
Die Sibylle
Nur in den ersten Nächten des Frühlings
singt die Sibylle: die braunen Gebirge
sind in jenen dann für eine Weile
grün und ihre Stimme erregt
05 die Büsche des Steilhangs zum Blühen.
Meine Seite bleibt leer,
das sind nicht Nächte zum Schreiben.
Aber das ist ein Zwang,
der andre¿ meinen Zimmernachbarn
10 hinab in die Hotelbar treibt
zu den Schnäpsen, den langwimprigen
Blicken, den schlecht geröteten Lippen.
Mich treibt die Stimme der Sibylle zum Schreiben. //

Die rauhe uralte. Aber es|ist nicht genug,
15 es reicht nicht. Ich laufe zum Tempel,
sie flieht in die Cella.
Noch gerade das billige¿, geblumte
Kleid erkenn ich. Sie verb hat sich verborgen.
Nur¿Der der¿ Mond aber strahlt jetzt erst,
20 voll, die Hänge duften verderblich:
wie verschieden sind doch die Rhythmen:
die Droge Sibylle wirkt auf sie erst jetzt am
stärksten.
Mir reicht sie nicht
Mich erschrecken Ruin schon wieder Ruinen,
Blüten erinnern an Gräber.
25 Ich laufe hinab an zu den Fällen
des Anio; sie übertönen //

die nun zerkratzte Stimme der Sibylle im Hirn
und jene Strofe Hölderlins,
der von weitem nur die Süsse
30 dieser Landschaft erfuhr.
Für ihn gab es noch dies „vonweitem“,
Uns bedrängen die alten
Landschaften der Sehnsucht.
Sie sind zu leicht erreichbar.
35 Wir sehnen uns nach Osten,
wo es nicht Tempel, nicht Sibyllen gäbe,
wo man uns ganz allein mit uns liesse.
20.7.57