Notizbuch 1980-88

Inhalt: 168 Entwürfe zu 124 Gedichten (31 Endfassungen); mit den Zyklen:
Beschwörung des Todes I-XXIX, New York I-VI, Rom I-IX, Escorial I-III, Beschwörung – Andere Abteilung I-XIII, Durchgang I-XI
Datierung: 7.12.1980 – 27.8.1988
Textträger: Rotbraunes Notizbuch, grau-schwarze Tinte
Umfang: 212 beschriebene Seiten (+ U2/U3); Bll von Raeber numeriert, ab Bl. 106v leer
Publikation: Abgewandt Zugewandt: Hochdeutsche Gedichte (52 Gedichte)
Signatur: A-5-h/02 (Schachtel 29)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1979-1983, Typoskripte 1983
Kommentar: Beschreibung; vgl. auch das Typoskript Zur Entstehung
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

Freitag, 26 Februar 1982       )

Auf dem Schemel

Der Schemel auf den
Zehenspitzen die Brust
saugen saugen und nie
zu leeren. Aber ein Windstoss
05 durch die Tür und der Schemel
fort unter den Füssen
unerreichbar unlöschlich
der Durst.

Montag, 08 März 1982       )

Im Linnen

Wiegend im weissen
Linnen
locker gespannt von der einen
Seite zur andern
05 Seite der Schlucht o der
Himmel ohne
Wolken der Mond ein
Nichterinnerungsschatten ||
auf der schwarzen
10 Sohle die Zunge
zähflüssig und
entschlossen nicht zur
Kenntnis genommen.

Donnerstag, 11 März 1982       )

Halde

Die lange
Sonnenhalde
und zwischen den dürren
Blättern Gefieder zerzaust
05 vielfarbig schillernd. Die leeren
Höhlen der Augen. Doch immer noch stolz
mit hundert
golden blitzenden Rudern,
rührt die Galeere
10 im endlosen Mittag
sich nicht von der Stelle.

Freitag, 12 März 1982       )

Unter der Brücke

Schädel
unter der Brücke unter
der Brücke weisse
Gebeine. Nie
05 benetzt sie das Wasser, die Flut
lässt sie links
liegen im Frühling. ||
Gegen die gespiegelten
Lichter jedoch
10 keinerlei Einwand.

Freitag, 12 März 1982       )

Lichtung

Wäre die Lichtung doch wieder
verwachsen verschlammt
der Weiher keine
Pfähle kein Steg und kein Mond mehr
05 sichelscharf mitten
drin in der heillos
offenen Wunde.

Samstag, 13 März 1982       )

Pfeile

Einen nach dem
andern die Pfeile
heraus aus dem Fleisch
gezogen
05 heraus aus den
Wunden und
aufgestapelt unter dem
Segel. Der leise
Wind und die Spitzen
10 blitzend im Licht. Blitzend
die Wellen. So dick
sind schon die Narben. Die vor der
Zeit beschwichtigte Blutung.

1982 * (nicht datiert)       )

Flut + Kloake (A)

Von der Kloake verschlungen
und hochgespült und wieder
ausgespien der Wut
des Meers übergeben.
05 An die Mauer geklatscht<.>
Begraben bewahrt von der
Schlammflut. Der
geborstene Berg. Die // 081
Toten auf ihren Sitzen
10 verbrannt. Der
Mantel das
eherne Bildnis
geschmolzen. Die
lachende Maske

Dienstag, 16 März 1982       )

Flut und Kloake* (B)

von der
Kloake verschlungen und
wieder ausgespien der Spring-
flut übergeben und an die Hafenmauer geklatscht
05 eingeholt von der Schlammflut
aus dem geborstenen Berg der Mantel
verbrannt das
vergessene
Bildnis geschmolzen die
10 lachende Maske von der // 082
Kloake verschlungen und wieder ....

Dienstag, 16 März 1982       )

Einblick

Späne vom Rost die
blutigen Binden
das zertrümmerte
Haupt in der Nische die
05 Prozession der
träge kriechenden Käfer
das Rinnsal auf dem
steinernen Pflaster
im Abfluss von weitem mit langen
10 Pausen dazwischen
das Echo der // 083
klopfenden Tropfen.

Mittwoch, 17 März 1982       )

Aquädukte

Das Geschrei von den Mauer-
kanten herunter und schon
wieder Anflug und Abflug die
Sträucher
05 jählings
die Düfte im Frühling und
die Weiher rings
um die Pfeiler die
glucksenden Sümpfe und dann
10 schon wieder schon
wieder grell das <Geschrei.>

Donnerstag, 18 März 1982       )

Aufgeschlagen

Auf
aufgeschlagen der
Vorhang dunkler
Stein auf dem weissen
05 Genick auf dem
Bogen der Klinge.
Der finstere lange
Gang. Weiss die
geschälten entfleischten
10 Gebeine das Lächeln
unveränderlich aus den
Höhlen der Augen und die
Sanduhr zum
Willkommgruss erhoben.

Donnerstag, 18 März 1982       )

Falter (A)

Von Spitze zu Spitze
der Falter die
wippenden Gräser
die Schluchten
05 duftend dazwischen die
Würmer die Schalen
von früher und auf der
Sohle die
verlassene Larve.

Donnerstag, 18 März 1982       )

Falter* (B)

Von Spitze zu Spitze das neue
der Falter die
wippenden Gräser
das neue
05 Leben die Schluchten
duftend dazwischen
die Würmer die Schalen ||
das alte und auf der
Sohle die Larve das alte
10 Leben verlassen.

Dienstag, 23 März 1982       )

Spritzer

Nur Spritzer auf dem
Spiegel und Kerzen
auf dem abge-
gessenen Tisch keine
05 geheime Botschaft die kalte
Asche im Eimer nicht einmal eine
Drohung im halb
geöffneten Fenster vier
Monate schon
10 dauert der Winter der leere
Kanal eine Ente
im einzigen
Tümpel nur
Spritzer einge-
15 trocknet und
keine Botschaft und
erst recht keine Drohung. // 087
Den Fuss nicht einmal auf die
oberste Stufe gesetzt der
20 Sog des Kellers und ange-
kündigt von trägen
Käfern schwarz
glänzend aber
die Lederbank im
25 knarrenden Aufzug und auf dem
Spiegel die Spritzer.

1982 * (nicht datiert)       )

Abgewetzt – Das Idol (A)

Abgewetzt
von den Küssen und dann
verkauft und weggebracht
verworfen geschmolzen
05 zuletzt in einem Grab unter
Kakerlaken, unter
gelblichen Maden von deinem
Mantel noch der eine und andre
goldene Faden.

1982 * (nicht datiert)       )

Abgewetzt – Das Idol* (B)

Abgewetzt von
fettigen Küssen und dann
vergessen und dann verkauft und
weggebracht übers Wasser
05  und wieder vergessen verworfen geschmolzen und dann
im zufällig entdeckten
der eine und andre // 089
im zufällig aufgebrochenen Graben der eine
und andre von deinem
10 unter Kakerlaken und
gelblichen Maden von deinem
Mantel der eine und
andere goldene Faden.

Donnerstag, 25 März 1982       )

Abgewetzt – Das Idol* (C)

Abgewetzt von
unzähligen Küssen
gestürzt
vergessen verkauft und
05 fortgebracht übers Wasser verworfen
geschmolzen im Stadtbrand
vergessen im zufällig
entdeckten der eine der andre
im zufällig auf-
10 gebrochenen Graben der eine
der andre vom goldenen // 090
unter Kakerlaken unter
gelblichen Maden vom goldenen
Mantel der eine
15 gefunden
der andere Faden.

Sonntag, 28 März 1982       )

Nach langem Flug

Wer immer da oben hin und her
flöge wer immer
und dann auf einmal
eine Lücke ein Loch und unten
05 die Wälder die Berge
und auf der verbrannten // 091
Höhe ein einziger toter
Einsiedlerbaum
in seiner Schwärze
10 erstarrt wer immer dort oben
und dann herunter
schösse und dann [inne-]
inne hielte und sachte
heran und sich
15 nieder in der fahlen
Krone niederliesse im Elend nach langem
Irrflug mit müden
Flügeln zitternd ein Tröster
mit müden
20 Flügeln frierend ein
Tröster der Vogel.

Montag, 29 März 1982       )

Flug

Und der Schatten durch
die Lücke zwischen den weissen
Wolken herab.
Die Schäume der Wiesen
05 vom Starrsinn der Flügel
gelöscht ohne Nachsicht.

Freitag, 02 April 1982       )

Stilleben

Und das zersprungene Ei das
brennende Haus der
verkohlte Kadaver das
schwarze Taxi mit der
05 Leiche im Fond die
Schnecke auf der
Stirn auf der Wange
an der Mole die Rippen
des Schiffs das
10 Schwemmholz am Strand die toten
Vögel schwarz verschmiert die
Gebeine in Gold und in
Perlen gefasst // 094
und bekränzt mit roten
15 Rubinen der kristallene
Sarg und die Blumen gelb
der Ginster die Blumen
der Frauenschuh purpurn
der Rauch aus den Schloten geduckt
20 über die Dächer heran
rollende Drohung der Hund
in der Kuhle verendet
aber die Blumen die
Blumen der Enzian blau und die
25 rotweiss gesprenkelten Nelken
die Lokomotive rostig auf den 
verwachsenen Schienen der
Engel mit dem gezückten // 095
Schwert auf dem Gipfel
30 des Grabmals und auf den Stufen die lange
Reihe der Gefangenen die aufge-
rissene Brust und das
blutig geopferte Herz der Wind
hart und sandig von den
35 Hügeln herüber die Blumen
wieder die Blumen
Eisenhut Drachenkamm
unterm Wiesenschaumkraut verborgen
der üppige Stengel und aus der
40 Wolkenmanschette
die riesige Hand mit der Rose.

Samstag, 10 April 1982       )

vorüber verglüht

Wären doch die Wolken
vorüber vorüber die
Lichtung die Flucht
von Licht und  von Schatten
05 das offene
Grab dunkel bald und für immer
das Futteral
verglüht der leere Mantel
von den Schultern
10 golden gefallen wäre er drinnen
drinnen für immer verglüht.

Montag, 12 April 1982       )

Rom / I

Glühend
aus der Höhle die Augen
die Zähne gebleckt.
Und über dem Hügel aus Schutt der
05 Flügelschlag klagend
und schwarz.
Doch von einem
Pfeiler zum andern
die Winke. Das aufge-
10 schlagene Buch. Auf jeder
Seite von neuem
eingetragen Verrat // 098
feige
niemals verziehen.

Montag, 12 April 1982       )

Rom* / II

Bis hoch hinauf das Geröll die
Schwärme der Tauben
die Hündin alt mit
hängenden Zitzen noch immer
05 zwischen den Steinen und
unersättlich

Montag, 19 April 1982       )

Rom* / III

Der Schatten
plötzlich und der entleerte
Platz. Weh-
klagen. Asche
05 unter dem Rost und ein paar schwarz // 099
eingetrocknete Tropfen.
Aber die
Erinnerung an die
irdischen, an die
10 himmlischen Dinge bald näher
bald ferner ein Schwirren ein
Flimmern ganz hinten
im Hirn. Und das Rad
dreht sich im Regen.

Freitag, 23 April 1982       )

Rom* / IV

Aber hinaus
hinaus ins Wasser gegangen
und weiter und nach den
Steinen der weiche
05 Sand und weiter
draussen der Schlamm weiter und
tiefer draussen
weich um die Füsse und kein
Knirschen mehr und kein
10 Klirren der Kiesel
nur noch
das Glucksen immer
wieder die gleichen
vagen Gedanken.

Freitag, 23 April 1982       )

Rom* / V

Der Staub und die riesige rote
Mauer der Wind und die roten
Wirbel die Tore und drinnen
die trockenen Becken die
05 Sitze die Schreie Gelächter
das Jauchzen der Lüste
der Wind und die roten
(Wirbel) klein und
kühl die
10 Umarmung im Wagen
verspätet.

Samstag, 24 April 1982       )

Rom* / VI

Und ein Gedanke
lange
schwebend und
unergossen ein Schatten
05 träge unentschlossen dahin
fahrend über die Gärten
schaukelnd
über die Dächer. Und dann die
Böe jäh
10 die Regenentschliessung.

1982 * (nicht datiert)       )

Rom* / VII (A)

Vom Palatin herüber der kalte
Wind Böen und dann dahinter
der Regen man braucht
keine Mohrenköpfe mehr bei Giolitti
05 zu kaufen leise
und hoch trägt der
Wind über die Dächer über
die Plätze dahin da
mögen die Burschen dort unten
10 vorm Pantheon noch so
laut hupen mag die
Frau dort unten bei Sant'
Eustachio leise leise
noch so schrill kreischen
15 und hoch.

Mittwoch, 28 April 1982       )

Rom* / VII (B)

Der kalte
Wind herüber vom
Palatin und dann die Böen der
Regen man braucht
05 keine Mohrenköpfe
mehr bei Giolitti
zu kaufen nur einfach
hinunterspringen vom Dach und
über die Kuppeln hinweg hoch
10 über die Plätze
leise und weich da
mögen die Motociclette
dort unten von der Piazza Navona
herauf noch so laut hupen da mag
15 die Frau dort unten
vom Pantheon herauf
noch so schrill kreischen.

Donnerstag, 29 April 1982       )

Rom* / VIII

Und dann
der zerborstene Bogen
die Weiher das
warme Wasser
05 das kalte Wasser versickert
weder tote Fische noch Schlamm
der Wärter im dunklen
Anzug und niemals
das warme
10 niemals das kalte
Wasser gesehen und niemals
darin gebadet doch gegen
den Regen eine zusammen-
gefaltete Zeitung.

Dienstag, 04 Mai 1982       )

Rom* / IX

Und du hättest die Wolke
die langsam über den Himmel
dahinglitt beinahe
erwischt aber da stand sie
05 still auf einmal über
dem Loch im Dach eines grossen
Hauses und ging auf und
ging auseinander
und leerte ihr ganzes
10 Wasser aus und ergoss es
auf ein gläsernes Särglein mit einem // 107
Männchen ganz aus
Knochen darin und einer goldenen
Palme in den
15 stocksteifen Fingern
da wagtest du nicht mehr nach der
Wolke zu greifen
du hättest ja nur
nasse Hände bekommen

Dienstag, 04 Mai 1982       )

Gewitter

Da dringt der Gesang
herauf aus dem Grab aus dem stummen
Mund
der Duft von nie
05 gesehenen nie
gerochenen Blumen Aber
droben die
feuchten
Lüfte dicht zu Gewölk
10 und dichter geronnen
kein Gesang kein
Duft durch die Sturz-
flut die Knochen aus den
Binden hinaus
15 geschwemmt hinab // 109
geschwemmt in die Gosse.

Mittwoch, 05 Mai 1982       )

Katakomben

Und wir sollten vor den roten
Mauern sagst du unter
den wuchernden Wurzeln
nach den Treppen
05 suchen hinab in die
schwarzen
Gewölbe die Gräber-
nischen die tropfenden
Wände das sei
10 nahe dem Herzen das sei
wahrer sagst du
aber das Knattern das // 110
Heulen der Wagen wider-
hallend von den
15 Mauern der Gassen
hier drinnen die Dämpfe
bläulich + beissend 
Wunde
blutend blutend
20 lebendig.

1982 * (nicht datiert)       )

Via Appia (A)

Das Grab
begraben unter
Gestrüpp der Wagen
Brüste
05 Schenkel stundenlang ächzend // 111
das Blut aber findet
den Weg versickernd hinab
die verschüttete Treppe
und tränkt
10 die dürstenden Toten.

Mittwoch, 05 Mai 1982       )

Via Appia* (B)

Das Grab
begraben unter
Gestrüpp der
Wagen ächzend
05 Schenkel stunden-
lang und die
Brüste das Blut
versickernd hinab die
verschüttete Treppe O die
10 dürstenden Toten.

Donnerstag, 06 Mai 1982       )

Kennst du nicht?

Kennst du nicht die Strasse kennst du
nicht die Flecken
überm Horizont den
Durchschlupf durch die Hecke und den
05 jähen Duft den
Augenblick der Wildnis
kennst du nicht und dann
den Streifen Sand dahinter
und im seichten
10 Wasser das zerschossene
Wrack kennst du nicht und
hast es nie gesehen?

Samstag, 08 Mai 1982       )

Blasen

Blasen und immer
stärker blasen aus voller
Lunge blasen dann
bläht es sich auf und
05 dehnt sich und wird
immer grösser und
dehnt sich und bläht sich
und wird riesengross so
riesengross, dass es am Ende den ganzen
10 Raum ausfüllt bis
hinauf an die Decke und dich
platt an die Wand drückt.
Nicht blasen nicht blasen still
bleiben und den
15 Atem anhalten dann
schwindet es und zieht sich
zusammen und wird immer
kleiner und kleiner und wird
ganz winzig zuletzt und // 114
20 schmilzt zusammen und
schwindet hinweg und am Ende
ist es gar nicht mehr da
aber du
du wächst und
25 nimmst immer mehr
zu und dehnst dich aus und
blähst dich auf und

Donnerstag, 20 Mai 1982       )

Abgewandt – zugewandt

Abgewandt von den
Häusern den Strassen
den staubigen Bäumen
dem Platz mit den
05 kantigen Steinen
abgewandt von den
Linnen die von den Seilen
träge hängen der Schweiss
der letzten Nächte der letzten
10 Stunden darin die
Todesangst und das
Gestöhn wenn der
Morgen herankommt die letzten
in Schweiss gebadeten Stunden // 116
15 zugewandt mit dem
Gesicht den Felsen den schroffen
Hängen ins Meer
in den Spalten
wenige wenige Blüten
20 aber blau aber rot
und dann das Tor
schwarz und von der Flut
gleich wieder verschlossen
zugewandt dem
25 Strand mit den Kieseln
den leeren
Gräbern im Steilhang
dem Flügel der lautlos heran
gleitet und alles
30 zudeckt den Schimmer // 117
auslöscht die
bleierne Platte
der Duft darüber
von längst
35 versteinerten Blumen
hin und her irrend
abgewandt von den
Häusern dem
Staub und den Strassen
40 entschlossen
zugewandt dem offenen
Tor unterm
überhängenden Felsen
Erwartung.

Donnerstag, 03 Juni 1982       )

Escorial / I

Und wenn du durch das
öde Gehäuse, die leeren
Kammern und durch die
Galerien die Säle, die vielfach von deinen
05 Schritten widerhallen
vordrängst sähest du innen zuinnerst in der dämmrigen
Zelle weder den Rost noch die Kohlen
die darunter verglimmen. Doch der
Geruch von verbranntem versengtem // 119
10 Fleisch triebe dich alsbald
durch die Galerien die Säle die
Kammern durch das ganze
Gehäuse zurück.
O der Atem der Weite winzige
15 Falter und weiss
wölkend über den Büschen.

Freitag, 04 Juni 1982       )

Escorial* / II

Oder wenn du dich unten durch die
Keller und durch die
Krypten wühltest die alten
Kleider in Fetzen zerfallend
05 in Fäden in farblose
Partikel die muffig röchen und durch
die Zellen mit toten
Ratten und den Geisseln der // 120
Mönche neben den aufge-
10 stapelten Kutten und in den
Kapuzen quieken
niedliche Mäuschen ein ganzes
Lager von dünnen Matratzen: dann stiessest
du erst am Ende ganz vorn auf die grossen
15 Kästen die schweren
Deckel fest zugeschraubt deine Füsse
versänken im Staub im
Moder unbestimmbarer
Herkunft aber durch ein verstecktes
20 Fenster ein Licht du fändest die enge
Treppe und oben
die Tür. O der
Atem der Weite und winzige
Falter stöben zahllos und weiss
25 hervor aus den Büschen.

Samstag, 05 Juni 1982       )

Escorial* / III

Die Blei-
dächer glühen du hüpfst
mit brennenden Füssen
schreiend von Turm
05 zu Turm von einem
Giebel zum andern und dann
der Schall der
Glocken als käme
schon der Richter
10 am Himmel aber nicht
einmal eine einzige
Wolke und die weissen // 122
Kaninchen weit
davon entfernt sich zu fürchten
15 mampfen
Heu und blinken
am Fuss der
bebenden Kuppel
neugierig mit ihren
20 Augen obwohl sie doch schon seit heute früh
für dein Nachtmahl bestimmt sind.

Dienstag, 08 Juni 1982       )

Sonne

Und die Blätter-
kronen der grünen
Gipfel
hinter dem Schleier
05 die Sonne die
Gräser die Käfer
versengt und
mählich all-
mählich verbrannt die
10 selige Sehnsucht
Verbrennung.

Dienstag, 08 Juni 1982       )

Herein

Und weiter
zurückgezogen
und tiefer
im Dunst doch immer
05 noch wie die Wärme von ferne
über die grünen
leise bewegten
Gebirge von ferne unver-
mindert wehend und un-
10 verändert wehend
wehend herein.

Sonntag, 20 Juni 1982       )

Berührung

Aber es wäre immer nur eine
Berührung sachte und für
einen Moment der
Küste von Polignano der
05 Kreuzung der Siebten
Avenue und der 42. Strasse
oder der grünen
Höhe im Sommer
mit Löwenzahn und Wiesen-
10 schaumkraut immer
nur eine Berührung und dann
wieder die Rückkehr mühelos
und ohne die Qual // 126
der Ablösung zurück
15 in die Höhle mit den
tropfenden Wänden und alle
Berührung erst dort im feuchten
Dämmer verdichtet
zum Traum und erst wirklich.

Donnerstag, 01 Juli 1982       )

Fluss

Und das Glitzern weit
unten weit wie
könnte es oben die dunklen
Schwaden erhellen die Jagd an-
05 halten und stillen
innen inmitten
die wütende Drehung?

1982 * (nicht datiert)       )

Gehäuse (A)

Und die Enge 
bedrängender noch
im verqueren Gehäuse.
Die Maulwürfe und die
05 aufgeworfenen Böden.
Aber die Lücken überall in den
Wänden die Blicke
hinaus auf die geballten
Wolken und auf das
10 kopflose Standbild.

Samstag, 03 Juli 1982       )

Gehäuse (B)

Und die Enge 
bedrängender noch
im verqueren Gehäuse.
Die Maulwürfe und die
05 aufgeworfenen Böden.
Aber die Lücken
überall in den
Wänden. Die bald 
geballten, die bald
10 wieder zerrissenen
Wolken. Hatz
unaufhaltsam. Aber
unverrückt und immer
kopflos das Standbild.
15 Der Schatten
wandert über das Pflaster.

Freitag, 09 Juli 1982       )

Ohne

Und die Welle und die
Welle über den Felsen.
Glitzernder Staub. Das Gehäuse
erbrochen. Zerrissen
05 der Mantel. Die Sieben
Schwerter im Herzen. Und dennoch
kein Tropfen. Und
dennoch verschlossen und ohne
und ohne
10 Kraft die Begierde.

Sonntag, 11 Juli 1982       )

O die Welt

O die Welt
verlassen verlassen und die
herunterfallenden Brocken
barfuss und gefangen
05 hinter den
Brocken der
Falter der grosse
Falter gefangen in der
schwarzen
10 Höhle hinter den
barfuss barhaupt herunter-
gefallenen hinter den
donnernd heruntergefallenen
Brocken barfuss barhaupt
15 die Welt verlassen o
verlassen und gefangen der dunkle // 132
Falter
eingesperrt in der
Höhle die schweren
20 Brocken der leichte der freie
Falter aber
eingesperrt aber
gefangen der Falter die
herunter
25 polternden Brocken bar-
fuss barhaupt die Welt
verlassen verlassen
und eingesperrt und
gefangen verrammelt der schwarze
30 Falter o die
Welt eingesperrt und // 133
verrammelt gefangen o
verlassen verlassen.

Donnerstag, 15 Juli 1982       )

Der Adler

Von Wien
steigt er auf und über
dem Schwarzwald erscheint er
dem Wanderer als ein
05 heimischer Vogel und doch
war es vermutlich
im persischen Hochland dass er
ausschlüpfte aus dem
Ei. Aber das ist // 134
10 zulange her. Über
Frankfurt steht er
am höchsten und längsten ein paar
Bilder zeigen ihn mit zwei
Köpfen aber das kommt wohl von einer
15 östlichen Neigung
zum Üppigen und zum
Monströsen ein
Fabeltier wäre er dann aber
er ist ein einfacher
20 Vogel nun schon lange
allein und ohne
Genossen und findet
zwischen den Wolken-
kratzern sein altes
25 Nest St. Bartholomäus nicht mehr schon auf
Goethe hatte er dort // 135
nur noch exotisch
gewirkt wie aus einem
fernen Zwinger herge-
30 flogen doch da fällt
eine Feder und dort
herunter Passanten
lesen sie auf und erinnern
sich sie hätten im Nordosten
35 ihn neulich noch auf einem verschneiten
Sandplatz im Schnee
sitzen sehen abgemagert und heiss-
hungrig schnäbelnd wie lang
ists her dass er über den Toren der alten
40 Städte des Südens aus goldenen Tellern
frass und von Castel del Monte die Flotten // 136
der Türken die
Segel des heiligen Markus erspähte nicht zu
reden von der
45 Grotte am Palatin wo er am längsten
wohnte und am bequemsten noch heute
schmerzt ihn der Rauch in den Augen
womit man ihn austrieb
doch auch über Frankfurt wird er sich nicht lange
50 mehr halten können
hoch in den Lüften und
von keinem gesehen bald
hat er alle Federn verloren man wischt sie
jeweils morgens um fünf Uhr
55 an der Konstabler-
wache an der
Kaiserstrasse zusammen er fällt // 137
wenn er Glück hat am Römer
herunter ein kahles
60 ausgemergeltes Aas liest ihn ein Türke
vom Pflaster auf und wirft ihn zum übrigen
Müll in den Container.

Donnerstag, 15 Juli 1982       )

Quattorze juillet

Nicht den von 1789 in Paris
nein, den von 1794 meine ich
in Frankfurt am Main, den
vierzehnten Juli. Goethe war
05 weit fort in Weimar. Die Frau
Rath lebte immerhin noch. Aber
beide hatten
keinen Sinn für das, was da
vorging, als Franz
10 von Toskana als Letzter // 138
die Römische Krone empfing, Sakra-
ment und
Beschwörung einer magischen
Ordnung voraus-
15 weisend auf das
Imperium, das
universale, das Reich
des Ewigen Friedens, das es
bis heute nicht gibt, auch der
20 Völkerbund und die Vereinten
Nationen sind erst
dürftige Voranzeigen weniger
sinnen-
fällig als der Flug des
25 Adlers, dafür mehr schon
urbi e orbi. Die Tiara
der Adler die Krone
Konrads aus Byzanz
für Goethe und die Frau Rath // 139
30 waren das alles Antiquitäten. Das Allge-
meine gab es für sie
höchstens als eine moralische
Übereinkunft der
Menschen als eine
35 Versittlichung ihres
Umgangs. Das Reich
war ihnen nur noch ein
Überbleibsel der
mittleren Zeit und die Krönung des Kaisers
40 ein gemütliches Schauspiel aus der
Stadtgeschichte von Frankfurt. Was ist es
da zu verwundern, dass die
Söhne und Enkel
den Frankfurter 14. Juli über
45 dem Pariser vergassen und aus dem
Reich ein weiteres
Kästchen machten unter den vielen // 140
Staatskästchen einander
bedrängend zerquetschend auf der
50 schmalen Strasse
zur Macht und zum Reichtum.
Die Doppelkrone des oberen und des
unteren Reiches
wandert ins Museum der Horus-
55 falke in den Zoologischen Garten.
Der wahrhaft
sittliche wahr-
haft vernünftige Mensch
versteht die Zeichen nicht mehr und hat
60 sie, der glückliche hat sie
gar nicht mehr nötig.

Donnerstag, 15 Juli 1982       )

Schwirren

Das Schwirren laut der
Gedanken das immer
lautere Schwirren der Wellen
Getöse betörend der
05 Wellen lautes
Getöse
lähmend betörend. Doch wo
auf den Kämmen auf den
gelähmten sitzen wo nur
10 rasten auf den betörten?

Freitag, 16 Juli 1982       )

Sinai

Und am Steilhang die Schollen
geborsten die Wurzeln
verdorrt in den Spalten
Aber die Wolke weiss und
05 unverwandt über dem Bergkamm
Und dann
unverwandt in der Tiefe
jenseits der Baum und
staubig
10 vor dem Gemäuer.

Freitag, 23 Juli 1982       )

Verlies

Und der Geruch des
Bluts, das durch das Gitter herab-
tropft in dein Verlies
heiss und klebrig herab
05 auf deinen Kopf
deine Füsse in der
dampfenden Pfütze der Abfluss
von Exkrementen verstopft und schon
versunken bis an die Knöchel.
10 Knie nieder.

Freitag, 23 Juli 1982       )

Geisselung

Die blutigen Striemen auf deinem
Bauch und deinen Schenkeln. Die roten
Rinnsale von deinen
Schultern. Stolz
05 nach Hieben lechzend
Verschwendung An-
massung der Rubinen und rot und
rie<s>ig¿ und weit und
breit nirgends ein Räuber.

Mittwoch, 29 September 1982       )

Krebs + Segel (Meerkrebs)

Kröche der Krebs
aus der Tiefe des
Tümpels herauf
bis zum Rand des schwarzen
05 Tümpels herauf
und sähe er dort der
heraufgekrochene Krebs das
blaue Segel über dem blauen
der aus der Tiefe des schwarzen
10 Tümpels das blaue
über dem blauen
Meer über dem mehr als
blauen schon fast purpurnen
Meer das Segel fliegen
15 dahin mit dem Wind // 146
wehen Bläue
dreifach sähe der
Krebs Himmel und Segel
und Meer und alle
20 in- und übereinander
verschränkt:
wie überstünde er dann
sein Dasein künftig im Tümpel,
im schwarzen im
25 tiefen Tümpel wie
überstünde er dann wenn er
kröche an seinen Rand und wenn er
über den Rand hinaus sähe
das blaue im blauen und
30 über dem blauen wenn
er es sähe der Krebs // 147
über den Rand hin-
weg mit dem Wind
wehen was wäre
35 wenn er es sähe
das Segel?

Montag, 04 Oktober 1982       )

Die Mumie

Die Mumie aus-
wickeln aus ihren Bändern aus
ihren Tüchern ent-
mummeln die Mumie
05 und immer noch und immer
wieder Bänder und Tücher
und dann die ganz ausge-
wickelte ganz ent-
mummelte Mumie auf das // 148
10 grosse Floss legen ganz
allein auf das Floss legen und es
losmachen und es enttauen und es
hinunterschicken und es hinunter-
lassen das Floss den
15 Strom hinunter hin-
unter den breiten Strom den
ruhigen Strom den beinahe
unbewegt fliessenden Strom
hinunter nach Amsterdam schicken.
20 Und dort in Amsterdam drunten hält es
das Floss an der Brücke mitten
in der Stadt Amsterdam hält das
Floss mit der ausge-
wickelten mit der ent-
25 mummelten Mumie hält es sie nehmen // 149
die ausgewickelte die ent-
mummelte Mumie die ganz
schwarze und ganz aus-
gedorrte Mumie herunter
30 vom Floss und wickeln sie wieder
ein in Linnen und wickeln sie ein
in Bändern, sie mummeln sie wieder
ein in schneeweisse
Linnen und Bänder und setzen
35 sie bei mitten in der
Stadt Amsterdam ganz in mitten der grossen
Stadt Amsterdam setzen sie die
wieder eingemummte und einge-
wickelte Mumie bei und das leere
40 das verlassene Floss
gleitet auf dem Strom auf dem breiten // 150
breiten vor der weiten
weiten Mündung des Stroms
draussen im Meer
45 Strom in die weite weite
Mündung des Stroms und hinaus
in das weite in das
grenzenlose Meer denn wer hätte
für das leere wer hätte
50 für das verlassene Floss noch
irgendeine Verwendung?

Dienstag, 17 Mai 1983       )

Venedig

Und wirbelt auf an unsres Lebens Saum
den goldnen Sand Venedig letzten Traum
und wenn wir steigen von den Hügeln
am Horizont von silbergrauen Flügeln
05 getragen steht die Stadt im Ätherraum
Und unsrem Sinn erschliesst sich nicht der Traum
wir halten nichts mehr nichts mehr in der Hand
wir fassens an und es ist Staub und Sand
was wir noch eben sahen festgefügt im Raum // 152
10 nur Fäden abgerissen von dem Saum
des Mantels sinds des Bildes das vorüber

Mittwoch, 14 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung / I

Hinab den Hang
über das Gras
über die Wurzeln
hinab in die
05 Bachschlucht und über
die Kiesel
hüpfend bespritzt
von der Gischt
den blitzenden Tropfen
10 und in der Enge // 154
unten im Endlauf
zwischen den Wänden in Scherben
zerschellt mit der Strömung
fortgespült spurlos die Splitter.

Donnerstag, 15 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / II

Oder sie höbe sich auf und
schwebte in sachtem
Taumel über die
Tafelberge die roten
05 Schluchten hinweg sie dehnte
im Steigen sich aus die Schale
würde weich und
schmiegsam durchlässig
dem schwarzen
10 krächzenden Vogel // 156
Umfangen
der Tanz der
Sommermücke Gesumm
die Wärme des Atems.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / III (A)

Oder sie schmilzt
in der Sonnenhitze
versickert
Ein einzelner
05 Stengel holzig im Wind.
Im anderen
Jahr eine Blüte

Freitag, 16 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / III (B)

Oder sie schmilzt
in der Sonnenhitze versickert.
Die Beete die Blumen die blauen
Wälder im Offnen
05 alsbald verdorrt.
Ein einzelner
Stengel holzig
gegen den Weltwind vielleicht
dass er nach Jahren
10 dass er nach Jahren
vielleicht

Sonntag, 18 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / IV (A)

Der Zug ist abgefahren
jeder Zug fährt eimal ab
aber immer wieder steht ein
neuer Zug auf dem Gleis
05 es kommt nur drauf an
dass man einmal einsteigt
Zu spät ist es nie.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / IV (B)

Der Zug ist abgefahren
aber schon steht wieder ein neuer
Zug auf dem Gleis
Man hat die Wahl
05 einzusteigen, oder
auf den nächsten
den übernächsten zu warten.
Zu spät ist es nie.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / IV (C)

Der Zug ist abgefahren.
Schon aber steht wieder ein neuer
Zug auf dem Gleis.
Man hat die Wahl
05 einzusteigen oder
auf den nächsten
den übernächsten zu warten
solang bis der Bahnhof
kurz nach Mitternacht zuschliesst.

Montag, 19 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / IV (D)

Der Zug ist abgefahren.
Schon steht ein neuer Zug auf dem Gleis.
Einzusteigen oder
auf den nächsten den
05 übernächsten oder auf einen // 160
noch spätern zu warten
bleibt dir die Wahl
solange nicht wegen
mangelnden Fahrgastaufkommens
10 die Linie stillgelegt wird.
Mit dem Verkauf deines Autos
hat es jedenfalls keine
Eile vorerst.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / V (A)

Festhalten fest
und das
Ziehen am Herzen
Wegziehen weg
05 bleiben wollen und
gehen wollen in einem
Zerrissen mitten
durch gerissen in
Stücke gerissen
10 zerrissen

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / V (B)

Festhalten fest 
und das Ziehen
am Herzen
wegziehen weg
05 und sich an-
klammern mit allen
Fingern weg-
gehen weglaufen
und bleiben
10 bleiben um jeden
Preis
Zerrissen
mitten durch
gerissen in Stücke
15 zerrissen.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / V (C)

Ich halte mich fest
mit meinem Sinn aber es zieht mir darunter
das Herz weg
Mit allen Fingern klammere ich mich
05 fest aber es zieht mir darunter
die Füsse weg sie
laufen sie rennen doch meine
Seele will bleiben nur bleiben
Zerrissen
10 mitten durch
gerissen in zwei
Hälften zerrissen.

Dienstag, 20 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / V (D)

Ich halte mich fest mit allen
Fingern aber die Füsse
ziehen mich weg sie
laufen sie rennen meine
05 Seele will bleiben. 
Warum denn nur so
zerrissen mitten
durch gerissen in zwei
Hälften zerrissen?

Mittwoch, 21 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VI

Weggezogen
von mir bin ich
angezogen
von dir
05 aufgesogen
von dir bin ich
ausgesogen
aus mir
Fortgegangen
10 von mir bin ich
angekommen
bei dir
ausgezogen
von dir bin ich ||
15 nackt und gefangen
in dir
und sehe nur von der Welt
was mir dein Auge erhellt.

Freitag, 23 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VII (A)

Die Nebelschwaden
über der Ausfahrt
gehoben
Erst dort hinten
05 hinter dem riesigen
Blau der Tanker
der heraufwächst
und lautlos.

Samstag, 24 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VII (B)

Die Nebelschwaden gehoben
über der Ausfahrt.
Dann aber draussen
am Rand der riesigen blauen ||
05 Platte weit draussen
der Tanker herauf
wachsend und lautlos.

Samstag, 24 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VII (C)

Die Nebelschwaden gehoben
über der Ausfahrt.
Dann aber draussen
am Rand der riesigen blauen
05 Platte weit draussen
der Tanker herauf
wachsend draussen und lautlos.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VII (D)

Die Nebelschwaden von der riesigen blauen
Platte gehoben.
Dann aber draussen
über den Rand der Tanker
05 draussen herauf
wachsend draussen
und lautlos.

Samstag, 24 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VII (E)

Die Nebelschwaden
gehoben. Dann aber draussen
über den Rand der riesigen schwarzen
Platte weit draussen
05 der Tanker herauf
wachsend draussen und lautlos.

Der üppige Wald die
Wurzeldichte ein Wandel-
baum kommt er heraus die
Vögel zwitschern im Haar und die Augen
05 hell aus dem Buschwerk.

Sonntag, 25 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VIII (B)

Der üppige Wald die
Wurzeldichte ein Wandel-
baum kommt er
struppig heraus.
05 Aber die Vögel
zwitschern und hell die beiden
Lichter im Buschwerk.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VIII (C)

Aus dem Wald der
Wurzeldichte tritt der
Wandelbaum struppig
heraus. Aber
05 die zwitschernden Vögel
und hell
die beiden Lichter
im Buschwerk.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VIII (D)

Aus dem Wald den dichten
Wurzeln hervor der
Wandelbaum struppig.
Aber
05 die zwitschernden Vögel
und hell die beiden
Lichter im Buschwerk.

Montag, 26 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VIII (E)

Heraus aus den dichten
Wurzeln tritt der
wandelnde Baum und das Gezwitscher
der Vögel  und hell die
05 beiden Lichter im Buschwerk.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VIII (F)

Heraus aus dem Wald
trägt er die Äste die dichten
Wurzeln und oben
Vogelgezwitscher und hell
05 die beiden Lichter im Buschwerk.

Montag, 26 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / VIII (G)

Die Äste, die dichten
Wurzeln schleppt er
mit sich. Aber oben
Vogelgezwitscher und hell
05 die beiden Lichter im Buschwerk.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / IX (A)

Aus dem Schatten
heraus tretend des
Waldes wirft der erwachte
Baum den eigenen
05 Schatten über
den silber-
schimmernden Fluss eine Brücke.

1984 * (nicht datiert)       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / IX (B)

Aus dem Schatten
heraus tretend des
Waldes löscht der erwachte
Baum mit dem eigenen schweren
05 Schatten den Silber-
schimmer des Flusses versenkt
die ängstlichen Schiffe

Dienstag, 27 März 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / IX (C)

Kaum aus dem Schatten des alten
Waldes heraus
getreten wirft der erwachte
Baum den eigenen schweren
05 Schatten hinein in den Fluss und
weiss nicht warum
das Silber erlischt warum die
(leichten) Schiffe versinken.

Dienstag, 03 April 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / X (A)

Die Wälder
auf der Höhe verbrannt
über den Hang
die schwarze
05 Schneise hinunter
gezogen zum Feuer-
teppich im Wasser.
Die Boote verkohlt und der Rauch
beisst in der blauen
10 Grotte die Augen.

Dienstag, 03 April 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / X (B)

Die Strömung
hinaus und die Gegen-
strömung wieder herein
dazwischen
05 ruhig die Sonne im leise
drehenden Spiegel aber
das Rasen
des Wirbels der Schlund
alles verschlingend.

Mittwoch, 04 April 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / X (C)

Auf der Kimme die Wälder
verbrannt die schwarze
Schneise über den Hang
hinunter gezogen zum Feuer-
05 teppich im Wasser die Strömung
hinaus und die Gegen-
strömung herein
die Boote verkohlt
die Sonne
10 im leise drehenden Spiegel
zwischen der Strömung
hinaus und der Gegen-
strömung herein
der rasende Wirbel tief // 175
15 unten und beissend
der Rauch in den Augen.

Mittwoch, 04 April 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / XI (A)

Gegen-
gewicht zieht Gewicht
in die Höhe Gewicht
und Gegengewicht für eine
05 Sekunde nebeneinander. Gegen-
gewicht drückt die Schale
jäh zu Boden und wirft // 176
Gewicht aus der andern
Schale. Gegen-
10 gewicht ohne Gewicht
allein und am Boden.

Sonntag, 15 April 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / XII

Und es ist wahr
die Hälften sind geschieden
so sonderbar
was eines war
05 das hat sich jetzt gemieden
Es ist ein Riss
und Bitternis
geschieden und gemieden
was da geheilt
10 hinunter eilt // 177
wo soll es sich einst finden
im dunklen See
im tiefen Schnee
da wird der Zwiespalt schwinden
15 Noch lange hin
nimm fort den Sinn
vom Schwinden und vom Finden
Seit langer Zeit
steht schon bereit
20 ein anderes Gehäuse

Mittwoch, 02 Mai 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / XIII (A*)

Zwischen den Zweigen
der Wind von
Castel del Monte
und über das Meer bis hinab
05 in die Grotten
von Polignano:
das Licht der
Schimmer der Wellen
vieldeutig drinnen
10 im unzugänglichen Dunkel
der Sturm
blies sie aus meine Stimme meine // 179
Stimme sie dringt
nicht mehr zu dir.

Freitag, 04 Mai 1984       )

Beschwörung – Andere Abteilung* / XIII (B)

Zwischen den Zweigen
der Wind von
Castel del Monte
und über das Meer bis hinab
05 in die Grotte
von Polignano:
vieldeutig der Schimmer
der Wellen drinnen
im unzugänglichen Dunkel
10 und meine Stimme
dringt nicht mehr zu dir
durch den Sturm die verweigerten
Küsse der Zorn
der verschmähten Tritonen.

Freitag, 26 April 1985       )

Wirbel im Abfluss (A)

Die Jagd
des Mondes nach den
Fetzen der Wolken
der Untergang von Atlantos die Explosion
05 der Blüten Ende April ihr Erfrieren
plötzlich im Mai der
schwarze Tod mit den Karren // 181
voller Leichen die Zeichen
Schwingung der Schaukel im Park
10 der Schmerz in der Brust und
nachher die lange
Agonie die Zeichen
die Warnungen alle und auch der
Sacco di Roma (ist nur)
15 ein Wirbel im Abfluss.

Samstag, 31 August 1985       )

Er habe – Für Fabius von Gugel (A)

Er habe
nichts mehr gedacht und
nichts mehr gewollt und
alles gelassen
05 alles vergessen er sei
unter der Brücke
gesessen und habe die ganze
Nacht das Wasser
betrachtet es floss
10 vorbei und
rauschte er habe
nichts mehr gedacht und
nichts mehr gewollt und
alles gelassen
15 vergessen und mit dem // 183
Wasser hinab
fliessen lassen den Fluss
hinunter die Strassen-
lampen oben auf dem
20 Trottoir vom Geländer
schwankten im Wind
und er meinte
das seien die Bullen die kämen
um ihn zu holen
25 aber das war ihm
egal (und) er habe
nichts mehr gedacht und
nichts mehr gewollt und
alles gelassen
30 vergessen und nur
seine Füsse hinunter
hängen lassen ins Wasser

Mittwoch, 30 Oktober 1985       )

Lieber Paul …* (A)

Lieber Paul, aus der Halle
des Greisenalters, deren
Schwelle Du eben betritts<t>
winke ich Dir ent-
05 gegen ein wenig schon auf dem Rollband
voran geglitten und heisse
Dich herzlich willkommen.
Angenehm ist es hier
der Sound aus den Boxen
10 klingt schon etwas leiser
Dafür sehen die Plastikbäume noch immer 
wie echt aus – Bis zum Ausgang
hinten ist es noch
weit und das Band // 185
15 rollt langsam. Ich denke
wir haben noch Zeit.

Mittwoch, 30 Oktober 1985       )

Lieber Paul …* (B)

Lieber Paul, aus der Halle
des Greisenalters, deren
Schwelle du eben betrittst
winke ich Dir ent-
05 gegen ein wenig schon auf dem Rollband
voran geglitten und heisse
Dich herzlich willkommen.
Angenehm ist es hier,
der Sound aus den Boxen
10 klingt zwar schon etwas leiser: Dafür
sehen auch hier die
Plastikbäume wie echt aus. Zum Ausgang
hinten ist es noch weit, und das Band
rollt langsam. Man kann
15 nur hoffen, das bleibt so.

Donnerstag, 31 Oktober 1985       )

Lieber Paul …* (C/D)

Lieber Paul, aus der Greisen-
Disko, deren Schwelle
Du eben betrittst,
winke ich Dir, ein wenig 
05 schon auf dem Rollband
vorangeglitten, entgegen und heisse
Dich herzlich willkommen.
Angenehm ist es hier,
der Sound aus den Boxen
10 klingt zwar schon leiser, dafür
sehen auch hier die
Plastikbäume wie echt aus. Zum Ausgang
hinten ist es noch weit, und das Band
rollt langsam. Ich wünsche
15 uns beiden, das bleibt so.

Dein Kuno

Dienstag, 10 Mai 1988       )

Durchgang I

Stehen die endlichen
Räume in den undurchdringlichen
Mauern, fasst mich
Ungeduld, als ob ich
05 weiterwüsste, als ob ich verpflichtet
wäre, weiterzuwissen und doch nicht
weiterwüsste und keinen
Ausgang fände und keinen
Durchgang, obwohl es ganz nah ist, ganz
10 nahe sein muss, es gibt die
sichere Lücke, die zu erraten
die zu ertasten ich hier bin, hereinge-
worfen, gefallen in die letzte
Zisterne, das // 188
15 Lichtauge, fern
fern oben schliesst sich,
nicht einmal mehr ein Schimmer
erhellt die Mauer,
an der meine Hand die
20 Stelle sucht, die einzige Stelle,
die vorwitzig vorspringt und sich
greifen lässt mit den
Fingern, tasten, ertasten, und dann
aufreissen. Ich reisse
25 an dem winzigen Riegel, die Wand
springt auf, oder viel eher, sie
rückt langsam zur Seite.
Ich klemme die Hand, ich
schiebe mich ganz, drücke
30 mich in die Lücke. Und dort, // 189
jenseits eine andere Höhle,
ebenso dunkel. Es gibt
dort auch eine Klinke,
einen Riegel, einen
35 Stein der vor steht,
um ihn zu fassen, zu drücken, zu
schieben. Doch die Öffnung,
Eröffnung jenseits ist nur wieder
eine andere Höhle.
40 Eine Höhle, Zisterne,
Grube neben und nach der
andern. Wo dann

1988 * (nicht datiert)       )

Durchgang* / II

endlich am Ende das Meer,
nach der letzten mit blutiger
Hand zur Seite geschobenen // 190
oder durchschlagenen Wand die
05 weite offene See
ohne Grenze? Beim
Austritt aus dem Verlies
käme ein Schiff
ein Kahn
10 käme heran und nähme mich auf
und trüge mich
auf die Insel Atlantis
oder auf eine
andere ähnliche
15 Insel der Einweihung und der Verwandlung // 191
jenseits
des Randes der Scheibe.

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