Mittwoch, 28 Juli 1954

Die heilige Katharina

Wenn die Taube
täglich, bevor das Rufen der Männer
der Müllabfuhr und ihr
Rasseln mit den Eimern weckt
05 die Schläfer,
die sich, eine angestrengte Falte 
über die Stirn, senkrecht,
die anzeigt, ihre Mühe, wieder einzuschlafen
umdrehn mit Ächzen:
10 hoch fliegt vorüber zum Turm in Alexandrien,
die gefangene Jungfrau zu nähren,
steht im Schlafrock die Freundin
auf dem Küchenbalkon und winkt
dem Freund dieser Nacht hinab
15 auf den Hof, wo nun schnell er sein
Rad besteigt, selber winkend zurück,
und er gefällt ihr im dunklen Rock
mit den goldnen Zeichen der Post,
wohin er vor morgen zurückkkehrt, // 031
20 wie er ihr gefiel, da er schlief
an ihrer Seite und sie nochmals
die kleine Lampe mit dem Schirm
von schwülfarbner löchriger Seide
andrehte, und sich setzte im Bett,
und lang ihn ansah.
25 Jetzt steht sie und winkt
und sieht die Taube, eh sie hineingeht,
fliegen, ohne dass sie wüsste wohin.
Bis sie nach Tagen, vielen, steht wieder
und winkt und rafft über der Brust
30 den alten, geblümten Schlafrock zusammen
und fasst, sich wendend, das Haar // 032
mit einer Spange zum Knoten:
und sieht hoch überm Kamin des Hotels überm Hof,
wo flattert immer die Wäsche auf dem Dachbalkon
35 in der Dämmerung und mit dem kalten
Frühwind fliegen die Engel, gross-
geflügelte Tauben, die tragen
den hellen Leichnam der Jungfrau,
ihn zu bergen auf der Spitze des Bergs,
40 der weit draussen im Dunst 
von Wolken nicht sehr verschieden 
ruht und wartet, unersteigliches Grabmal. 
Sie schaut eine Sekunde hinauf, 
verwundert, bevor sie hineingeht, 
45 sieht an das Bett, das zerwühlte,
denkt an den Freund, im Licht der
kleinen, jetzt schon bei offnen Gardinen 
bleichen Lampe mit dem löchrigen Schirm, 
indes die Männer von der Müllabfuhr
50 sich anrufen rauh und
rasselnd mit Eimern wecken die Schläfer.


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Die heilige Katharina

Wenn die Taube

täglich, bevor dieas Rufen der Männer

der Müllabfuhr und ihr

Rasseln mit den Eimern weckt

05 die Schläfer,

die sich, angestrengt eine angestrengte Falten

über die Stirn, senkrecht,

die anzeigt, ihre Mühe, wie ein
die anzeigt, ihre Mühe, wieder  zuschlafen

umdrehn mit Ächzen:

vorüber fliegt

10 hoch fliegt vorüber zum Turm in Alexan-

drien,

die gefangene Jungfrau zu nähren,

stehxx
steht  im Schlafrock die Freundin

auf dem Küchenbalkon und winkt

dem Freund dieser Nacht hinab

15 auf den Hof, wo nun schnell er sein

Rad glücklich besteigt, selber winkend

zurück,

und er gefällt ihr auch¿ im dunklen Rock

mit den goldnen Zeichen der Post,

wohin er vor morgen zurückkehrt, //

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20 wie er ihr gefiel, da er schlief neben ihr

an ihrer Seite und sie nochmals

die kleine Lampe mit dem löchrigen Schirm

von schwülfarbner löchriger Seide

andrehte, damit sie ihn sähe und sich setzte

im Bett,

und lang ihn ansah.

Schon¿ über¿ Sie steht und winkt

25 Jetzt steht sie und winkt [ und rafft

über der Brust den alten geblümten

Schlafrock zuammen und fasst,

sich wendend, das lange Haar

mit einer Spange zum Knoten ]

und sieht die Taube, eh sie hineingeht,

ohne zu wissen fliegen, ohne dass sie wüsste

wohin.

Bis sie nach Tagen, vielen, winkt steht wieder

sich wendendt

und sich winkt
und sich wendet und rafft über der Brust

30 den alten, geblümten Schafr Schlafrock zusam-

men

und fasst, sich wendend, das Haar //

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mit einer Spange zum Knoten:

und sieht hoch überm Kamin des Hotels

überm Hof,

wo flattert immer die Wäsche auf dem Balkon

Dachbalkon

in der Dämmerung umit dem
35 in der Dämmerung und im  kalten

Frühwind fliegen die Engel, gross-

geflügelte Tauben, die tragen

den hellen Leichnam der Jungfrau,

ihn zu bergen auf der Spitze des Bergs,

40 der weit draussen im Dunst

von Wolken nicht sehr verschieden

ruht und wartet, unersteigliches Grabmal.

Sie schaut eine Sekunde hinauf,

verwundert, bevor sie hineingeht,

45 sieht an das Bett, das zerwühlte,

denkt an den Freund, im Licht der 

kleinen, jetzt schon beim offnen Gardinen

bleichen Lampe mit dem löchrigen Schirm,

und weiss nicht mehr, was sie sah,

indes die Männer von der Müllabfuhr

50 sich anrufen rauh und

rasselnd mit Eimern xx wecken die Schläfer.

28.7.54

  • Details:

    V. 06 Emendation: Falten → Falte

  • Besonderes:

    Notiz (S. 129):
    Die Engel tragen den Leichnam der Jungfrau auf den Berg und setzen ihn in einem Marmorstein bei.
    Vorher bringt ihr eine weisse Taube täglich ins Gefängnis zu essen. 

    Vgl. Tagebuch, 15.1.1956:
    Vielleicht ist es ein Sakrileg, das Profane so unmittelbar dem Heiligen zu konfrontieren, das Obszöne, nackt Sinnliche dem entrückt Asketischen, Geistlichen, Jenseitigen gleichzusetzen. Vielleicht ist es ein Sakrileg: vielleicht aber gerade umgekehrt ist es eine Heiligung, das notwendige immer wieder und längst wieder fällige Unternehmen, alles, gerade auch das Sinnlichste, Stofflichste, Naturhafteste, Elementarste als heillig und mit dem überliefert Heiligen im intimsten Zusammenhang stehend zu zeigen.

  • Letzter Druck: Die verwandelten Schiffe 1957
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Fassung: Erste Fassung
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-c/07
  • Seite / Blatt: 030, 031, 032
  • Werke / Chronos: Dieses enorme Gedicht, 76-77

Inhalt: 57 Entwürfe zu 42 Gedichten, Notate zu szenischen Texten, Motiv-Notizen
Datierung: 14.1.1954 – 3.10.1955
Textträger: Hellbraunes Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten (S. 94-114 fetter schwarzer Bleistift)
Publikation: Die verwandelten Schiffe (19 Gedichte), GEDICHTE (1 Gedicht), Verstreutes (4 Gedichte)
Signatur: A-5-c/07 (Schachtel 29)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1954, 1955, Typoskripte 1954, 1955
Kommentar: S. 120-122 Motive zu Gedichten
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (keine Umschriften bei Prosanotaten)

Weitere Fassungen

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