Notizbuch 1949

Inhalt: Notizen, 47 Entwürfe zu 39 Gedichten (5 Endfassungen)
Datierung: 5.3.1949 – 7.12.1949
Textträger: Blaues Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten
Publikation: Gesicht im Mittag (6 Gedichte)
Signatur: C-2-b/02 (Schachtel 79)
Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1945-50, 1948-50
Kommentar: 14 Texte rhythmische Prosa, 24 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (19 private Prosanotate nicht erschlossen)
Wehe Dehnung dieses Überganges
übern Absturz schwankt die Brücke lang.
Reich ist wohl die bunte Karawane
mit den Purpurtüchern perlenreich behängt
05 und der Kräuter kommt der heilenden die Fülle.
auch die Früchte alle saftig und erquickend.
Doch stets noch geht der Zug auf schwanker Brücke // 045
auf weher Dehnung dieses Übergangs.
Es bleibt Gefahr, dass er die freudig bangend
10 die jenseits lang schon warten nie erreicht.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Letzter Druck: GESICHT IM MITTAG 1950
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 044 (unten), 045 (oben)
Wehe Dehnung dieses Überganges
übern Absturz schwankt die Brücke lang.
Reich sind wohl der bunten Karawane
Purpurtroddeln mit den Perlgehängen
05 in den Kräutern kommt der Heilung Fülle
Saft der Früchte will den Durstigen letzen.
Doch solang der Zug auf schwanker Brücke
geht, auf dieser wehen Brücke Dehnung,
bleibt Gefahr dass er die freudig bangend
10 jenseits lang schon warten nie erreicht.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Letzter Druck: GESICHT IM MITTAG 1950
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 045 (unten)
Fällt der Abend schwer in diese stete Stille
fällt der Traum in lichterlose Nacht
wachsen ganz zutiefst schon Leuchtesträucher
flattert ganz zutiefst der Leuchtevogel auf
05 Leuchtevogel auf dem glimmenden Gezweige
singt und wirft sein Lied in stete Stille
Liedes Wachheit tief in Traum und Nacht.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 046 (oben)
Ist das Erste nicht, was wir verwunden,
ist das zweite nicht, das uns gebricht,
hat ein Gott uns heiliger entbunden,
gab ein Gott uns strahlenderes Licht. // 047
05 Gingen wir bislang auf Düsterwegen
diese letzte Wendung war uns gut
da ein neues Licht uns gross entgegen
scheinend uns in diese Helle lud.
Schluchten sind wir, Ängstliche, entrungen,
10 Klippen die uns überdrohten kalt
Fels bewehrte Schattenniederungen
sind nicht mehr vor dieser Lichtgewalt.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 046 (unten), 047
Die Wege sind aus Bachesniederungen
hinangebäumt den buschigen Bergeshang
wo Echse und, die Farben feurig wechselnd,
der Käfer eilt im grün gebannten Licht.
05 Da wehen wohl aus Gartenblust herüber
der gelbe Staub und selbst der Schmetterling
Fremdlinge bunte in die Sinnesstille
die rein den Wanderer auf den Berg umschweigt.
Er will das andere nicht das ihn verwirre
10 steht er doch lang an Städte netzendem Wasser
und auf den Strassen welche Vielgestalt
der Güter führen in die Weiten. So erblickt
sein fest gezieltes Auge nicht den Falter
und nicht den goldnen Staub, ja selbst den Käfer // 049
15 die Echse, der Sinnesstille Hüter, grüsst er kaum.
dem schattenlosen Gipfel eilt er zu
wo kein Strauch mehr klare Sicht beengt.
Und das Getier bleibt flüchtig unterm Felsen.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Letzter Druck: GESICHT IM MITTAG 1950
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 048, 049 (oben)
Scharf ist der weisse Strahl
in fahler Niederung
der donnerhelle Fall
in vage Dämmerung
05 Es springen übern Damm
die Tiere neu herein:
das silberne Lamm
schwimmt durch den Wein.
So fährt in Berauschung
10 der Schläfer empor
den Sang seines Gottes
im sausenden Ohr: // 050
die neue Maschine
nächtlich erwacht
15 fertigt Platine
mineralische Pracht.
Alles geschärft
im gebannten Gebot.
Anfänglichen Gottes
20 Tempel sind tot.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Details: V. 18 gebannten] ev. gebäumten
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung, Letzte Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 049 (unten), 050 (oben)
Euch ist, euch ist
Schwebenden in den lauteren Räumen
alles wirklicher sichtbar
fern unerreichbar
05 (wie durch ein umgekehrtes Fernglas)
doch ganz sichtbar ohne jede Verwischung:
der Baum wie ein seltener Kristall
wie glänzende Kiesel die Häuser
und der Mensch wie ein Gott
10 ruhig wandelnd // 051
um seine Werke
er selber das höchste
das vollkommenste Werk.
Ihr kennt nicht die Träume
15 nicht die Schlangen im Abgrund
sie erscheinen nicht in dem Bild,
denn sie sind anderer Herkunft
und das wahre Dasein
das eigentliche Dasein
20 kennt nimmer das Finstre,
es sei denn die scharfen
Schatten des Mittags
wo die Müden ruhn
es sei denn die silbernen
25 Schatten des Mondlichts
wo die Liebenden sich umfangen.
Euch ist, euch ist
das Wirkliche sichtbar // 052
fern sichtbar
im vollkommenen Einen
30 das alles trägt
als Sonne in sich und
unsterbliches Urbild
sichtbar, was überall ist
und nur in jener Kugel
35 zum voraus ganz und vollendet.
Glücklich seid ihr,
Sehende Engel
Schwebende in lauteren Räumen.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 050 (unten), 051, 052 (oben)
Wer will denn noch Vollkommenes errichten
und Tempel bauen überm wirren Forst
der auf den Felsenschroffen jenes Bergs // 053
die letzte Höhe unersteigbar hält?
05 Die grösste Tat zu tun ist stets unmöglich.
Es seien uns die stillen Lichter Trost,
die übern Abgrund Schritte lenkend grüssen
Sie anzuschauen ist den Harrenden gut
und ist genug, bis jener Steg geschlagen
10 der mit den Äxten für den Baumschlag sie
und mit den Blöcken sie hinüber führt
zum lang geplanten höchsten Tempelbau.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Letzter Druck: GESICHT IM MITTAG 1950
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 052 (unten), 053 (oben)
Wer kann denn bauen schon Vollkommenes
und Tempel richten überm wirren Forst
der auf den Felsenschroffen jenes Berges
die letzte Höhe unersteigbar hält?
05 Solang die grosse Tat zu tun unmöglich
gewähren uns die stillen Lichter Trost // 054
die übern Absturz grüssen, Wandrern wehrend
Sie anzuschauen ist den Harrenden gut
und ist genug, bis jener Steg vertäut
10 der mit den Äxten für den Baumschlag endlich
und mit den vorbehaunen Quadern führt
zum eitel lang geplanten Gipfelbau.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Letzter Druck: GESICHT IM MITTAG 1950
- Textart: Verse
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 053 (unten), 054 (oben)
Das Gegensatzpaar des Ethischen und Ästhetischen wird je länger je gegenstandsloser<.> Zeugt von Unfähigkeit, die Erscheinungen als ein Ganzes zu nehmen. Leute, die in jedem zweiten Satz mit den Begriffen Entscheidung, Wagnis, Sprung um sich werfen, sind zum vorneherein verdächtig: dass sie in einem wesentlichen Punkt // 055 unreif geblieben sind, sich stets selber bespiegeln müssen und für jede Handlung und jedes Verhalten eine Rechtfertigung vor sich selber suchen müssen. Statt, wie es doch natürlicher scheint, spontan aus innerem Antrieb zu leben und zu handeln. Statt von innen nach aussen leben sie von aussen nach innen. Es fehlt ihnen auch nur schon der Wille zur Freiheit und Grazie des Daseins, zu jener Sorglosigkeit, die den Menschen überhaupt doch erst adelt. Sie haben kein Vertrauen in sich selbst, in das göttliche Gesetz, das in ihnen wirkt. Sie leben in panischer Angst und steter Sorge (worauf sie so stolz sind) das Eigentliche zu verfehlen. Statt sich doch diesem Eigentlichen zu überlassen. // 056 Es ist ja in ihnen oder nirgends<.> Ist es Aufgabe des Menschen, seine Gebrochenheit und Zerrissenheit – das gibt es fraglos – zu überwinden und in neue Ganzheit zu wachsen, so ist es im Gegenteil ihre Bemühung, sich selber immer mehr zu zerfleischen, das Gebrochene immer wieder zu zerbrechen. Darin besteht für sie die Verantwortung, die ethische Existenz und wie immer sie das nennen.
02 Die Vermutung liegt nahe, dass den Ethischen wirkliche existenzielle Tiefe, wirkliche Berührbarkeit und Erschütterbarkeit fehlt; denn sonst würden sie längst nicht mehr leben. Sie spielen mit Gefahren, weil sie sie nicht kennen, an einem Abgrund, von dessen Vorhandensein // 057 sie keine Ahnung haben. Darum reden sie immer davon. Wer um die ungeheure Gefahr der Selbstzerfleischung, um die uns allen eingeborne Neigung zur mörderischen Selbstreflexion weiss, der wird immer wieder und immer mehr versuchen, hinaus- und hinaufzukommen über sich selber und sichtbare, objektive Gestalt zu setzen. Etwas, das nicht kommt und geht mit den Nöten und Ängsten des Individuums. Das Individuum ist soviel, als es mehr ist als bloss Individuum. Alles andere ist bloss Spielerei mit Seifenblasen, unentrinnbar in einem geschlossenen Kreis gefangen.
03 Es liesse sich überlegen, woher, historisch, dieser Zerrissenheitskult kommt: // 058 unmittelbar wohl vom Christentum, und hier verschärft ihn die Reformation ganz stark, das Prinzip der Reformation, ihre verhängnisvolle Innerlichkeitswut, vollendet und erneuert sich dann in Kierkegaard und all seinen Schülern und Varianten bis heute.
04 Die ganz grossen Epochen und die ganz grossen Geister waren aber alle „ästhetisch“ gerichtet. Das heisst, sie hielten letztlich die Harmonie des Ganzen für entscheidend. Und das Ethische figurierte für sie als ein Sonderfall des Ästhetischen, d.h. als Ausdruck des Vollkommenen in einem bestimmten Bereich. Über diesen Punkt waren sich Platon, Augustinus, Dante, Michelangelo und Goethe wohl // 059 einig. Dass unsere „Ethischen“ sie deswegen als oberflächlich und unverantwortlich verachten, dürfte sie kaum sehr anfechten. Denn es dürfte wohl nicht zweifelhaft sein, wer hier Mass gibt und wer gemessen wird.
30.5.49
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Besonderes: Gleicher Text wieder im Tagebuch, 30.5.1949
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 054 (unten), 055, 056, 057, 058, 059 (oben)
Aber schon kommen herauf diese lichten Erbauer, die Herren der Tiefe, die Ampeln tragen aus dem Berge herauf, den schimmernden Schluchten. Sie tragen die Steine herbei, die unsichtbaren seit den Stürzen des Anfangs, die unsichtbaren seit der Sintflut, sie tragen sie herauf in dieser Nacht auf den Gipfel zum Bau des Tempels der Göttin, der klaren mit dem Schild und mit den weisheitstrahlenden Augen. Dort soll // 060 sie wohnen in der innersten Kammer, die aus den Steinen des Erdkerns gefügt, dort soll sie wohnen, die ganz geistige, deren Heimat über dem höchsten, feurigen Himmel. Heilig ist uns das Ganze, vollkommen, aus beiden Sphären geeint: Tempel sind nur auf den Gipfeln, dieser Gottheit, der geistigen, nur auf dem Gipfel, wo aus dem Haus der Titanen, ihrem uralten Gelass, stossen die Mauern als Klippen empor als ewige Berge empor durch die Äcker und Triften der Erde empor in den reinen Himmel der geistigen Mächte.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Prosagedicht
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 059 (unten), 060
Manche Blume ist noch Glut, eh sie noch in diesem Tag erfror. Manches Feuer ist noch Flamme, eh es in diesem Mittag erstarrt: grosses Gestirn ohne jede Drehung.
02 Aber hier hier bricht das neue Herz auf, dies Gestirn der Liebe inmitten der unbewegten Massen, inmitten der Mauern aus Tod das glühende Herz, die blühende Blume. O purpurne Wunde, klaffend ins unerschlossene Innre, wo noch die Vulkane glühen Vulkane der Zeugung. Die bersten hervor Gluten des ewigen Lebens, Gluten der lebenspendenden Liebe.
- Details
- Konvolut: Notizbuch 1949
- Letzter Druck: Unpubliziert
- Textart: Prosagedicht
- Datierung: vollständig
- Fassung: Erste Fassung
- Schreibzeug: Bleistift
- Signatur: C-2-b/02
- Seite / Blatt: 061