Donnerstag, 20 Juni 1957

Der Fisch

Die Fischhändlerin leert den Eimer auf die Strasse: Es fällt nicht ins Gewicht gegen den glühenden Asphalt
und ist schon, bevor es die Strasse begriff, nicht mehr da und verdunstet.

Seit ich einmal, herumfahrend in meinem
Wasser, durch meine Kiemen dies stille,
dies kühle, dies flüssige treibend und ziehend,
Betrachtung des namenlosen, darin ich 
05 still lebe, das mich dahinträgt.

Seit ich einmal hinauf stiess, gelockt
von einer Stelle höheren Glanzes und grösserer Wärme:

von dort, hiess es, war
irgendwoher einmal der Meteor,
10 der Fremdstein, die fremde Koralle // 031
herabgekommen und hatte von den unsern viele getötet.
Nun liegt sie da, in den Augen Seesterne,
auf der Brust Polypen:
Bild eines Hochfischs. Wie verzehrt uns
15 Begier, ihm ähnlich zu werden. …

Seit ich einmal hinaufstiess in die Richtung,
wo höherer Glanz und grössere Wärme
mir den Ort des Eintritts verhiessen:
fürchte ich mich:
20 denn ich stiess in die Leere. Was
uns alle umgibt,
die kühle, die flüssige namenlose Betrachung // 032
war nicht mehr da:
Nichts war da und eine unerbittliche Hitze.
25 Mir stockte die Bewegung der Kiemen.
Die Flossen fanden nicht mehr das Allgemeine,
dagegen zu fächeln.
Es war das Ende der Welt.

Kam der Hochfisch herab von dort?
30 Gehn wir dahin und verlieren 
Kiemen und Flossen?
Durch wieviele Tode?

Nun aber sinkt ein anderer Hochfisch herab,
weich und faulend, auf den weissen, harten: // 033
35 Sind wir nur noch letzte Söhne des Hochfischs,
eine Abart, die sich erhielt,
weil es dort, jenseits, im Leeren, 
zu leben unmöglich?

Der Hochfisch war, vielleicht, nur eine Übertreibung.
40 Hier muss man bleiben in der blauen, kühlen Betrachtung
und die durch Wärme und Glanz verdächtigen Stellen vermeiden.
Aber ich wohne ab morgen in dem einen noch leeren
Ohr des harten, in der Welt nun schon heimischen Hochfischs: // 034
Dort ist die Erinnerung an das, was zu erforschen ich aufgab,
45 eben erträglich und rund 
umfängt mich die Mahnung vor aller
Ausschweifung:
Und täglich sag ich mir zehnmal, am besten
nachmittags, vor:
50 Nichts gibt es, nichts gibt es ausser hier.
Dort draussen lebt niemand, dort ist nur die Leere.


Seite 030 (A-5-d_01_030.jpg)

Der Fisch

×

Seit ich einmal, herumfahrend in meinem Wasser

Wasser, durch meine Kiemen dies stille,

dies kühle, dies flüssige treibend und ziehend,

Kontemplation des

Betrachtung des namenlosen, darin ich

05 still lebe, das mich dahinträgt.

Seit ich einmal hinauf stiess, gelockt gelockt

von einer Stelle des höchsten

von einer Stelle höheren Glanzes, und grösserer

Wärme:

von dort, hiess es, war

irgendwoher einmal der Meteor,

10 der Fremdstein, die fremde Koralle //

Seite 031 (A-5-d_01_031.jpg)

herabgekommen und hatte von den unsern viele getötet.

Nun liegt sie da, in den Augen Seesterne,

Polypen auf der Brust Polypen: ein Hochfisch, Bild eines

ein¿ Hochfischs

Bild eines Hochfischs. Wie verzehrt uns

schmacht

15 Begier, ihm ähnlich zu werden. …


Seit ich einmal hinaufstiess in die Richtung,

wo höherer Glanz und grössere Wärme

mir den Ort des Eintritts verhiessen:

fürchte ich mich:

20 denn ich|stiess in die Leere. Was

uns alle umgibt,

die kühle, die flüssige namenlose Betrachtung //

Seite 032 (A-5-d_01_032.jpg)

war nicht mehr da:

Nichts war da und eine unerbittliche Hitze.

25 Mir stockte die Bewegung der Kiemen.

Die Flossen fand nicht mehr das Allgemeine,

dagegen zu fächeln.

Es war das Ende der Welt.

So kamKam der Hochfisch herab von dort?

30 Gehn wir dahin und verlieren 

Kiemen und Flossen?

Durch wieviele Tode?

Nun aber sinkent die schrecklichen ein anderer

Hochfisch

herab,

weich und faulend, auf den weissen, harten: //

Seite 033 (A-5-d_01_033.jpg)

35 Sind wir nur noch letzte Söhne des Hochfischs,

eine Abart, die sich erhielt,

weil es dort, jenseits, im Leeren,

zu leben unmöglich?

Der Hochfisch war, vielleicht, nur eine Übertrei-

bung.

40 Hier muss man bleiben in der blauen, kühlen

Betrachtung

und vermeiden

und die durch Wärme und Glanz verdächtigen Stellen

vermeiden.

Aber ich wohne ab morgen in einem dem einen noch

leeren

Ohr des harten, heimisch in der Welt nun schon

heimischen Hochfischs: //

Seite 034 (A-5-d_01_034.jpg)

Dort
Hier ist die Erinnerung an das, was zu erforschen

ich aufgab,

45 eben erträglich und rund

umfängt mich die Mahnung vor allemr

Ausschweifung:

Und täglich sag ich mi zehnmal
Und täglich sag ich mir einmal, am besten

nachmittags, vor:

50 Nichts gibt es, nichts gibt es ausser hier.

Dort draussen lebt niemand, dort ist nur die

Leere.

20.6.57

× Die Fischhändlerin leert den Eimer auf die Strasse:

das Wasser (Sie hasst das Wasser und lacht und saugt

es schon¿ spurlos auf in den glühenden Asphalt). Es

fällt nicht ins Gewicht gegen den glühenden Asphalt

und ist schon, bevor es die Strasse begriff, nicht mehr da und

verdunstet.

20.6.57

 

  • Details:

    V. 26 Emendation: fand → fanden

  • Letzter Druck: GEDICHTE 1960
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Fassung: Erste Fassung
  • Strophen: ja
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-d/01
  • Seite / Blatt: 030, 031, 032, 033, 034

Inhalt: 39 Entwürfe zu 39 Gedichten, 1 Dramenkonzept (1 Endfassung), Motiv-Notizen
Datierung: 8.4.1957 – 14.6.1958
Textträger: Hellbraunes Notizbuch, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten
Publikation: GEDICHTE (12 Gedichte), Verstreutes (3)
Signatur: A-5-d/01 (Schachtel 29)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1957, 1958, Typoskripte 1957, 1958
Kommentar: ab S. 124 Motiv-Notizen
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (ohne die Motive)

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