Donnerstag, 16 Juni 1949

Nichts zweifelhafter im Grunde als unsere Beziehung zum Göttlichen …*

Nichts zweifelhafter im Grunde als unsere Beziehung zum Göttlichen: es mag sein, dass wir uns im vollen Eingang wähnen, in der stets grösseren Annäherung an die Mitte, in zunehmender Verwesentlichung, dass unser Gefühl es so sagt, dass wir aber im Grunde gerade jetzt aus der Einheit fallen, dass uns der Gott verworfen hat und zu dieser Verwerfung die sicherste und grausamste Methode wählte: indem er uns Sicherheit gab, uns im Vertrauen in uns selber in unsere Möglichkeit wachsen liess. Darum sind die Zeiten des Glückes, des vermeinten Glückes, die Zeiten der Freiheit // 066 so gefährlich. Was wissen wir schon um unsern wahren Stand? Vielleicht waren es solche Empfindungen, solche Erlebnisse, die die Gnadenlehren Augustins, Luthers, usw. bestimmten. Was nützt uns höchste Wirksamkeit, drängende Produktivität, wenn der Glutkern in uns erlischt, wenn der Geist Gottes das Heiligtum verlässt?

02 Hier vielleicht eine Funktion des Trübsinns, der stets wiederkehrenden Melancholien des Lebens denkbar: sie rufen uns an den Ausgangspunkt zurück, sie zwingen uns zur Einsamkeit in uns selber, zur Überprüfung der wahren Lage. Jetzt, da wir ganz bloss sind von allem, was uns von aussen zukommt, von Gedanken und Bildern, die doch stets ein Sekundäres sind, jetzt, da wir ganz bloss sind, // 067 ist uns die Möglichkeit gegeben, dass wir unsere Nacktheit erkennen.

03 Wohl, es ist ein Spiel, das mit uns getrieben wird, wir erkennen seinen Sinn nicht, was aber nicht heisst, dass es keinen hat. Uns bleibt nichts, als fest auf beiden Füssen zu stehn und uns zu wehren, damit wir nicht untergehen. Und wenn wir die ganze Nacht gekämpft haben, kann es sein zwar, dass uns der Engel schlägt. Aber vielleicht segnet er uns auch. Weil wir taten, was wir konnten. Handeln können wir nur nach Mass der Erkenntnis. Oder ist verlangt, dass wir sehen, was wir nicht sehen? Das wäre möglich und furchtbar.

16.6.49


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Nichts zweifelhafter im Grunde als

unsere Beziehung zum Göttlichen:

es mag sein, dass wir uns im vollen Ein-

gang wähnen, in der stets grösseren An-

näherung an die Mitte, in zunehmen-

der Verwesentlichung, dass unser Gefühl

es so sagt, dass wir aber im Grunde ge-

rade jetzt aus der Einheit fallen, dass

uns der Gott verworfen hat und zu die-

ser Verwerfung die sicherste und grau-

samste Methode wählte: die er¿ er in-

dem er uns Sicherheit gab, uns im

Vertrauen in uns selber in unsere Mög-

lichkeit wachsen liess. Darum sind

die Zeiten des Glückes, des vermeinten

Glückes, die Zeiten der Freiheit //

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so gefährlich. Was wissen wir schon

um unsern wahren Stand? Viel-

leicht waren es solche Empfindungen,

solche Erlebnisse, die die Gnadenlehren

Augustins, Luthers, usw. bestimmten.

Was nützt uns höchste Wirksamkeit, voll¿

drängende Produktivität, wenn der Glut-

kern in uns erlischt, wenn der Geist

Gottes das Heiligtum verlässt?

02 Hier vielleicht eine Funktion des Trüb-

sinns, der stets wiederkehrenden Melan-

cholien des Lebens denkbar: sie sie

rufen uns an den Ausgangspunkt zu-

rück, sie zwingen uns zur Einsam-

keit in uns selber, zur Überprüfung

der wahren Lage. Jetzt, da wir ganz

bloss sind von allem, was uns von aus-

sen zukommt, von Gedanken und

Bildern, die doch stets ein Sekundä-

res sind, jetzt, da wir ganz bloss sind, //

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ist uns die Möglichkeit gegeben, dass wir

unsere Nacktheit erkennen.

03 Wohl, es ist ein Spiel, das mit uns

getrieben wird, wir erkennen seinen

Sinn nicht, was aber nicht heisst, dass

es keinen hat. Uns bleibt nichts, als

fest auf beiden Füssen zu stehn

und uns zu wehren, damit wir nicht

untergehen. Und wenn wir die gan-

ze Nacht gekämpft haben, kann es

sein zwar, dass uns der Engel

schlägt. Aber vielleicht segnet er uns

auch. Weil wir dataten
auch. Weil wir das getan haben,

was wir konnten. Handeln können

wir nur nach Mass unserer der Erkennt-

nis. Oder ist von uns verlangt, dass wir

sehen, was wir nicht sehen? Das wäre

möglich und furchtbar.

16.6.49

 

  • Besonderes:

    Gleicher Text wieder im Tagebuch, 16.6.1949

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/02
  • Seite / Blatt: 065 (unten), 066, 067

Inhalt: Notizen, 47 Entwürfe zu 39 Gedichten (5 Endfassungen)
Datierung: 5.3.1949 – 7.12.1949
Textträger: Blaues Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten
Publikation: Gesicht im Mittag (6 Gedichte)
Signatur: C-2-b/02 (Schachtel 79)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1945-50, 1948-50
Kommentar: 14 Texte rhythmische Prosa, 24 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (19 private Prosanotate nicht erschlossen)

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