Manuskripte divers

Inhalt: Manuskripte aus verschiedenen Dossiers außerhalb der normalen archivalischen Zuordnung

Wiedergabe: Edierte Texte

Mittwoch, 15 November 1950       )

Wie ein Vogel geht die Wolke …* (A)

Wie ein Vogel geht die Wolke und enteilt der reinen verfolgenden Bläue. Da drängt sich das Rot des Abends dazwischen, Glanz, der die Schwärze der Wolke verhüllt.

02 Wenn der Prinz mit dem Pferd aus Ebenholz sich aufhebt und kommt und vor dem Roten noch reitet, dann ist das Blaue verzaubert und vergisst die Verfolgung, trachtet nur noch, den Reiter zu halten, zu ziehn in die reine Wollust der Klarheit, der immer grösseren am Abend, der ganz grossen, wenn alles schwand und grün ist, am Rand aus eingewalztem Gold der Himmel:

03 Darin schwebt das Pferd aus Ebenholz, wiegt in der Glut und jauchzt der Reiter, reitet hinein // 01v in das Bett der sinkend gekühlten Sonne hinter dem goldenen Vorhang.

04 Einsam bleibt zurück mit seinen geringen Lichtern (spärlichen Lichtern) der Palast und auf der Zinne die Braut, nimmer getröstet von den Sternen, die heraufkommen nun einer nach dem andern.

05 Sie geleiten den Mond, silbernen Jüngling, der herüberkommt, auch er verlassen, entflohn dem jenseitigen Reich. Und er kommt und nimmt die Verschmähte, fährt sie von der Insel hinweg zum Kuss, zur Hochzeit über die Wogen des Ozeans, im Boot, das keiner findet, in die Grotte muschelglänzenden, unsagbaren Glücks.

Donnerstag, 16 November 1950       )

Wie ein Wild geht die Wolke …* (B)

Wie ein Wild geht die Wolke
und enteilt dem verfolgenden Blau.
Und hüllt ihre Schwärze in Rot des Abends.
Wenn aber der Prinz auf dem ebenhölzernen Pferd
05 sich aufhebt und vor der Röte reitet,
dann ist verzaubert das Blau,
vergisst die Verfolgung, trachtet nur,
den Reiter zu halten, zu ziehn
in die reine Wollust der Klarheit,
10 der immer grössern am Abend,
der ganz grossen: wenn alles schwand
und grün ist gen Westen
und am Rand aus eingewalztem Gold der Himmel: //02v
Drin schwebt das Pferd aus Ebenholz , wiegt in der
15 Glut und jauchzt der Reiter,
weiter hinein in das Bett
der sinkend gekühlten Sonne
hinter dem goldenen Vorhang.
Allein bleibt mit geringen Lichtern
20 der Palast und auf der Zinne die Braut,
ungetröstet von den Sternen, die nun
heraufkommen einer nach dem andern,
geleitend den silbernen Jüngling, den Mond,
auch er verlassen, entflohn dem andern Reich.
25 Er kommt und nimmt die Verschmähte,
fährt sie hinweg zum Kuss, zur Hochzeit
über des grünen Ozeans Wogen,
dorthin, wo keiner sie findet: in die
Grotte aus Kuss und Umarmung und
stillschweigendem Glück.

Dienstag, 21 November 1950       )

Wie ein Wild enteilt die Wolke …* (C)

Wie ein Wild enteilt die Wolke dem verfolgenden Blau
bis ihre Schwärze sich hüllt
in Röte des Abends und das Blau
vergisst die Verfolgung, verzaubert im Anblick des Prinzen,
05 der auf dem ebenhölzernen Pferd
sich aufhebt und vor der Röte noch reitet,
und trachtet, den Reiter zu halten, zu ziehn
in die Wollust der am Abend grösseren Klarheit,
der ganz grossen: wenn alles schwand
10 ins Grüne gen Westen und in den Rand
des Himmels aus eingewalztem Golde.
Drin wiegt das Pferd und jauchzt
der Reiter hinein in das Bett der sinkend gekühlten
Sonne hinter dem goldenen Vorhang, //03v
15 davor allein bleibt mit geringen Lichtern
der Palast und auf der Zinne die Braut,
ungetröstet von den Sternen, die nun
heraufkommen einer nach dem andern,
geleitend den silbernen Jüngling Mond,
20 auch er verlassen, entflohn dem anderen Reich,
nimmt die Verschmähte und fährt sie hinweg
über des grünen Ozeans Wogen dorthin, wo
keiner sie findet: in die unterseeische Grotte von
zitterndem Licht erfülllt aus Kuss und
25 Umarmung.

Montag, 03 Januar 1955       )

Schweizerische Satire (A)

Die Erhaltung der Unabhängigkeit des Vaterlandes ist das höchste
Ziel und die höchste Pflicht der Behörden, sie zu verteidigen gegen
alle Gefahren, die von aussen ihr drohen: Denn der Feind ist das 
Ausland.
Früher war es noch einfach, als es Heere gab zum Bekämpfen,
05 die Österreicher zum Beispiel, gepanzerte Ritter.
Heute aber ist die Gefahr viel grösser, weil der Feind
durch tausend Ritzen eindringt in unser verwahrtes, geschlossnes,
wohl gereinigtes Haus: Der Feind ist das Ausland! 
Er hat seine Waffen seit jenen heroischen Zeiten
10 geschärft und kunstvoll verfeinert.
Und als er vor Jahrzehnten mit seinen Büchern
und mit der giftigen Flut seiner Zeitschriften
schlüpfriges und undemokratisches Gedankengut trug in die alpen-
unschuldige Seele unserer Jugend, bauten wir geschickt eine
Schanze
mit unsern eignen währschaften Büchern, mit unsern gletscherbachhellen
Reimen:
15 So verloren die staatsgefährlichen Reden von der germanischen
Rasse, gottlob, bald den Atem // 02
im laut geläuteten Lob des runden Sennenschädels,
im urhaften Lallen der keltisch-alemannischen Idiome.
So wurde die Fahne auf der Zinne der Alpen gerettet,
das Hirtenhemd rein bewahrt von den Schmutzspritzern des Feindes.
20 Denn der Feind ist das Ausland!
Nicht ruhig lässt er uns schlafen nur eine Nacht:
Wir haben an die Stelle seines Papiers das unsre gesetzt
in den Kiosken, wir haben seine Rundfunkprogramme
übertönt mit unseren eignen. Und seine Waren
25wurden, dank der Schweizerwoche, von unseren aufrechten Bürgern
nicht mehr gekauft. Und schon heckt er eine neue Gewalttat aus:
er überstrahlt mit seinen Fernsehsendern unsere wehrlosen Städte.
Mit seinen Reimen, seinen Songs, seinen Sketschs dringt er ein
in unsere Häuser,
schlimmer noch: in die lauteren Schweizerherzen der Kinder.

30 Mit seinen fremden Visagen will er verdrängen die reine Essenz
des Jahrtausends: das schweizerische Antlitz, 
mit seiner herrschsüchtigen, künstlichen Sprache schon wieder,
schon wieder
(haben wir sie nicht eben endgültig vertrieben?) den traulichen
Urlaut der Alpen.
Unser Nationaldrama zwar schrieb uns der Schwabe Schiller, und auch
Keller und Meyer, die Schweizer Dichter par excellence, bedienten sich
seiner Sprache:
35 man wusste es damals nicht besser:
Der Helvetismus war damals,
wie immer, 
zwar schon im Gemüt und im Geblüt der Schweizer. Aber zur
bewussten Weltanschauung, zur Ideologie, die dem helvetischen
Menschen allein und einzig entspricht, // 03
vollendete er sich erst in dieser Epoche: So gründen wir denn heute
eine Kommission von vater<lands>liebenden Männern,
dass sie einen Plan aufstellen, würdig der Helden von Morgarten und Sempach, 
40 mit unsern Songs und Sketschs und Reimen die seichten Fernsehprogramme
des Feinds zu zermalmen
(Denn der Feind ist das Ausland.), wie mit Felsblöcken am Morgarten
vor kurzem;
seine Speere ihm zu entreissen und, umgedreht, alpin gereinigt und in
helvetische Lautung gewendet 
ihm zurückzusenden, wie Winkelried es tat bei Sempach vor kurzem.
Lasst uns eine Mauer bauen, nein, Stacheldrahtrollen,
elektrisch geladne, haushoch legen um unser Land, 
45 mit einigen Lücken freilich für den Fremdenverkehr. Lasst uns mit
Radarstrahlen fremden Rundfunk, Bildfunk (schweizerisch: Television),
fremde Gedanken überhaupt abwehren (vor allem aus der nächsten
Umgebung,) von der Ewigen¿ Schweiz.
Wir haben gekämpft bei Morgarten, Sempach, bei Dornach und Marignano, 
das ist genug. Wir haben genug von der Geschichte, wir wollen jetzt endlich
50 unsere Rente (schweizerisch: Pension) friedlich verzehren. Unsere Geschichte
war gross und anstrengend genug: man denke an Tell!
Lasst uns austreten aus der Geschichte, aus der Welt überhaupt:
wir schicken ihr Liebesgaben und in den Kriegen – die sind eben
unvermeidlich – Rotkreuzkommissionen. // 04
Das ist genug, übergenug. Sonst aber „da wo der Alpenkreis dich nicht
zu schützen weiss, Wall dir von Gott,
35 stehn wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich; Heil dir Helvetia,

hast noch der Söhne ja, wie sie St. Jakob sah,
Schmerz uns ein Spott.“

Sonntag, 27 Februar 1955       )

Schweizerische Satire (B)

Die Erhaltung der Unabhängigkeit des Vaterlandes ist das höchste
Ziel und die höchste Pflicht der Behörden, sie zu verteidigen gegen
alle Gefahren, die von aussen ihr drohen:
Denn der Feind ist der Nachbar.

05 Früher war es noch einfach, als es Heere gab zum Bekämpfen,
die Österreicher, gepanzerte Ritter, zum Beispiel.
Heute aber ist es viel schwieriger, weil der
Feind durch tausend Ritzen eindringt in unser verwahrtes,
geschlossnes, wohl gereinigtes Haus:
10 Der Feind ist der Nachbar.

Er hat seine Waffen seit jenen heroischen Zeiten
geschärft und kunstvoll verfeinert.
Und als er vor Jahrzehnten mit Büchern und mit
seiner Zeitschriften Giftflut trug schlüpfriges, ja
15 undemokratisches Gedankengut in die
alpenunschuldige Seele unserer Jugend,
da bauten wir geschickt eine Schanze mit unsern 
eigenen währschaften Büchern, gletscherbachlautern Reimen.
So verloren die staatsgefährlichen Reden von der germanischen Rasse, 
20 gottlob, bald den Atem im laut geläuteten Lob des
runden Sennenschädels und in der keltisch-alemannischen
Idiome urhaftem Lallen. So wurde die Fahne, // 02
„wo Berge sich erheben“, auf der Zinne der Alpen gerettet,
Tells Hemd rein bewahrt von den Schmutzspritzern des Feindes: 
25 Denn der Feind ist der Nachbar!

Nicht ruhig lässt er uns schlafen nur eine Nacht. 
Wir haben an die Stelle seines Papiers – mit amerikanischer Hilfe –
das unsre gelegt; in die Kioske gelegt, wir haben
seinen Rundfunk übertönt mit dem unsren. Und seine
30 Waren, dank der Schweizerwoche, wurden von unsern Bürgern
– „stehn wir den Felsen gleich“  – nicht mehr gekauft. Und schon hat er
einen neuen Anschlag ersonnen:  er überstrahlt
mit seinen Fernsehsendern unsere wehrlosen Städte.
Mit seinem Kabarett, seinem Zirkus dringt er in unsere Häuser,
35 dringt er in die alpenglühroten Abende unserer Kinder.
Mit seinen fremden Visagen verfälscht er die Essenz des Jahrtausends:
das schweizerische Antlitz,
mit seiner herrschsüchtigen, künstlichen Sprache schon wieder, schon wieder
(haben wir sie nicht eben endgültig eingesargt in die Bücher?) den traulichen
Nestlaut des Ländchens.
Unser Nationaldrama zwar schrieb uns der Schwabe Schiller, und auch
40 Keller und Meyer, die Schweizer Dichter par excellence, bedienten sich
seiner Sprache:
es blieb ihnen nichts anderes übrig. Der Helvetismus aber war damals wie immer
schon im Gemüt und im Geblüt der Schweizer. Aber zur // 03
bewussten Weltanschauung, zur Ideologie, die dem helvetischen Menschen
allein und einzig entspricht,
vollendete er sich erst in unserer Epoche: So gründen wir denn heute
eine Behörde,
45 eine Kommission aus vaterlandsliebenden Männern, dass sie einen Plan
aufstellen, würdig der Männer von Sempach und Morgarten, mit unserem
Kabarett und unserem Zirkus die seichten Fernsehprogramme des Feinds
zu zermalmen,
wie mit Felsblöcken am Morgarten vor kurzem; seine Speere ihm
zu entreissen und, umgedreht, mit helvetischer Spitze,
50 ihm zurückzusenden, wie Winkelried es tat bei Sempach vor kurzem:
Denn der Feind ist der Nachbar.

Lasst uns eine Mauer bauen und davor legen Stacheldrahtrollen,
elektrisch geladne, haushoch um unser Land, mit einigen
Lücken freilich für den Fremdenverkehr. Lasst uns mit
55 Radarstrahlen fremden Rundfunk, Bildfunk (schweizerisch: Television),
alles Fremde überhaupt abwehren von der sauber getünchten
Fassade der Schweiz. Wir haben gekämpft am Morgarten, bei Sempach, bei
Dornach und Marignano, // 04
das ist genug. Wir haben genug von der Geschichte, wir wollen jetzt endlich
unsere Rente (schweizerisch: Pension) friedlich verzehren. Unsre Geschichte
60 war gross und anstrengend genug: man denke an Tell!
Lasst uns austreten aus der Geschichte, aus der Welt überhaupt:
wir schicken ihr Liebesgaben und in den Kriegen – die sind eben nicht
zu vermeiden – Rotkreuzkommissionen.
Das ist mehr als genug. Sonst aber „da wo der Alpenkreis dich nicht
zu schützen weiss, 
Wall dir von Gott,
stehn wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich,
Schmerz uns ein Spott.“

Montag, 05 März 1956       )

Petersilie (A)

Die dem Braten scharf voraustrabenden Duftrosse
rufen dir, Schlemmer, die hochrufenden Rosse auf die Zunge zusammen.
Und du achtest nicht auf die kleine Leibjägerin Petersilie,
die einfach mitläuft und in altenglischer Zierschrift gedruckten
(auf Bütten gedruckten) Protokoll der Zeremonie
05 nicht einmal der Erwähnung wert wird befunden.

Mir ist sie dennoch am liebsten:
alle flinke Würze trägt sie eigenwillig in ihr zartes
und unaufdringlich eindringliches Gestältchen gesammelt,
und bietet, diskret, sich nicht dem Ersten und Besten an,
10 nein, nur dem Feinschmecker, der zärtlich zu tasten versteht
und auch das Nette an den Rändern mit fühlenden Nüstern sieht
und beachtet.

Empfange du nur den mächtigen Herrn Braten,
wenn er angekommen ist in der silbernen Kutsche:
nimm ihn, Schlemmer, auf mit schmatzenden Komplimenten.
15 Ich will indessen mit der kleinen Begleiterin schäkern:
sie kitzelt mich fein und raffiniert inständig
fädelt sie sich mir ein in all meine Sinne, //
erfreut mich, würzig scherzend, entzückt mich.

Was du nicht weisst und was dich,
20 Schlemmer, wundern würde,
weil du, mit dem grossen Kutschenherrn zu sehr beschäftigt,
die Diener nicht siehst und vergisst,
obwohl sie hingebender und zäher sind in der Liebe,
manchmal und ihre Würze schärfer die Eingeweide durchdringt
und länger nachbrennt und nachduftet.

Montag, 28 Mai 1956       )

Petersilie (B)

01 Die dem Braten scharf voraustrabenden Duftrosse rufen dir, Schlemmer, die hochrufende Speichelmenge auf der Zunge zusammen. Und du achtest nicht auf die kleine Leibjägerin Petersilie, die einfach mitläuft und im auf Bütten gedruckten Protokoll der Zeremonie nicht einmal der Erwähnung wert wird befunden.

02 Mir ist sie dennoch am liebsten: alle flinke Würze trägt sie, eigenwillig in ihr zartes und unaufdringlich eindringliches Gestältchen gesammelt, und bietet, diskret, sich nicht an dem Ersten und Besten, nein, nur dem Feinschmecker, der zärtlich zu tasten versteht und auch das Nette am Rand mit fühlenden Nüstern riecht und beachtet. –

03 Empfange du nur den mächtigen Herrn Braten, wenn er ankommt in der silbernen Kutsche; nimm ihn auf, Schlemmer, mit schmatzenden Komplimenten. Ich indessen will mit der kleinen Begleiterin schäkern:
sie kitzelt mich fein, raffiniert inständig fädelt sie sich mir ein in all meine Sinne, erfreut mich, witzig scherzend, entzückt mich:

04 Was du nicht weisst und was dich, Schlemmer, wundern würde, wenn du's vernähmest, weil du, mit dem grossen Kutschenherrn zu sehr beschäftigt, die Diener nicht siehst und vergisst, obwohl sie hingebender sind in der Liebe und ihre Würze schärfer die Eingeweide durchdringt und länger nachduftet und nachbrennt.

Sonntag, 28 Oktober 1956       )

Die Petersilie (C)

Die dem Braten scharf vorantrabenden Duftrosse rufen dir, Schlemmer, die hochrufende Speichelmenge auf der Zunge zusammen: Und so achtest du nicht auf die kleine Leibjägerin Petersilie, die einfach mitläuft und im auf Bütten gedruckten Protokoll der Zeremonie nicht einmal der Erwähnung wert wird befunden.

02 Mir ist sie dennoch am liebsten: alle flinke Würze trägt sie eigenwillig in ihr zart unaufdringlich eindringliches Gestältchen gesammelt und bietet, diskret, sich nicht an dem Ersten und Besten, nein, nur dem Feinschmecker, der zärtlich zu tasten versteht und auch das Nette am Rand mit fühlenden Nüstern riecht und beachtet. –

03 Empfange du nur den mächtigen Herrn Braten, wenn er ankommt in der silbernen Kutsche; nimm ihn auf, Schlemmer, mit schmatzenden Komplimenten. Ich indessen will mit der kleinen Begleiterin schäkern:
sie kitzelt mich fein, raffiniert inständig fädelt sie sich mir ein in all meine Sinne, entzückt mich mit witzigen Scherzen.

04 Was du nicht wissen kannst, Schlemmer, und was dich wundern würde, wenn du es wüsstest. Weil du, mit dem // grossen Kutschenherrn zu sehr beschäftigt, die Bedienung übersiehst und vergisst, obwohl sie hingebender ist in der Liebe und ihre Würze die Eingeweide schärfer durchdringt und länger nachduftet und nachbrennt.

Datiert: 1956       )

Die Petersilie (D)

Die dem Braten scharf vorantrabenden Duftrosse rufen dir, Schlemmer, die hochrufende Speichelmenge auf der Zunge zusammen; und so achtest du nicht auf die kleine Leibjägerin Petersilie, die einfach mitläuft und im auf Bütten gedruckten Protokoll der Zeremonie nicht einmal der Erwähnung wert wird befunden.

02 Mir ist sie dennoch am liebsten: alle flinke Würze trägt sie eigenwillig in ihr zart unaufdringlich eindringliches Gestältchen gesammelt und bietet, diskret, sich nicht an dem Ersten und Besten, nein, nur dem Feinschmecker, der zärtlich zu tasten versteht und auch das Hübsche am Rand mit fühlendem Gaumen riecht und beachtet.

03 Empfange du nur den mächtigen Herrn, wenn er ankommt in der silbernen Kutsche; nimm ihn auf, Schlemmer, mit schmatzenden Komplimenten. Ich indessen will mit der kleinen Begleiterin schäkern:
sie kitzelt mich fein, raffiniert inständig fädelt sie sich mir ein in all meine Sinne.

04 Was du nicht wissen kannst, Schlemmer, und was dich wundern würde, wenn du es wüsstest. Weil du, mit dem grossen Kutschenherrn zu sehr beschäftigt, die Bedienung ganz übersiehst und vergisst, obwohl sie hingebender ist in der Liebe und ihre Würze die Eingeweide schärfer durchdringt und länger nachduftet und nachbrennt.

Sonntag, 29 Juni 1958       )

Organisch und magnetisch (A)

Voltaire vergleicht wie Schmetterlinge die Sitten,
wie Käfer die Meinungen, die Regierungsformen der Menschen.
Er hält von allem Distanz und lächelt skeptisch.

Aber Greco wirft seine Figuren im Fieber hin,
05 ähnlich auch Van Gogh,
und sie kreisen schneller und schneller.
Es treibt sie die Drehung und Schwerkraft eines Gestirns,
das allmächtig herrscht und keinem auch nur ein winziges Biegen
des Fingers aus eigener Laune erlaubt.

10 Im Park sitzen die Schläfer in der Dämmerung auf
den Bänken und schnarchen.
Du läufst zwischen ihnen hindurch mit schlechtem Gewissen: //
wer trieb dich aus dem Haus,
wer zieht dich zum Fluss?
Es gibt nur eine Eisenbahnbrücke,
15 du musst sie auf den Schienen überqueren oder
auf dem Geländer.
Und vielleicht kommt gerade ein Zug,
oder die Wachen schiessen dich ab.

Voltaire ist tot;
und Greco und Van Gogh malen noch immer
20 ihre Jüngsten Gerichte und ihre provenzalischen Sonnen.
Dafür sitzen noch einen Sommer auf dem Huflattich die Käfer,
fliegen, sicher vor skeptischem Lächeln,
sicher vor Drehung und Schwerkraft irgendeines Gestirns,
die Schmetterlinge über die Wiesen:
25 noch diesen Sommer.

Donnerstag, 17 Juli 1958       )

Reflexion: Organisch und magnetisch (B)

Voltaire vergleicht die Schmetterlinge und Käfer.
Er lächelt skeptisch und hält von allem Distanz.

Aber Greco wirft seine Figuren im Fieber hin,
ähnlich auch Van Gogh,
05 und sie kreisen schneller und schneller.
Es treibt sie die Drehung und Schwerkraftt eines Gestirns,
das allmächtig herrscht und keinem auch nur ein winziges Biegen
des Fingers aus eigener Laune erlaubt.

Im Park sitzen die Schläfer in der Dämmerung auf den
Bänken und schnarchen.
10 Du läufst zwischen ihnen hindurch mit schlechtem Gewissen
Was trieb dich aus dem Haus,
was zieht dich über den Fluss?
Es gibt nur eine Eisenbahnbrücke,
du musst sie auf den Schienen passieren oder auf dem Geländer. //
15 Und vielleicht kommt gerade ein Zug,
oder die Wachen schiessen dich ab.

Voltaire ist tot,
und Greco und Van Gogh malen nicht mehr
ihre Jüngsten Gerichte und provenzalischen Sonnen.
20 Dafür sitzen noch einen Sommer auf dem Huflattich die Käfer,
schaukeln, sicher vor skeptischem Lächeln,
sicher vor Drehung und Zugkraft irgendeines Gestirns,
die Schmetterlinge über die Wiesen:
noch diesen Sommer.

Sonntag, 30 April 1944       )

Warum hast du den Pfad so schnell gefunden …*

Warum hast du den Pfad so schnell gefunden,
der heimlich her zu dieser Lichtung führt?
Schon hat dich, Dunklen, hell der Strahl berührt
des Mittags. Und vom Rausche überwunden

05 gehst tanzend du, in Zauberzwang gebunden.
Wer hätte die Gefährdung je gespürt,
bevor des Taumels Wut, zu hoch geschürt,
der Seele reines Antlitz ihm zerschunden?

Doch unser lang schon angefangner Reigen
10 soll gleichwohl dich in seine Wirbel ziehn,
ob du auch eines klar beschränkten Ganges

entbehren musst: es wächst im schönen Neigen
das stolzre Herz, und weiter weht dahin
der hohe Klang vereinigten Gesanges.

Meinem Bruder Thomas zum
zwanzigsten Geburtstag, 30. April 1944
Kuno.

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