen hier Vergleiche immer hinken, weil das Material Sprache vom Material, den // Materialien der bildenden Künstler zu verschieden ist: was ich von der Distanz des Künstlers zum Gegenstand, zum Motiv gesagt habe, gilt vom Dichter ähnlich wie vom Maler. Nur hat der Dichter zwei Möglichkeiten: er kann mit Worten arbeiten, mit der Sprache, sich von den Worten, der Sprache führen lassen. Oder aber, er braucht die Sprache nur, um Gegenstände, Motive, Bilder seiner inneren oder äusseren Welt darzustellen. In einem gewissen Sinne kann man den Dichter, der bloss mit Worten arbeitet, den die Worte bestimmen und leiten, mit dem abstrakten // Maler vergleichen. Nur ergibt sich aus dem Unterschied, dass ein Sprachwerk in der Zeit verläuft, ein Bild aber immer auf der Fläche bleibt, dass die Wirkung eines abstrakten Bildes derjenigen eines gegenständlichen um vieles näherkommt, als die Wirkung eines „Wortgedichtes“ derjenigen eines „Bild-“ oder „Motivgedichtes“. Denn das Verwirrliche am reinen Wortgedicht ist, dass ich es wie jedes andere von vorn nach hinten lesen muss, dass es aber tatsächlich – in seiner reinen Form – nicht vorn anfängt und am Ende // aufhört. Dass ich die Wörter ebensogut beliebig umstellen könnte, weil es keinen ersichtlichen Grund gibt, dass sie gerade in dieser und nicht in einer anderen Reihenfolge angeordnet sind. Es sei denn, dass optische Gründe gerade diese und keine andere Anordnung der Worte auf dem Blatt rätlich erscheinen lassen. Dann aber habe ich es mehr mit einem Bild als mit einem Gedicht zu tun.

Eigentümlich ist das japanische Verfahren, ein Gedicht gleichzeitig als Bild zu geben: ein „Bild-“ oder „Motivgedicht“ // wird auf eine Fläche so geschrieben, dass es auch den der japanischen Schrift und Sprache Unkundigen als abstraktes Bild fasziniert. Dieses Verfahren hat aber die japanische Schrift und Sprache zur Voraussetzung. Bei Versuchen in dieser Richtung mit unseren Sprachen und unserer Buchstabenschrift käme man über das Kunstgewerbe kaum hinaus.

Montag, 01 Mai 1961       )

1.5.1961

Ein junger Mann, Roland Fleissner, lässt mich ein langes Gedicht, das er zum Tod von Hans-Henny Jahn geschrieben und auf Band gesprochen hat, anhören: Mir fällt wiederum die rücksichtslose Direktheit auf, mit der man heute alles sagt. // Wenn manche Leute sie mir vorwerfen, sind sie naiv. Was sich die ganz Jungen, was sich die amerikanischen Beatniks leisten, was Jean Genêt tut, das stellt alles bisher Bekannte in den Schatten. Und dabei sind diese Leute, ich sah es eben wieder bei diesem Fleissner, alles andere als lüstern oder obszön oder grausam. Im Gegenteil, sie sind ausserordentlich unschuldig. Sie würden gar nicht verstehen, dass irgendjemand ihre Redeweise // schockant finden könnte. Dazu kommt, dass diesem krassen Realismus im Einzelnen eine grosse Abstraktheit im Ganzen entspricht: Die unerhört brutalen und vulgären Ausdrücke und Bilder sind zu einem kunstvollen, vielschichtigen Ganzen zusammengesetzt, drücken sehr komplizierte Gedankengänge und Empfindungen aus. 

02 Ich selber, wenn ich etwa Versuche mache, in einem entsprechenden Stil // zu schreiben, fühle mich dabei unbehaglich und angestrengt. Ich stelle mir die schockierten Mienen mancher möglicher Leser vor, sehe aber im Übrigen kaum einen Gewinn für die Sache, um die es mir geht. Meistens genügen Andeutungen, sie sagen dem, der verstehen soll und kann, alles. Das ist keine Kritik an den Jungen: ihnen fehlt einfach, vielleicht zu ihrem Glück, der Begriff // der Dezenz, wie ich ihn leider noch mitbekommen habe. Für mich hat er auch keine grundsätzliche Bedeutung mehr, wohl aber eine praktische. Ich sehe ein, dass gewisse bürgerliche Regeln und Beschränkungen keinen Sinn mehr haben, dennoch sind sie in meinem Gefühl als Hemmungen geblieben. Ich setze mich über diese Hemmungen immer dann weg, wenn es sein muss, aber es hat keinen Sinn, dass ich mich in eine Attitüde // hineinsteigere, die mir nicht liegt. Das würde nur wieder zu einer andern Verkrampftheit führen. Ich muss das Meine innerhalb meiner Grenzen leisten. Diese Grenzen kann ich vielleicht langsam hinausschieben. Aber es hat keinen Sinn, dass ich, nur um up to date zu sein, eine Freiheit vortäusche, die ich nicht habe.

Mittwoch, 16 August 1961       )

16.8.1961

Hirsch von der Neuen Rundschau schickt die Gedichte zurück mit der Bemerkung, es seien darin „zu viele Halbedelsteine“. Er zitiert als Beispiele // aus „Elegie“: „Die Küsse hängen in Dolden und sengen und brennen. Aus dem Hinterhalt kommen die Wolken hervor und erbrechen sich an die Felsen“, und aus „Der gelbe Handschuh“: „Der Sand ist heiss, und die Perlen verbrennen den gelben Handschuh“. Ich kann die Dinge drehen und wenden, wie ich will: ich kapiere Hirsch nicht.

02 Aber ich werde zusehends gleichgültiger gegen das Urteil anderer Leute über meine Arbeit. Wenn mir jemand etwas zurückschickt, packe ich es in einen // frischen Umschlag und gebe es an den nächsten Redakteur weiter.

[…]

Mittwoch, 23 August 1961       )

23.8.1961

Diffus: Kein entschiedener Antrieb in irgendeiner Richtung. Dies gesteigert durch die äusseren Umstände: Reisen zu Autoren, Gespräche mit Autoren // wegen eines Artikels, den ich für „Das Schönste“ schreiben muss. Der Roman steht still […].

[…]

02 Begegnung mit einem Erzengel. Die „Akzente“, wie seit Jahren, wollen meine Gedichte nicht.

Sonntag, 13 Januar 1963       )

13.1.1963 (München)

Disput mit Peter Hamm über ein für den Kindler-Verlag gelesenes M.S.: Immer wieder komme ich auf die Meinung zurück, dass ein hauptsächliches Merkmal des Kunstwerks die Absichtslosigkeit ist. Wer eine künstlerische Arbeit mit einer ausserkünstlerischen Absicht beginnt, ist schon auf dem Holzweg. Ich weiss wohl, dass ich // mir durch diese Meinung den entschiedenen Widerspruch aller Engagierten – und sie beherrschen heute das Feld – zuziehe. Natürlich können Romane, Gedichte, [ein] Dramen, die mit der Intention geschrieben sind, die Gesellschaft zu verbessern, die Tyrannei zu bekämpfen, das Proletariat zu befreien oder meinetwegen zu Hebung der Schweinezucht anzuspornen, trotzdem Kunstwerke sein. Aber eben trotzdem. Das heisst, die künstlerische Potenz des Autors // ist dann eben so stark, seine Naivität so gross, das alles, was er äussert, zum Kunstwerk wird, selbst wenn er die Absicht hat, bloss einen Zeitungsartikel zu schreiben. Das berühmte und von den Engagierten immer wieder angezogene Beispiel Brechts, ebensowenig wie dasjenige einiger Russen und Franzosen, ändert das Geringste daran, dass der Inhalt eines politischen Leitartikels nicht primär // als Inhalt eines literarischen Kunstwerks geeignet ist. Einfach darum, weil Kunst sich auf einer andern Ebene des menschlichen Geistes abspielt als z.B. Politik. In der Kunst erscheint das, was auf andere Weise weder dem Künstler selbst noch seinen Zeitgenossen bewusst wird. Anders: Kunst ist der Aktualität näher und ferner zugleich als Journalismus, als politische und soziale Diskussion. Sie gibt einen anderen Schnitt. // Darum ist der wirkliche Künstler nie bloss ein Eskapier und Drückeberger: Es gibt wesentliche Aspekte der Realität einer Zeit, einer Gesellschaft, die nur im Kunstwerk Gestalt gewinnen. Und diese Aspekte sind nicht dieselben, die sich in den Zeitungsartikeln, in der politischen Publizistik niederschlagen. Brechts soziale und politische Ideen dienten seiner Produktivität als Zünd- und Kraftstoff, gaben dem Individuum Bert Brecht den künstlerischen Impuls. // Das ist interessant für die Biographen dieses grossen Dichters. Künstlerisch gesehen aber ganz unwichtig: Proust taten denselben Dienst einige in Thee getauchte Madeleines und das Lächeln einiger junger Mädchen. Er ist deswegen nicht geringer und um kein Haar ferner der vielberufenen „Realität“. Nicht einmal im allerbanalsten Sinn: Wenn ich mich über die französische Gesellschaft zur Zeit der Dreyfus-Affäre unterrichten will, dann habe ich unvergleichlich mehr von der Lektüre der „Recherche“ // als von derjenigen sämtlicher Artikel der Pariser Zeitungen jener Jahre. Gerade weil die „Recherche“ gar nicht die Absicht hat, zu kritisieren, zu verändern, zu bessern. Gerade weil sie in tausend scheinbaren Quisquilien und Kleinigkeiten mit ungeheurer Leidenschaft auf ein Allgemeinstes zielt, das sich niemals direkt fassen lässt, sondern nur und ausschliesslich in den alltäglichsten Kleinigkeiten. //

02 So muss ich das, was ich am Anfang sagte, präzisieren: Ein Dichter kann auch aus dem Stoff und mit den Intentionen eines Leitartiklers ein Kunstwerk machen, wenn er ein Dichter ist. Das eigentlich Künstlerische, was sein Produkt von einer Arbeit für den Tag unterscheidet – wobei es ausserdem und überdies noch eine solche Arbeit sein kann – liegt dann unter, hinter<,> neben dem aktuellen Bezug. Ein Künstler mag eine Absicht haben, eine gute oder schlechte, politisch // „fortschrittliche“ oder „reaktionäre“, moralische oder unmoralische, er mag überhaupt keine Absicht haben. Es kommt darauf nicht an, es ist vollkommen gleichgültig. Wichtig ist nur, dass er aus einem innersten Zwang heraus produziert, dass in ihm etwas ist, das ihm keine andere Wahl lässt als die, sich im Kunstwerk zu äussern. Alles andere ist bedeutungslos.

[…]

Montag, 18 Februar 1963       )

18.2.1963

Gedichte: Man kann sie nicht einfach weiterschreiben, auch wenn man Einfälle hat. Es muss noch etwas anderes dazukommen: Die Notwendigkeit, jetzt gerade eben dies zu sagen und es in und mit einem Gedicht zu sagen. Es reicht nicht aus, zu wissen, dass man ein Gedicht schreiben kann. Im Gegenteil, vielleicht wäre es besser, wenn ich fürchten würde, kein Gedicht schreiben zu können. Wenn ich ängstlich probieren und kämpfen und immer // wieder neu anfangen müsste. Im Augenblick wenigstens hat das Gedichteschreiben die Spannung für mich verloren. Ich wiederhole mich vielleicht nicht plump, ich beherrsche das Metier gut genug, um das zu vermeiden. Aber auch diese Tricks sind bereits Klischee. Nicht so sehr die Worte, die Motive, die Bilder, die Rhythmen sind immer dieselben als die Gefühls- und Gedankenbewegungen, denen die Gedichte // entspringen. Zuerst muss ich mich selbst ändern, daraus folgt alles andere von selber. Und dann muss ich die Poesie sich ausruhen, gleichsam neue Kraft schöpfen lassen, ich muss Prosa schreiben, viel, sehr viel Prosa. Bisher hält man mich für einen Lyriker, die Leute sollen sehen, dass ich ein noch besserer Prosaist bin.

Sonntag, 04 November 1979       )

4.11.79

Reduktionen

Was sich in den alten Gedichten, deren letzte ich vor 16 Jahren veröffentlichte, allmählich an Weltstoff angesammelt hatte, so dass sie schliesslich daran erstickten, das ist hier alles wieder abgeräumt. Nichts mehr von dem ganzen Zivilisationsmobiliar. Und nichts mehr auch von der Historie. Nur noch die paar Bilder, die seit jeher in mir lagen und jetzt in diesem poetischen Sommer, nach der glücklichen Vollendung einer grossen und schweren Arbeit wieder heraufdrangen als Musik. Und auch das ganze kunstvolle // grammatikalische Skelett der alten Gedichte ist nicht mehr da. Eigentlich von Grundformen nur¿ je Abwandlungen. Eine Musik der einfachen Worte, der schwebenden Assoziationen.

Sonntag, 09 Dezember 1979       )

Gedächtnisse

Die Schatten der Gedächtnisse fallen
durch die Luken hinab und
fallen durch die Gitter
auf das Pflaster des Kellers.

05 Da liegen sie im Dunkeln
unkenntlich. Von den
Gedächtnissen bleiben
auch die Schatten nicht mehr. Im Dunkeln
sind selbst die Schatten erloschen.
10 Schattengedächtnis der
Gedächtnisse, unten auf dem
Kellerpflaster zerschmettert,
vom Dunkel des Pflasters // 004
aufgesogen liegt der
15 Schatten des Schattengedächtnisses
der Gedächtnisse
unkenntlich, erloschen.

Montag, 04 August 1980       )

4.8.80

Umschlagtext zu den „Reduktionen“: Diese Gedichte sind Reduktionen, sie halten von den Gegenständen der Welt, die dem Autor jemals begegneten, nur den entscheidenden Eindruck fest, die Vision, den Klang einer Begegnung, die ihn wie ein Blitz traf. Mythos, Geschichte, Natur sind zurückgeführt auf ein paar Grundfiguren. Konzentriert und allen Beiwerks entledigt, sind sie zuweilen in ihrer Knappheit Rätselsprüchen ähnlich.

Freitag, 04 Juni 1982       )

4.6.1982

Eine Sprache, die man nicht sprechen mag, soll man auch nicht schreiben. Und umgekehrt. Eine Schriftsprache, // die ihre Normfunktion für die gesprochene Sprache nicht oder nicht mehr hat, also keine Hochsprache ist, soll man aufgeben. Die Schweiz versuchte einen früher allgemeinen Übergangszustand zu petrifizieren: Gesprochene Sprache hier, geschriebene Sprache dort. Das ging aber nur so lange, als es eine eindeutige Hierarchie gab. Die Schriftsprache setzte die Norm, der man sich in der gesprochenen Sprache, wenn auch langsam und unvollkommen, immer mehr anglich. Ein Prozess, der nie vollendet sein kann, aber der notwendig ist, wenn nicht ein schizophrener Zustand sich herausbilden // soll. Wie wir ihn in der Schweiz nun nachgerade haben: Die Schweizer glauben, zwei verschiedene Sprachen zu haben und diese fein säuberlich voneinander getrennt benützen zu müssen. Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, dass man die gesprochene Sprache der geschriebenen vorzieht. Der einzig vernünftige nächste Schritt wäre, dass man die gesprochene Sprache auch schriebe und die bisherige Schriftsprache, da sie in der Schweiz offenbar tot ist, ganz aufgäbe. 

[…]

Donnerstag, 09 Dezember 1982       )

9.12.1982

Die Risiken, die der Künstler auf sich nehmen muss, wenn er wirklich ein Künstler ist, seine Kunst weder als Broterwerb noch als Hobby, sondern unbedingt und ungeteilt ausübt, sind diese: 1.) Dass er als Nichtstuer und Faulenzer verachtet wird, 2.) dass man ihn einen Parasiten schimpft, 3.) dass er wirklich auch ein „Parasit“ ist, insofern er, um seiner eigenen Arbeit willen, vom Besitz und der Arbeit anderer leben muss, 4.) // dass er über lange Strecken hin, oder sogar während seines ganzen Lebens bis zu seinem Tode, keinen Erfolg hat und darum immer wieder von Selbstzweifeln gequält wird, 5.) dass er aufgrund all dieser Umstände paranoisch wird, Verachtung und Nichtanerkennung auch dort wittert, wo gar kein Anlass dazu ist, dass er sich isoliert von den Menschen und am Ende vereinsamt.

02 Aus all dem ergibt sich, dass Anerkennung und finanzieller Erfolg für den Künstler nicht // weniger wichtig sind als für alle anderen Leute auch, jedenfalls beinahe: Im Unterschied zu diesen aber kann er sich, und das ist einer der Punkte, wo die Echtheit seines Anspruchs sich erweist, nicht einfach nach den Umständen richten und, falls er mit der einen Sache keinen Ruhm und kein Geld erlangt, kurzerhand eine andere anfangen. Der Kaufmann, der Fabrikant verlegt sich, wenn er mit der einen Ware nicht ankommt, auf eine andere; man // erwartet von ihm mit Recht, dass er das tut, denn der Zweck seiner Tätigkeit ist es Geld zu verdienen. Der Künstler indessen tut seine Arbeit um ihrer selbst willen, „L’art pour l’art“, und wenn er auch immer hofft, Geld zu verdienen und Erfolg zu haben damit, am Ende, wird ihn das nie bestimmen, weil er, wenn er tatsächlich ein Künstler ist, ein legitimer Nachfolger der Priester, Propheten und Magier des religiösen Zeitalters, // unter einem Zwang steht, dem er sich nicht entziehen kann, ohne sich selbst zu verraten.

[…]

Sonntag, 06 Februar 1983       )

6.2.1983

Der Titel des Buches „Neue Gedichte – teils in Hochdeutsch teils in Luzerner Alemannisch – mit einigen Bemerkungen zur sprachlichen Situation der deutschen Schweiz". – Eine Begründung steht an zum beabsichtigten Austritt aus dem <deutschen> Schriftstellerverband. Schon lange hatte ich ihn mir vorgenommen, aber ihn aus Ängstlichkeit – ich fürchtete Feindschaften, Intrigen, ökonomische Nachteile – nicht gewagt. Jetzt, da so viele bekannte Leute ausgetreten sind, habe ich solche Befürchtungen weniger, dafür eine neue: mich lächerlich zu machen, unter Niveau zu gehen, indem ich den Eindruck erwecke, ich liefe den anderen nach. Einen Vorwand gäbe mir im Moment // eine Umfrage des Verbandes, wie man zu ihm stehe. Sicher ist, dass ich die permanente ideologische Indoktrination und Inanspruchnahme für politische Ziele gründlich satt habe. Ich kämpfe für niemandes Befreiung, fühle mich keiner Klasse oder Gruppe verpflichtet, der „Fortschritt“ der Menschheit, im Sinn der Linken zumindest, ist nicht mein Anliegen. Als Dichter jedenfalls bin ich weder für noch gegen jemanden und erlaube niemandem, in meinem Namen politisch Stellung zu beziehen und Erklärungen abzugeben. Und dann hasse ich den kumpelhaften Umgangston, der in diesem Verein herrscht. Ich habe keine „Kollegen“ und bin niemandes „Kollege“.

Donnerstag, 07 April 1983       )

7.4.1983

Wenn ich wollte, könnte ich gegenwärtig täglich Gedichte schreiben; aber das hätte nur therapeutischen Wert, würde mich wahrscheinlich etwas aufmuntern, erheitern, doch wäre es nur Serienproduktion, ohne „innovatorischen“ Anspruch. // Ich muss mich mit diesem Zustand der Verstimmung nun einfach abfinden, ihn nicht weiter dramatisieren. […]

Dienstag, 26 April 1983       )

26.4.1983

Meine Vorahnung trog nicht: Schon gestern Abend eröffnete mir Erb am Telefon, seine finanzielle Lage erlaube ihm nicht, mein neues Buch noch im // Herbst herauszubringen. Er hoffe, bis nächsten Frühling die Mittel dafür aufzutreiben. – Was soll ich tun? Nunmehr liegen bei Erb drei Bücher: „Essays“, „Vor Anker“ und „Abgewandt Zugewandt“ zum Druck bereit. Falls er, wie er hofft, ab 1984 alle zwei Jahre ein Buch herausbringt, geht es bis 1988, dass alle drei gedruckt sind. Sollte ich in der Zwischenzeit, sagen wir bis 86, ein weiteres Buch beenden, ginge es dann u. U. bis 1990, dass auch dieses endlich gedruckt würde. Wenn er, wie ich nach meinen bisherigen Erfahrungen fürchten muss, das trotz allen Anstrengungen nicht schafft, dauert es noch länger. Ich bin nun ja wirklich kein Viel- und schon gar nicht ein Schnellschreiber; aber was mache ich mit einem Verlag, // der nicht einmal oder höchstens imstande ist, alle zwei Jahre ein Buch von mir herauszubringen? Ich bin kein Journalist, der sich in Zeitungen, Zeitschriften, im Rundfunk äussert, oder doch nur sehr nebenher, meine Form der Äusserung sind die Bücher. Wenn diese nicht erscheinen, habe ich kein Recht, mich als Schriftsteller zu bezeichnen – ich bin dann nur noch ein literarisch dilettierender Privatier. Es geht hier um meine Selbstachtung.

Samstag, 28 Mai 1983       )

28.5.1983

„Liebe Barbara Bondy, ich danke Ihnen für Ihren Brief und entnehme ihm zu meiner Betrübnis, dass die  SZ zum ersten Mal, seit ich ihr, selten genug, Lyrik zuschicke, für kein einziges der angebotenen Gedichte Verwendung hat. Das stimmt mich nachdenklich. Ich hoffe, sie empfinden es nicht als Belästigung, wenn ich es nochmals versuche // und Ihnen eine Anzahl weiterer Stücke aus dem Manuskript unterbreite. Vielleicht findet sich dabei doch noch das „Passende“. Mit freundlichen Grüssen …“

02 Dass ich immer noch solche Briefe schreiben, mich den Leuten anbieten, mich ihnen aufdrängen muss. Aber das gehört wohl zum Geschäft, man muss da ganz kalt und unerbittlich sein, darf nie das Gefühl der Gekränktheit aufkommen lassen. Wichtig ist, dass ich meine Arbeiten so weit wie möglich verbreite. Ich schreibe schliesslich nicht für mich, sondern für die Welt: ein Gedicht ist erst fertig, wenn es beim Hörer, beim Leser angekommen, in ihn eingegangen ist. –

03 „Sehr geehrter Herr Görtz, es freut mich ebenso sehr, dass sie meine Gedichte  // mit Interesse gelesen haben, wie es mich betrübt, Sie mit keinem einzigen  davon in dem Masse, das einen Abdruck in der FAZ rechtfertigen würde, überzeugt zu haben. Ich hoffe, Sie empfinden es nicht als Belästigung, wenn ich Ihnen noch einige weitere Stücke aus dem Manuskript unterbreite: vielleicht findet sich doch noch das eine oder andere dabei, das Ihren Ansprüchen genügt.
Es scheint mir angebracht, dass ich Ihnen meine, vielleicht befremdliche Hartnäckigkeit kurz erkläre: Die FAZ ist nun einmal das für die literarischen Entwicklungen im deutschen Sprachraum repräsentative Organ. Kein Autor, der Anspruch darauf erhebt, von den Zeitgenossen zur Kenntnis genommen zu werden, kommt um diese Tatsache herum. Wenn ich Ihnen also immer // wieder Muster aus meinen neuen Arbeiten zuschicke und mich in dieser Übung auch durch regelmässige Ablehnung nicht beirren lasse, hat das seinen Grund einfach in meiner Meinung von der Bedeutung der FAZ und natürlich auch – das bitte ich Sie, mir nachzusehen – in meiner Meinung vom Wert meiner Arbeit. Mit freundlichen Grüssen …“

04 Ich habe die beiden Briefe abgeschickt, der FAZ die Gedichte dazu, die mir die SZ zurückgeschickt hatte, und umgekehrt. Ich glaube zwar nicht, dass ich Erfolg habe, denn warum sollten die Leute die einen Gedichte mehr mögen als die andern? Es gibt da keine wesentlichen Qualitätsunterschiede. Allenfalls im Ton, in der Thematik, das natürlich. Aber die Serien, die ich den beiden Zeitungen gegeben hatte, waren, // soweit ich sehe, gut gemischt.

05 Immerhin, das Experiment macht mir Spass, die Leute in Verlegenheit zu bringen – sie machen es schliesslich mit mir nicht anders. So leicht wimmeln sie mich nicht ab, die Propagatoren von Wolfgang Bächler, Günter Kuhnert, Sarah Kirsch. So gut wie die bin ich auch, um von Ulla Hahn nicht zu reden.

Sonntag, 05 Juni 1983       )

5.6.1983 München

In meinem Essay über Dialekt und Hochsprache in der Schweiz verhalte ich mich entschieden opportunistisch: er ist so geschrieben, dass, wenn der Dialekt in der Schweiz wirklich zur Hoch- und Schriftsprache // werden sollte, ich mich dann als Prodromos und (Mit)Urheber dieser Idee und Entwicklung rühmen kann – wenn sie aber verworfen wird und anders verläuft, das Hochdeutsche sich am Ende doch behauptet und wieder an Boden gewinnt, dann bin ich der Warner gewesen, der seinen Schweizern die Situation bewusst gemacht, sie aufgerüttelt und aus der Gefahr gerettet hat.

02 Aber was will ich denn nun wirklich? Für wahrscheinlich halte ich, dass auf längere Dauer, bis in fünfzig, hundert Jahren der Dialekt sich durchsetzt und ganz zur Hoch- u. Schriftsprache wird. Aber meinem Geschmack, meiner Neigung entspricht das Gegenteil: dass das Hochdeutsche // aufholt und aus einer blossen Schriftsprache auch wieder zur Kommunikations- und sogar zur normalen Umgangssprache wird. […]

Mittwoch, 12 Oktober 1983       )

12.10.1983

Beginn der Frankfurter Buchmesse. Wut und Erbitterung darüber, dass mein neues Buch „Abgewandt Zugewandt“ nicht erschienen ist, dass nunmehr drei Bücher ungedruckt bei Erb liegen, obwohl er für alle drei versprochen hat, sie zu bringen, die „Essays“ sind sogar schon dreieinhalb Jahre unter Vertrag. – Ein Autor, dessen Bücher nicht gedruckt werden, ist kein Autor, ist gar nicht vorhanden, allenfalls eine // schrullige Erscheinung; er hat den Beruf verfehlt.

[…]

Freitag, 23 Dezember 1983       )

23.12.83

Nach drei Jahren eines, relativen, stetigen Erfolges bedeutet dieses Jahr 1983 einen jähen und völlig unerwarteten Absturz: Durch die Weigerung meines Verlegers „Abgewandt Zugewandt“ herauszubringen, durch // seine Inaktivität, was die drei anderen geplanten Veröffentlichungen angeht, bin ich aus dem literarischen Leben praktisch verschwunden. Die Vorabdrucke aus „Abgewandt Zugewandt“, der in Rom gedrehte Film über „Das Ei“ sind da ein geringer Trost, im Gegenteil: die folgenlosen Ankündigungen in der Presse, die wegen des Ausbleiben des Buches abgesagte Ausstrahlung des Films bedrücken mich zusätzlich, steigern meine Erbitterung. Ich fühle mich vor mir selbst und vor der Öffentlichkeit blamiert und lächerlich gemacht.

Sonntag, 05 Mai 1985       )

5.5.85

Zwei Tage in St. Gerold in Vorarlberg: Tagung österreichischer und schweizerischer Autoren. Helen Keller, Erica Pedretti, Eisendle. Ich hatte, wie schon in Luzern, vor allem Erfolg mit den Dialektgedichten. Der Propst – St. Gerold ist eine Aussenbesitzung von Einsiedeln – sagte mir, dass er den Unterschied zwischen dem „Kopfton“ der hochdeutschen und dem „Herzton“ der alemannischen Gedichte stark empfunden habe. Ich erwiderte ihm, dass Gottfried Keller, sollte das zutreffen, seine Herzgedichte wohl gar nie geschrieben habe, weil man zu seiner Zeit und auf seiner Ebene // nur hochdeutsch schrieb. Schade?

02 Gleichgültigkeit gegen die Meinungen der Menschen einüben. Unbedenklichkeit, Konsequenz, Konzentration immer stärker auf das, worauf es mir ankommt. Die archetypischen Bilder, der Rhythmus, die Musik auch der Prosasprache. Mich nie mit einer mittelmässigen, zweitrangigen Sache begnügen. Das Unzulängliche, allenfalls, eine Zeit so stehen lassen, weil ich noch nicht weiter komme.

Dienstag, 07 Mai 1985       )

7.5.85

Sollte es sich tatsächlich so verhalten, dass ein Schweizer Autor erst in seinen Dialektdichtungen seine volle Sprachkraft entfaltet, wäre das eine Bestätigung meiner Kritik am Schweizer Erziehungssystem: Dass es nämlich falsch ist, Kindern als erste und einzige Sprache in den fünf, sechs ersten Lebensjahren einen Dialekt beizubringen und nachher eine Hochsprache darüberzustülpen. Statt die Hochsprache, wenn man sie schon will, gleich von Anfang an im Umgang mit dem Kind zu verwenden. Was in den ersten Lebensjahren versäumt wurde, kann nie mehr nachgeholt // werden. Eine erst in der Schule erlernte Sprache bleibt immer eine „Kopfsprache“, wird den vollen „Herzton“ einer im frühkindlichen Alter osmotisch erworbenen Muttersprache niemals gewinnen. Meist wird das nicht bewusst und nicht sichtbar, weil der Vergleich fehlt, weil sich, auch heute noch, die wenigsten Schweizer, und schon gar nicht die Schweizer Dichter, des Dialekts für den schriftlichen Ausdruck bedienen.

Dienstag, 15 Mai 1990       )

15.5.90

Die NZZ brachte einen Artikel über Märchenmotive in der heutigen Lyrik. Darin erschien auch mein Gedicht // über das Mädchen mit dem nächtlichen Löwen. Als Beispiel für die Vergeblichkeit des Erweckungskusses. Dieser kleine Hinweis hob meine Stimmung sofort. Und ich musste über mich lachen, über meinen Durst nach Anerkennung, wie wenig schon genügt, um mich glücklich zu machen. […]

Sonntag, 24 Juni 1990       )

24.6.90

Idee für einen Roman: Expedition zur Suche nach dem Haupt Johannes des Täufers.

[…]

Mittwoch, 30 Januar 1991       )

30.1.91

Gedichtzyklus: „Der Basar“ oder „Der Soukh“: Die gewürzduftenden Schluchten, Jerusalem, die zur Grabeskirche führen und von da zur Kirche der Dormitio. Der Herr, mit den Engeln, tausend Engeln, steigt herab und füllt, mit den Engeln, den Raum und nimmt die weissgoldene Seele aus der Brust seiner Mutter und trägt sie weg über die duftenden, lärmenden Schluchten und über sein Grabhaus hinweg zu den Bergen, den Höhlen, woraus die Anachoreten hervorkommen und schauen und lauschen dem Gesang der Engel: Ich habe dich, meine Braut, meine Schwester, meine Mutter gefunden //und trage dich heim in die Rose. Ihr Duft, vereint mit allen Gerüchen der Berge, Gebirge, den Haufen der Spezereien, betäubt, eine fremde Erfahrung, die Sinne der Händler, Magier, Lehrer, Metzger, Juweliere, Schneider und Schuster. Die nicht wissen, woher das kommt, was das ist. Aber es ist in ihnen, steigt heraus aus ihrem eigenen Herzen. Ein ungeheurer, heiliger Wahnsinn.

Sonntag, 03 Februar 1991       )

3.2.91

Mein „Realismus“, wie Chr. E. das nennt: Mein Gedicht, womit ich meine Arbeit als Ganzes bezeichne, besteht und entsteht aus Worten. Eines zieht das andere nach sich. Es sind da Bilder, Gedanken, ohne Zweifel. Aber sie stützen sich auf die Worte, die mich verführen und weiterführen, Klang und Rhythmus der // Worte und Sätze sind das Netz, die Armatur, welche alles, schwingend, enthält und trägt. Es wäre da die Gefahr der leeren Rhetorik, wenn es nicht die Leidenschaft der Gestaltung gäbe, den Hauch, der durch alles hindurchweht. Der Zwang zum Ausdruck, der alles vorantreibt. Ein Spieler, ein Jongleur, so sehe ich mich als Autor, den die Worte, die Satzströme leiten. Die Bilder, Gestalten, Gedanken kommen dann als Material herbei, ohne geht es ja nicht. Aber am Ende kommt es darauf nicht an.

02 Abver natürlich stimmt das alles nur halb. Ich bin nicht imstande, das Ganze, das Eine und das Andere, gleichzeitig zu sagen. Ein anderes Mal die andere Hälfte. Es geht mir damit so wie dem heiligen Augustinus mit der Trinität am Meer. Das Ganze ist, auf einmal, nicht zu fassen. 

03 Auszuführen: Freunde, Förderer, // Kunden als Problem des Puritaners.

Mittwoch, 10 April 1991       )

10.4.91

Die Sprache trägt. Die Rhythmen und Bilder zeugen neue Rhythmen und Bilder, oft weiss ich selbst nicht, ich kann oft nicht erklären, warum gerade dies aus dem anderen folgt, der Zusammenhang ist mir zwar evident und zwingend, aber ich kann nicht sagen, warum. Es ist mir alles klar, aber nicht „logisch“ in dem Sinn, dass ich den Grund dafür benennen könnte. Ich weiss es in meiner Seele, in meinem Gefühl, aber nicht in meinem Kopf. Ein lyrisches Prinzip gleichsam, das ich walten lasse, wenn es nur im Ganzen stimmt, die Sache, die ich zeigen will, zur Anschauung bringt. Die Wahrheit // wohnt in meinem Wesen, in den Eingeweiden, im Leib, in der schreibenden Hand. Der Klang ist da, die Vision. Ein gefährliches Verfahren, weil am Ende alles falsch sein kann, ohne dass ich es merke. Aber ich habe mich meinem Dämon übergeben, der mich leitet. Ich greife zwar, ordnend, ein mit dem Verstand, doch nur sehr behutsam, um ja nicht das in den Worten, den Bildern, der Satzmelodie Verborgene [nicht] zu stören oder gar zu zerstören: „Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit“. Oder wie Novalis es sagt: „Wenn nicht // mehr Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen, dann fliegt vor einem geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort“.

02 Aber unheimlich ist dies ohne Zweifel, ein Entlangtasten am Rand des Kraters. Hinein in die glühende Masse zu fallen, nach innen, oder hinaus in die tote graue Asche, nach aussen. Gibt es da eine Wahl?

03 Platen: Leer, akademisch, mit aus dem Kopf herbeigeholten, aus dem literarischen Fundus hervorgezogenen Gedanken und Bildern, theatralisch kostümierten Gefühlen. Es ist da wohl ein Drang zum Ausdruck, aber ohne die Glut, die von innen und unten her, von zuunterst, // alles zusammenzuschmelzen vermöchte. Er bleibt, ganz undichterisch, immer vernünftig. Verstand wohl, aber kein Pneuma.

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