Klappentext

Dieser schon kurz nach Fertigstellung des Manuskripts 1979 von der Literatur­förderung von Stadt und Kanton Luzern mit einem Werkjahr ausgezeichnete Roman ist eine dichterische, ins Äußerste getriebene Phantasmagorie im Spannungsfeld von Religion und Sexualität. Es wird nichts mehr mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit erfaßt. Raeber löst sich von der traditionellen, vom perspektivischen Punkt des Erzählers aus organisierten Romanform zugunsten einer Erzählweise, in der er jede Person und jede Handlung in ein unmittelbares Verhältnis zueinander setzt. Es entsteht kein psychologischer Roman im überkommenen Sinne. Denn interessant sind für den Autor seine Gestalten nur in ihrer Bezogenheit auf das Grundproblem des Romans, die Frage nach Freiheit und Bindung.

Der Zerstörungsversuch von Laszlo Toth, des geistesgestörten Australiers ungarischer Herkunft, an der Pietà des Michelangelo im Petersdom in Rom, ist Ausgangspunkt für die Flut gequält geträumter Bilder von der Sünde und der bis in die Erniedrigung getriebenen Fleischlichkeit. Die Mutter, die ins Maßlose beherrschender, erdrückender Liebe entrückte Figur, der Sohn, der sich entziehen und sein eigenes Sein, sein Selbst und die Mutter «töten» will – das ist der Kern des kunstvoll verschachtelten Geschehens, einer Raserei in den Bildern der Legenden: Mythologie und Provokation; Gegenwart und Vergangenheit; von den Tiefen der Geschichte bis in eine Schrecken erregende Utopie vom «Ende des bösen Zeitalters, des Äons der Gewalt», in dem die Peterskirche in Staub zermalmt wird. Die Jury der Luzerner Literatur­förderung zur Preisverleihung 1979: «Die glühende und verzehrende, selbstverzehrende Sprache, die Kuno Raeber dabei wagt, erweist ihn, stärker vielleicht als je, als einen Schriftsteller, der fähig ist zu Leiden und Leidenschaft und zum Ausdruck für beides.»

Die Werkgeschichte des Romans lässt sich bis ins Detail verfolgen anhand der Vorstufen, die im Nachlass des Schweizerischen Literaturarchivs (SLA) aufbewahrt werden. → Vgl. Kuno Raebers Romanwerk (2022), S. 106–160.

Eine Publikation mit der Paralleldarstellung von Notizbuch- und Druckfassung ist in Vorbereitung.

Das Ei / Roman

Düsseldorf: Erb Verlag 1981
160 Ss, keine Kapitelzählung

Nachdruck in:
Werke in 7 Bänden, Bd. 3 (WA3)

Und da stand vor mir dieses Ei, neben der Kaffeetasse stand es im Becher, und ich wußte nicht, wie lange es da stand, ich wußte nur, daß ich mich nicht entschließen konnte dazu, es zu zerschlagen, daß ich Angst davor hatte, den Löffel zu erheben gegen das Ei und das Ei zu zerschlagen. Weil alles darin war, weil die ganze Geschichte darin war, und wenn ich das Ei zerschlagen hätte, hätte alles wieder von vorne begonnen, und ich hätte ewig weiterschreiben müssen an dieser Geschichte. Ich hätte sie von vorne zu schreiben anfangen müssen, und sie wäre wieder gleich geworden, und wenn sie auch anders geworden wäre, scheinbar, ihre Elemente wären nur anders zusammengeschüttelt, etwas anders durcheinander­geschüttelt gewesen, im Grunde hätte sich nichts geändert.

Das Ei (1981), S. 160