Synopse

(7)
Montag, 24 Oktober 1955    (    )

Die Perle

Ich kann das Mädchen,
die im grasgrünen Pijama am Haustor lungert,
nicht fragen, ich kann den alten Pförtner, der
in der Loge alte Lampenschirme flickt
und mir freundlich die Zeitung gibt,
05 und bestätigt, dass sein Sonntag schön war trotz Regen,
ich kann die Bäume am Weg, die mir die Blätter
verdriesslich zuwerfen,
nicht fragen:
ob sie die Perle gesehen, die ich heute früh // 022
beim Erwachen plötzlich hielt in der Geisthand,
10 die mir sogar das Rasieren erträglich
und das Ankleiden leicht gemacht hatte
mit ihrem inneren Glanz.
Ich kann sie nicht fragen,
denn irgendwo auf der Treppe ging sie verloren,
15 fiel hinab unter ein Wahlresultat,
unter ein Gespräch mit der Fürsorgerin über
den Mathematikstudenten aus Wien,
ganz hinab, bis dort, wo ich allein, höchstens, sie finde,
so tief, dass ich ganz aufkratzen muss meine Böden
und alle Pflaster meiner Strassen aufreissen muss // 023
20 und vielleicht auch dann niemals wieder sie finde.
Aber was weiss schon ein Mädchen im Pijama,
was weiss ein Pförtner, was wissen die blattschwachen
Bäume,
was weiss die um alle besorgte Fürsorgerin
von der am Morgen in die Geisthand aus
25 der schon wieder weggeschwemmten Muschel
gefallenen Perle?

In: Notizbuch 1955-57
Dienstag, 25 Oktober 1955    (    )

Die Perle (A)

Ich kann das Mädchen, das im grasgrünen Pijama am Haustor gähnend
auf den Postboten wartet, nicht fragen,
ich kann den alten Pförtner, der in der Telefonzentrale Tischlampen lötet 
und mir die Zeitung herausreicht
und bestätigt, dass sein Sonntag schön war trotz Regen, nicht fragen: 
ob sie die Perle gesehen hätten, die ich heute früh beim Erwachen 
plötzlich hielt in der Geisthand, 
05 die mir mit ihrem Glanz sogar das Rasieren erträglich und das 
Ankleiden leicht gemacht hatte. 

Ich kann sie nicht nach der Perle fragen: 
irgendwo ging sie verloren 
und fiel hinab unter ein Wahlresultat,
oder im Gespräch mit der Fürsorgerin unter das Bild des
musikalischen Mathematikstudenten, der an der Strudlhofgasse 
in Wien wohnt, laut Formular, 
10 fiel hinab unter die Mathematik und unter die Gassen von Wien, 
bis dort, wo ich allein, höchstens, sie finde, 
wenn ich mein Pflaster ganz aufkratze und hinabsteige in meine 
Abwasserkanäle, vielleicht. // 02

Den Kopf würden das Mädchen im Pijama 
und der Pförtner und die Fürsorgerin schütteln, 
15 wenn ich sie nach der Perle früge, 
die mir heute früh beim Erwachen in der Hand lag: 
Sie war mir wohl von der Muschel, die die Ebbe davontrug, geblieben.

In: Manuskripte 1955
Sonntag, 06 November 1955    (    )

Die Perle (B)

Ich kann doch das Mädchen,
das am Haustor im grasgrünen Pijama gähnt und offenbar auf den
Postboten wartet,
nicht fragen; 
ich kann doch den Pförtner, 
05 der in der Telefonzentrale Tischlampen lötet und mir die Zeitung 
herausreicht, 
nicht fragen: ob sie die Perle gesehen hätten, 
die ich heute früh beim Erwachen in der Hand hielt 
und die mir sogar das Rasieren erträglich und das Ankleiden 
leicht gemacht hatte

Ich kann nicht nach der Perle fragen: 
10 irgendwo fiel sie hinab, 
zum Beispiel vielleicht im Gespräch mit der Fürsorgerin unter 
das Bild und die Karteikarte des Mathematikstudenten, // 04
der Musik macht und an der Strudlhofgasse in Wien wohnt, 
vielleicht fiel sie in der Gasse in Wien
in ein Kanalloch hinab,
bis dort, wo ich allein, höchstens, sie finde, 
15 wenn ich mein Pflaster ganz aufkratze und hinabklettere
in meine Abwasserkanäle, vielleicht. 

Den Kopf würden das Mädchen im Pijama und der Pförtner und 
die Fürsorgerin schütteln, 
wenn ich sie plötzlich nach einer Perle früge, 
die mir heute früh beim Erwachen in der Hand lag: 
Sie war mir wohl von der Muschel, als die Ebbe sie wegtrug, 
geblieben.

In: Manuskripte 1955
Dienstag, 22 November 1955    (    )

Die Perle (C)

Ich kann doch das Mädchen,
das im grasgrünen Pijama am Haustor auf den Postboten 
wartet und gähnt, 
nicht fragen –
ich kann doch den Pförtner, 
05 der in seinem Verschlag Tischlampen lötet
und mir die Zeitung herausreicht, 
nicht fragen: 
ob sie die Perle gesehen hätten, 
die ich beim Erwachen heute früh in der Hand hielt 
und die mir sogar das Rasieren erträglich und das Ankleiden 
leicht gemacht hatte

10 Ich kann sie nicht nach der Perle fragen: 
irgendwo fiel sie hinab, 
zum Beispiel vielleicht, im Gespräch mit der Fürsorgerin, 
unter das Bild und die Karteikarte des Mathematikstudenten, 
der Musik macht und von der Strudlhofgasse in Wien kommt, 
15 vielleicht fiel sie dort in ein Kanalloch hinab, 
bis dort, wo ich allein, höchstens, sie finde, 
wenn ich mein Pflaster ganz aufkratze und hinabklettere 
in die Abwasserkanäle. // 06

Den Kopf würden das Mädchen und der Pförtner und die 
Fürsorgerin schütteln, 
wenn ich sie plötzlich nach einer Perle fragte, 
20 die mir beim Erwachen heute früh in der Hand lag: 
Sie war mir wohl von der Muschel, als die Ebbe sie wegtrug, 
geblieben.

In: Manuskripte 1955
Samstag, 10 Dezember 1955    (    )

Die Perle (D)

Ich kann doch das Mädchen,
das im grasgrünen Pijama am Haustor auf den Postboten wartet
und gähnt,
nicht fragen –
ich kann doch den Pförtner, 
05 der in seinem Verschlag Tischlampen lötet und mir die Zeitung 
herausreicht, 
nicht fragen: 
ob sie die Perle gesehen hätten, 
die ich beim Erwachen heute früh in der Hand hielt. 

Ich kann sie nicht fragen: 
10 irgendwo fiel die Perle hinab, 
zum Beispiel im Gespräch mit der Fürsorgerin 
unter das Bild und die Karteikarte des Mathematikstudenten, 
der Cello spielt und von der Strudlhofgasse in Wien kommt; 
vielleicht fiel sie dort in ein Kanalloch, 
15 bis hinab, wo ich allein, höchstens, sie finde, 
wenn ich das Pflaster aufkratze und tief in die Abwasserkanäle 
[tief] krieche: 

Den Kopf würden das Mädchen und der Pförtner und die 
Fürsorgerin schütteln, 
wenn ich sie plötzlich nach einer Perle fragte, 
die mir beim Erwachen heute früh in der Hand lag: 
20 Sie war mir von der Muschel, die die Ebbe wegtrug, geblieben.

In: Manuskripte 1955
Samstag, 17 Dezember 1955    (    )

Die Perle (E)

Ich kann doch das Mädchen,
das im grasgrünen Pijama am Haustor auf den Postboten
wartet und gähnt,
nicht fragen –
ich kann doch den Pförtner, 
05 der in seinem Verschlag Tischlampen lötet und mir die Zeitung
herausreicht, 
nicht fragen: 
Nicht fragen, ob sie die Perle gesehen hätten, 
die ich beim Erwachen heute früh in der Hand hielt. 

Ich kann nach der Perle nicht fragen: 
10 irgendwo fiel sie hinab, 
zum Beispiel im Gespräch mit der Fürsorgerin 
unter das Bild und die Karteikarte des Mathematikstudenten, 
der Cello spielt und von der Strudlhofgasse in Wien kommt; 
vielleicht fiel sie dort in ein Kanalloch, 
15 bis hinab, wo ich allein, höchstens, sie finde, 
wenn ich das Pflaster aufkratze und tief in den
Abwasserkanal krieche. 

Den Kopf würden das Mädchen und der Pförtner und die
Fürsorgerin schütteln, 
wenn ich plötzlich nach einer Perle fragte, 
die mir beim Erwachen heute früh in der Hand lag: 
20 sie war mir von der Muschel, die die Ebbe wegtrug, geblieben.

In: Manuskripte 1955
Datiert: 1955    (    )

Die Perle

Ich kann doch das Mädchen,
das am Haustor im grasgrünen Pijama auf den Postboten wartet und gähnt,
nicht fragen –
ich kann doch den Pförtner,
05 der in seinem Verschlag Tischlampen lötet und mir die Zeitung herausreicht,
nicht fragen:
Nicht fragen, ob sie die Perle gesehen hätten,
die ich beim Erwachen heute früh in der Hand hielt.

Ich kann nach der Perle nicht fragen:
10 Irgendwo fiel sie hinab,
zum Beispiel im Gespräch mit der Fürsorgerin
unter das Bild und die Karteikarte des Mathematikstudenten,
der Cello spielt und von der Strudlhofgasse in Wien kommt;
vielleicht fiel sie dort in ein Kanalloch,
15 bis hinab, wo ich allein, höchstens, sie finde,
wenn ich das Pflaster aufkratze und tief in den Abwasserkanal krieche.

Den Kopf würden das Mädchen und der Pförtner und die Fürsorgerin schütteln,
wenn ich plötzlich nach einer Perle fragte,
die mir beim Erwachen heute früh in der Hand lag:
20 Sie war mir von der Muschel, die die Ebbe wegtrug, geblieben.

In: Typoskripte 1955
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