Mit der Reformation kam eine Bewegung ins Rollen, die wohl nicht wieder zur Ruhe kommt und sich immer mehr beschleunigen wird, als bis die Gestalt überhaupt restlos aufgelöst ist, bis zum // 120 Triumph der reinen Innerlichkeit: bis die Welt das Reich des Bösen geworden ist und die Gegenwart Gottes nur noch in bestimmten begrenzten Bezirken geglaubt und erfahren wird.
02 Es gibt wenig Furchtbareres als die Überhebung dieser Spiritualisten, die sich allein Offenbarungsträger glauben, in jeder Gestalt aber den Antichrist vermuten. Der grossen Menge der Unerleuchteten begegnen sie mit der beleidigenden Liebe des Wissenden, der ja auch weiss, dass selbst die Torheit und Bosheit der grossen Mehrzahl von Gott zum Guten gelenkt wird.
03 Eigentümlich: diese Reduktion des Christentums auf einen biblischen // 121 Glauben der Urgemeinde, dieses Ausspielen der Bibel gegen die kirchliche Überlieferung, als ob man nicht die Bibel von der Kirche überliefert bekommen hätte, als ob es ohne Kirche überhaupt noch eine Bibel gäbe. Soll mir das Christentum noch etwas bedeuten, so kann ich doch darunter nur den in der Kirche überlieferten Glauben und die in der Kirche überlieferten sakramentalen Geheimnisse verstehen. Lehne ich diese lebende Autorität ab, so sehe ich nicht ein, warum ich aus dem ganzen Schatz nur ein Stück, die Bibel nämlich, behalten soll. Im Augenblick, wo ich willens bin, mich von jeder sichtbaren Autorität zu abstrahieren, // 122 kann ich auch von der Bibel abstrahieren und mir eine eigene Welt errichten und sie nach eigenem Gutdünken ausstatten; es gibt da genug Mobiliar in den religiösen und philosophischen Überlieferungen aller Erdteile, die dem autonomen Individuum genau so hochwertig und leuchtend erscheinen können wie die christliche, in die gerade wir nun hineingeboren sind.
04 Aber auf diesem Wege kommt man nirgends hin: der christliche Glaube kann, wenn überhaupt, nur so mich verpflichten, wenn ich ihn von der Kirche, in der der Herr, der menschgewordene Gott, weiterlebt und in den Sakramenten wirkt, gehorsam annehme. Andernfalls, // 123 als blosser Buchglaube, ist er eine Lehre, die nirgends Gestalt gewinnt, beziehungslos über dem Menschlichen schwebt und nur den verpflichtet, der ihn sich intellektuell aneignet. Es handelt sich dann nur noch darum, welches Buch mir am meisten Eindruck macht, wenn ich Christ, Buddhist, Mohammedaner oder Konfuzianer werde.