Samstag, 21 Juni 1958

21.VI.1958

Nach einem Gespräch mit Curt Hohoff: Die spezifisch moderne Lyrik ist so wenig eine charakteristisch jugendliche Gattung der Poesie, wie die antike oder die barocke es war. Der noch weit verbreitete Glaube, es sei für einen Mann von 40 Jahren nicht mehr möglich oder sogar unwürdig, Gedichte zu schreiben, hat zur // Voraussetzung eine romantische Lehre und Auffassung der Dichtung (siehe Emil Staigers Poetik, Kapitel über Lyrik): Lyrik, im Gegensatz zur Prosa, zum Drama Äusserung eines spontanen, direkten, noch naiven Gefühls. Bewusstheit, geistige Formkraft, Distanzierung vom Stoff sind, nach dieser Auffassung, der Lyrik fremd, machen sie unmöglich. – Abgesehen davon, dass uns heute die Unterschiede der Gattungen gar nicht mehr so wichtig sind wie früheren Generationen, sind Namen // wie Goethe, Mörike (er freilich mit Vorbehalten), Meyer, Rilke, Benn Beweise genug gegen die These von der Jugendlichkeit der Lyrik. – Und was soll man erst zu Valéry, Mallarmé, Auden, Eliot sagen, deren Kunst zum wesentlichen Teil nur als die Kunst eines reifen Alters denkbar ist? Ich möchte, im Gegenteil, sogar sagen: nur das Wissen, die Skepsis, der Weltabstand, der schmerzlich-ironische, die elegisch-leidenschaftliche Erfahrung der Vergeblichkeit des reifen Lebensalters war und ist das // zu schaffen imstande, was wir als moderne Lyrik kennen. Eine Kunst, die freilich Horaz, Ovid und den Alexandrinern näher steht, auch den Dichtern des Barock, als dem 19. Jahrhundert. – Vielleicht entspricht die Lyrik als Kunstgattung unserer Zeit darum besonders, weil sich in ihr die künstlerischen Prinzipien und Methoden, die uns am nächsten liegen, am reinsten anwenden, am deutlichsten vorführen lassen. // Die kühne Assoziation, der „Bildsprung“ ist ein spezifisch lyrisches Verfahren, die Komposition der Gegensätze (der scheinbaren), alles, was man als Eigentümlichkeit moderner Dichtung kennt. Man macht das heute alles auch im Roman, im Drama. Aber in der Lyrik ist es wohl am besten am Platz: die modernen Methoden sind anstrengend, verlangen vom Autor und vom Leser jeden Augenblick die gespannteste Aufmerksamkeit. So liegt die Kurzform der Lyrik nahe. Die längere des Romans, der // Erzählung, des Dramas strengt leicht zu sehr an. So wirken moderne, wirklich moderne, Romane oft wie überlange Gedichte, oder oft auch wie durch Lyrik kommentierte, von Lyrik durchsetzte Erzählungen. – Aber hier schliesst sich der Ring: die Gattungen fangen an, wie in der Spätantike, ineinander überzugehen. Und heute wird alles zur Lyrik, wenn auch – sofern man das auf deutsch überhaupt sagen darf, ohne gleich umgebracht zu werden – zu einer sehr spröden, zu einer intellektuellen Lyrik.

  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: C-2-a/10
  • Werke / Chronos: Bd.6, 279, 280

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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