Sonntag, 15 Januar 1961

15.1.1961

Früher spekulierten die bildenden Künstler naiv auf das Assoziationsbedürfnis und die Assoziationsfähigkeit des Publikums. Sie vertrauten auf die Wirkung bestimmter Motive, von denen sie voraussetzten, dass sie bestimmte Emotionen erzeugen würden. Die Macht dieser Motive war übrigens so gross, dass sie nicht nur auf das Publikum wirkte, sondern vor allem auch auf die Künstler selber: das Motiv inspirierte ihn, es setzte seine Kreativität in Bewegung. Das hat sich heute weithin geändert. Ein Maler, // den das Motiv bestimmt, kommt heute leicht in Gefahr, im bloss Dekorativen steckenzubleiben, man empfindet ihn als Kunsthandwerker. Seit es abstrakte Kunst gibt, ist die Beziehung zum Gegenstand problematisch geworden. Wir verlangen von einem Maler vielleicht nicht unbedingt, dass er rein abstrakt malt, aber wir verlangen von ihm, wenn wir ihn als Maler ernst nehmen sollen, dass er den Gegenstand mit einer maximalen Freiheit, dass er ihn spielerisch behandelt. Dafür ist Picasso das klassische // Beispiel. Karl Rössing, bei dem ich gestern war, steht eigentümlich zwischendrin: er nimmt seine Gegenstände zu ernst, bleibt ihnen zu nahe, zu pedantisch nahe, um ein ganz grosser Künstler zu sein. Anderseits hat er einen zu ausgeprägten Sinn für Farben, Proportionen, aber auch für das Geheimnis und den Zauber der Gegenstände, um kein Künstler zu sein.

Die moderne Literatur steht natürlich vor ähnlichen Fragen. Nur müssen hier Vergleiche immer hinken, weil das Material Sprache vom Material, den // Materialien der bildenden Künstler zu verschieden ist: was ich von der Distanz des Künstlers zum Gegenstand, zum Motiv gesagt habe, gilt vom Dichter ähnlich wie vom Maler. Nur hat der Dichter zwei Möglichkeiten: er kann mit Worten arbeiten, mit der Sprache, sich von den Worten, der Sprache führen lassen. Oder aber, er braucht die Sprache nur, um Gegenstände, Motive, Bilder seiner inneren oder äusseren Welt darzustellen. In einem gewissen Sinne kann man den Dichter, der bloss mit Worten arbeitet, den die Worte bestimmen und leiten, mit dem abstrakten // Maler vergleichen. Nur ergibt sich aus dem Unterschied, dass ein Sprachwerk in der Zeit verläuft, ein Bild aber immer auf der Fläche bleibt, dass die Wirkung eines abstrakten Bildes derjenigen eines gegenständlichen um vieles näherkommt, als die Wirkung eines „Wortgedichtes“ derjenigen eines „Bild-“ oder „Motivgedichtes“. Denn das Verwirrliche am reinen Wortgedicht ist, dass ich es wie jedes andere von vorn nach hinten lesen muss, dass es aber tatsächlich – in seiner reinen Form – nicht vorn anfängt und am Ende // aufhört. Dass ich die Wörter ebensogut beliebig umstellen könnte, weil es keinen ersichtlichen Grund gibt, dass sie gerade in dieser und nicht in einer anderen Reihenfolge angeordnet sind. Es sei denn, dass optische Gründe gerade diese und keine andere Anordnung der Worte auf dem Blatt rätlich erscheinen lassen. Dann aber habe ich es mehr mit einem Bild als mit einem Gedicht zu tun.

Eigentümlich ist das japanische Verfahren, ein Gedicht gleichzeitig als Bild zu geben: ein „Bild-“ oder „Motivgedicht“ // wird auf eine Fläche so geschrieben, dass es auch den der japanischen Schrift und Sprache Unkundigen als abstraktes Bild fasziniert. Dieses Verfahren hat aber die japanische Schrift und Sprache zur Voraussetzung. Bei Versuchen in dieser Richtung mit unseren Sprachen und unserer Buchstabenschrift käme man über das Kunstgewerbe kaum hinaus.

  • Textart: Prosanotat
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: C-2-a/13
  • Werke / Chronos: Bd.6, 309, 310

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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