Kein Datum ! . . . ( 28.02.1951 *)

Lieber Markus …*

Lieber Markus, das Lehrerspielen auf dem Dorf – ich arbeite seit letzter Woche in Dagmersellen – ist weniger beschaulich als auf der Mittelschule: ich gebe alle Fächer, die nur einigermassen in die Fakultät einschlagen und nächstens vielleicht noch andere. So bin ich den ganzen Tag beansprucht, schon weil ich zwei Mal hin- und herfahren muss. – Dies diene Dir als Erklärung, dass ich Dir – // 044 ohnehin ein sehr unregelmässiger Briefschreiber – bisher für Brief und Gedichte noch nicht gedankt habe. Zu den Gedichten will ich mich äussern, sobald ich den guten Augenblick gefunden habe, sie zu lesen. 

02 Was mir heute noch auf dem Herzen liegt, ist die Kritik von L. B. an Mohlers Buch: sie ist so frappant gescheit, der Einwand gegen die Haltung, die darin erscheint, so richtig, ja notwendig, dass es desto bedauerlicher ist, dass L. B. durch seine // 045 eigene Begrenztheit, durch eigene Überheblichkeit seine ganze Argumentation in ihrer Wirkung entkräftet: Die Überheblichkeit, die ich hier meine, die unverständliche Begrenztheit, werfe ich nicht L. B. persönlich vor, sie ist leider unter den jungen Schweizern recht verbreitet und ist desto bedauerlicher, je klüger und geistiger ihre Vertreter sind. 

03 Ich meine: es geht nicht an, man erweist jeder guten Sache einen schlechten Dienst, wenn man in einer deutsch geschriebenen Zeitschrift // 046 den Deutschen kollektiv eine Haltung vorwirft und sich betont als Schweizer auf das hohe Ross setzt. „Es wäre hier am Platz usw.“

04 Verstehst Du mich, man darf wohl denken, das und das sei eine besonders deutsche Neigung, aber man darf es niemals so sagen.  Das wirkt sehr peinlich und man bringt sich, mag man noch so gut schreiben<,> um die ganze Wirkung bei jenen, die es angeht. Man wirft den andern nationale Fehler vor und bezeugt, dass // 047 man selber einem der schlimmsten des eigenen Volkes unterworfen ist, der selbstbespiegelnden Überheblichkeit. L. B. soll ruhig alles tadeln, er soll sagen, was er sagt, ich gebe ihm sachlich mehr als recht, er darf auch als Schweizer an den Deutschen Aussetzungen machen. Aber das muss der Leser merken, das darf er nicht sagen! Es ist betrüblich, wie auf dem Gebiet des geistigen Gespräches in unserem Zeitalter des Hypernationalismus die Kultur abgesunken ist. Und das Betrüblichste ist: dass alle mitmachen, ob sie nun Kaegi // 048 oder L. B. heissen. Sie haben alle ein Talent, ihre besten Gedanken in einer Form zu bringen, dass sie nicht diskutiert werden können, weil sie den andern stets in seiner nationalen Empfindlichkeit brutal angreifen und ihn so zur Abrede, zur Verteidigung zwingen. 

05 Muss man denn immer das Plakat „Schweizer“ auf der Brust tragen? Kann man es nicht einfach sein, ohne es immer wieder neu aller Welt expressis verbis zu versichern? und mit menschlichen Worten // 049 zu Menschen, mit europäischen Worten zu Europäern sprechen? 

06 Ich mag dieses Einanderzurufen aus den Luken der Festungen je länger je weniger. Vor hundert Jahren hätte man das mit Recht als barbarisch empfunden. Nun, ich glaube das geht nicht mehr lange so weiter. Jeden Tag wachsen die Kräfte, die uns schliesslich zwingen, die Zugbrücken hinunterzulassen und uns unter freiem Himmel ohne Panzer und Visier ins Auge zu sehen, ganz einfach // 050 und ohne alle nationalistischen Vernebelungen. 

Sehr herzlich Dein

Februar 51


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  • Besonderes:

    Adressat: Markus Kutter
    Betr. Armin Mohlers (1920-2003) Basler Diss. Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932 (1950).

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: ohne Datumsangabe
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/04
  • Seite / Blatt: 043 (unten), 044, 045, 046, 047, 048, 049, 050 (oben)

Inhalt: Prosanotate, Briefe, 88 Entwürfe zu 75 Gedichten (15 Endfassungen)
Datierung: 12.11.1950 – 14.12.1951
Textträger: Rotes Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 144 beschriebene Seiten
Publikation: Verstreutes (3 Gedichte)
Signatur: C-2-b/04 (Schachtel 79)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1948-50, Kutter
Kommentar: 29 Texte rhythmische Prosa, 20 gereimte Gedichte, 14 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Deckblatt oben: Kuno Räber, Mitte: Begonnen am 12.11.50
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

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