Synopse

(4)
Mittwoch, 15 Dezember 1954    (    )

Der Kohlenschlepper dringt …*

Der Kohlenschlepper dringt
in den engen Kanal, der, ungewohnt,
flieht in grossen Wellen hinauf
an die Mauern der Häuser, 
05 an die Mauern des Palastes,
wo noch immer, wenn von
der Vorüberfahrt nur noch
Sirenentöne in den Treppenhäusern
hängen und Ölflecke, 
10 dirnenhaft schillernd
die badenden Knaben be-
schmutzen,
schüttelt der Engel in den Zimmern,
angstfiebrig irrend // 057
15 das kahle Gezweig der
dicht verwachsnen, vergilbten,
Palmbüsche, die trostlos
seit Jahrzehnten
wuchern und, toter
20 Urwald, die Gänge undurchdringlich verwirren
und seine Spitzenwäsche,
das feine Hemd ihm zerreissen,
was kaum er bemerkt,
weil eine Spinne sich aus den
25 Zweigen herablässt und kriecht
über sein rosiges Bein.
Er steht im Glashaus des Grauens,
rührt nicht Finger und Fittich,
damit ers nicht erschlüge.
30 Am Morgen kommen die Kinder und
rufen: warum denn steht // 058
dieser Engel unter Glas. Und die
Mutter lacht und erklärt:
Warum wohl? So wird er nicht staubig.

In: Notizbuch 1954-55
Donnerstag, 16 Dezember 1954    (    )

Der Engel im Glashaus (A)

Das Motorboot dringt
in den engen Kanal, der flüchtet
in springenden Wellen 
hinauf an die Mauern des Hauses, 
05 wo noch immer Sirenentöne auf den 
Treppen nachheulend kauern, 
wenn draussen nur noch Ölflecke 
dirnenhaft die badenden Knaben beschmutzen. 

Aber noch schüttelt der Engel, 
10 durch die Zimmer angstfiebrig irrend, 
das kahle Gezweig der 
dicht verwachsnen, vergilbten 
Palmtagbüsche, die seit Jahrzehnten 
trostlos wuchern und, toter Urwald, 
15 die Gänge undurchdringlich verwirren.

Schüttelt, obwohl ihm die Zweige 
die feine Wäsche zerreissen, 
bis ihm eine Spinne auf den rosigen, 
von Spitzen zärtlich gefassten 
20 Marzipan-Schenkel hinabfällt. 
Nun steht er im Glashaus des Grauens 
und rührt, damit es nicht zerbreche,
nicht Finger und Fittich. // 02

Den Knaben, die kehren vom Bad 
25 im Kanal und verwundert rufen: 
Was nun steht unter Glas dieser Engel, 
lacht die Mutter: Warum wohl? 
So wird er nicht staubig.

In: Manuskripte 1954
Montag, 20 Dezember 1954    (    )

Der Engel im Glashaus (B)

Das Motorboot dringt
in den engen Kanal, der in springenden
Wellen die Mauern des Hauses 
flüchtet hinauf, wo noch immer, 
05 wenn draussen nur noch Ölflecke 
dirnenhaft die badenden Knaben beschmutzen, 
auf den Treppen Sirenen- 
töne nachheulend kauern. 

Wo noch schüttelt der Engel, 
10 durch die Zimmer angstfiebrig irrend, 
das kahle Gezweig der 
verwachsnen, vergilbten 
Palmtagbüsche, die seit Jahrzehnten 
trostlos wuchern und, toter Urwald, 
15 die Gänge undurchdringlich verwirren. 

Schüttelt, obwohl ihm die Zweige 
die feine Wäsche zerreissen, 
bis er sieht, dass eine Spinne 
ihm auf den von Spitzen zärtlich gefassten 
20 rosigen Schenkel herabfiel: 
Nun bläst sein Blick und schliesst 
um ihn die Glasglocke des Grauens, 
und er rührt, damit ers nicht zerbreche, 
nicht Finger, nicht Flügel. // 04

25 Den Knaben, die, schmutzig zurück 
vom Bad im Kanal, verwundert 
rufen: Warum steht unter Glas 
dieser Engel? lacht die Mutter: 
Warum wohl? So wird er nicht staubig.

In: Manuskripte 1954
Montag, 27 Dezember 1954    (    )

Der Engel im Glashaus (C)

Das Motorboot dringt
in den Kanal, des Wellenflüchtlinge
springen die Mauern des Hauses 
hinauf, wo auf den Treppen noch immer, 
05 wenn draussen nur noch Öflecke 
dirnenhaft die badenden Knaben beschmutzen, 
Sirenentöne nachheulend kauern. 

Wo noch immer der Engel 
schüttelt das kahle Gezweig der 
10 verwachsnen, vergilbten 
Palmtagbüsche, die seit Jahrzehnten 
trostlos wuchern und, toter Urwald, 
die Gänge undurchdringlich verwirren. 

Schüttelt, obwohl ihm die Zweige 
15 die feine Wäsche zerreissen, 
bis ihm die Spinne auf den 
von Spitzen gefassten rosigen 
Schenkel herabfällt. 
Nun bläst sein Schreckblick und schliesst 
20 die Glasglocke um ihn des Grauens; 
damit er sie nicht zerbreche 
rührt er nicht Finger, nicht Flügel. // 06

Die Knaben, die, schmutzig zurück 
vom Bad im Kanal, rufen: Warum 
25 steht unter Glas dieser Engel? 
schiebt zur Seite mit der Hand 
ihres besseren Wissens die Mutter: 
Warum wohl? So wird er nicht staubig.

In: Manuskripte 1954
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