Entstanden: 12. Mai 1958

Du machst täglich deine „einsame Übung“
und weisst nicht,
ob es mehr ist, als eine Schuletüde
wertlos an sich,
05 woran du dich ganz gibst.

Wirst du das Konzert selber
jemals spielen?
Wird nicht vielleicht bloss die Art,
mit der du die Finger spreizest
10 und weit auseinanderliegende Tasten
gleichzeitig anschlägst, // 074
Vorbild sein für den Lehrer dessen,
der das Konzert einmal aufführt und kann?

Das ist vielleicht, höchstens, dein Auftrag.
15 Doch du weisst nur sicher,
dass die Schneegebirge über den Palmen,
den grünen Brunnen nicht wirklicher
steigen in dein Gedicht,
Granada und die Boboligärten nicht wirklicher steigen
20 hernieder in dein Gedicht,
als deine Verdauungsbeschwerden, als deine
Schmerzen am After,
dein stockender Stuhlgang, // 075
das Brennen. Wer eine
25 Fornarina geküsst und begattet,
schickt sie am Morgen weg.
Denn die „einsame Übung“
erträgt keine Gesellschaft. Er wird
sie malen vielleicht als Madonna.
30 Aber es ist ihm
lieber, wenn sie ihn in der nächsten
Nacht bei einem andern vergisst.
Die „einsame Übung“ verbietet
die Liebe als Zustand. Fiametta
35 wird darum in der Kirche begraben,
und darum gehn die Huren
in der Prozession feierlich hinter dem Himmel: // 076
Sie wiederholen unendlich
das „retardierende Sterben, um zwei
40 Tote zu erzeugen“: Nur die Toten, die
Ausgeglühten, deren Herz
die Spritze Wollust stets neu wieder anästhesiert hat,
sind fähig zur „einsamen Übung“.

Wozu, wer weiss schon wozu?
45 Du weisst nur: die Brunnen, die Gipfel[,]
Granadas, die Boboligärten treiben
dich nicht mehr als die Schmerzen im After, // 077
dein stockender Stuhlgang
täglich zur „einsamen Übung“.

Infos
  • Besonderes: Notizen (S. 124):
    Valéry: Kunst ist „einsame Übung“. Ausdruck seiner selbst wichtiger als Mitteilung. „Die willentliche Anstrengung erzeugt Schönheit.“ – Ähnliches bei Leonardo. (Hocke I, S. 199) 17.IV.58
    Marino: Das Liebesspiel ein retardierendes Sterben, um zwei Tote zu erzeugen. Brustwarzen: Feuerstrahlen im Schnee. Phallus: verliebtes Panier, süsser Pfeil der Liebe. (Hocke I, S. 180) 17.IV.58
  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Verse
  • Datierung: vollständig
  • Fassung: Erste Fassung
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-d/01
  • Seite / Blatt: 073, 074, 075, 076, 077