Montag, 30 Mai 1949

Zu einem Gespräch mit G. u. E. Huber

Das Gegensatzpaar des Ethischen und Ästhetischen wird je länger je gegenstandsloser<.> Zeugt von Unfähigkeit, die Erscheinungen als ein Ganzes zu nehmen. Leute, die in jedem zweiten Satz mit den Begriffen Entscheidung, Wagnis, Sprung um sich werfen, sind zum vorneherein verdächtig: dass sie in einem wesentlichen Punkt // 055 unreif geblieben sind, sich stets selber bespiegeln müssen und für jede Handlung und jedes Verhalten eine Rechtfertigung vor sich selber suchen müssen. Statt, wie es doch natürlicher scheint, spontan aus innerem Antrieb zu leben und zu handeln. Statt von innen nach aussen leben sie von aussen nach innen. Es fehlt ihnen auch nur schon der Wille zur Freiheit und Grazie des Daseins, zu jener Sorglosigkeit, die den Menschen überhaupt doch erst adelt. Sie haben kein Vertrauen in sich selbst, in das göttliche Gesetz, das in ihnen wirkt. Sie leben in panischer Angst und steter Sorge (worauf sie so stolz sind) das Eigentliche zu verfehlen. Statt sich doch diesem Eigentlichen zu überlassen. // 056 Es ist ja in ihnen oder nirgends<.> Ist es Aufgabe des Menschen, seine Gebrochenheit und Zerrissenheit – das gibt es fraglos – zu überwinden und in neue Ganzheit zu wachsen, so ist es im Gegenteil ihre Bemühung, sich selber immer mehr zu zerfleischen, das Gebrochene immer wieder zu zerbrechen. Darin besteht für sie die Verantwortung, die ethische Existenz und wie immer sie das nennen.

02 Die Vermutung liegt nahe, dass den Ethischen wirkliche existenzielle Tiefe, wirkliche Berührbarkeit und Erschütterbarkeit fehlt; denn sonst würden sie längst nicht mehr leben. Sie spielen mit Gefahren, weil sie sie nicht kennen, an einem Abgrund, von dessen Vorhandensein // 057 sie keine Ahnung haben. Darum reden sie immer davon. Wer um die ungeheure Gefahr der Selbstzerfleischung, um die uns allen eingeborne Neigung zur mörderischen Selbstreflexion weiss, der wird immer wieder und immer mehr versuchen, hinaus- und hinaufzukommen über sich selber und sichtbare, objektive Gestalt zu setzen. Etwas, das nicht kommt und geht mit den Nöten und Ängsten des Individuums. Das Individuum ist soviel, als es mehr ist als bloss Individuum. Alles andere ist bloss Spielerei mit Seifenblasen, unentrinnbar in einem geschlossenen Kreis gefangen.

03 Es liesse sich überlegen, woher, historisch, dieser Zerrissenheitskult kommt: // 058 unmittelbar wohl vom Christentum, und hier verschärft ihn die Reformation ganz stark, das Prinzip der Reformation, ihre verhängnisvolle Innerlichkeitswut, vollendet und erneuert sich dann in Kierkegaard und all seinen Schülern und Varianten bis heute.

04 Die ganz grossen Epochen und die ganz grossen Geister waren aber alle „ästhetisch“ gerichtet. Das heisst, sie hielten letztlich die Harmonie des Ganzen für entscheidend. Und das Ethische figurierte für sie als ein Sonderfall des Ästhetischen, d.h. als Ausdruck des Vollkommenen in einem bestimmten Bereich. Über diesen Punkt waren sich Platon, Augustinus, Dante, Michelangelo und Goethe wohl // 059 einig. Dass unsere „Ethischen“ sie deswegen als oberflächlich und unverantwortlich verachten, dürfte sie kaum sehr anfechten. Denn es dürfte wohl nicht zweifelhaft sein, wer hier Mass gibt und wer gemessen wird.

30.5.49


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Zu einem Gespräch mit G. u. E. Huber:

Dieas Gegensatzpaar des Ethischen
Dieas Alternative zwischen dem Ethischen

und Ästhetischen iswird je länger je ge-
und Ästhetischen ist mir je länger je un-

gegenstandsloser/Zeugt von 
begreiflicher d Als  Unfähigkeit, die Erschei-

nungen als ein Ganzes zu nehmen. Was

soll man dazu sagen, wenn Leute, die

in jedem zweiten Satz mit den Begriffen

Entscheidung, Wagnis, Sprung um

sich werfen, sind zum vorneherein verdäch-

tig: dass sie in einem wesentlichen Punkt //

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unreif geblieben sind, sich stets selber

bespiegeln müssen und für jede Hand-

lung und jedes Verhalten eine Recht-

fertigung vor sich selber suchen
fertigung vor sich selber suhen müs-

sen. Statt, wie es doch natürlicher

scheint, spontan aus innerem An-

trieb zu leben und zu handel han-

deln. Sie leben Statt von innen

nach aussen leben sie von aussen nach

innen. Es le¿ fehlt ihnen auch nur

schon der Wille zur Freiheit und

Grazie des Daseins, zu jener Sorg-

losigkeit des, die den Menschen über-

haupt doch erst adelt. Sie haben

kein Vertrauen in sich selbst, in das

göttliche Gesetz, das in ihnen wirkt.

Sie leb leben in panischer Angst und

steter Sorge (worauf sie so stolz sind)

das Eigentliche zu verfehlen. Statt sich

doch diesem Eigentlichen zu überlassen. //

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Es ist ja in ihnen oder nirgends

scheIst
Scheint es Aufgabe des Menschen, seine

Gebrochenheit und Zerrissenheit – das

gibt es fraglos – zu überwinden und in

neue Ganzheit zu finden wachsen, so

ist es im Gegenteil ihre Bemühung,

sich selber immer mehr zu zerfleischen,

das Gebrochene immer wieder zu zer-

brechen. Darin besteht de¿ für sie

die Verantwortung, die ethische Exi-

stenz und wie immer sie das

nennen.

02 Die Vermutung liegt nahe, dass den

Ethischen wirkliche ex existenzielle

Tiefe abgeht, wirkliche Berührbarkeit

und Erschütterbarkeit fehlt fehlt; denn

sonst würden sie längst nicht mehr

leben. Sie spielen mit Gefahren, die

weil sie sie nicht kennen, an einem

Abgrund, von von dessen Vorhandensein //

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sie keine Ahnung haben. Darum

reden sie immer davon. Wer um die

ungeheure Gefahr der Selbstzerflei-

schung, um denie uns allen eingeborne

Neigung zur S mörderischen Selbst-

reflexion weiss, der wird immer wieder

und immer mehr versuchen, weg-

hinaus- und hinaufzukommen über

sich selber und irgendwie sichtbare,

objektive Gestalt zu setzen. Etwas,

das nicht kommt und geht mit den

Nöten und Ängsten des Individuums.

Das Individuum ist soviel, als es

mehr ist ist als bloss Individuum.

Alles andere ist bloss Spielerei im

x Kreis mit Seifenblasen, unent-

rinnbar in einem geschlossenen Kreis

gefangen.     30.5.49

Es liesse sich überlegen, woher letztlich,

historisch, dieserDenkweise  kommt: in
historischethisch-existenzialistische
historische ethisch-Zerrissenheitskult//

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unmittelbar wohl vom Christentum, und

hier findet dieer Zerrissenheit verschärft

ihn die Reformation ganz stark, das

Prinzip der Reformation, ihre gem-

verhängnisvolle Innerlichkeitswut, voll-

endet und erneuert sich dann in

Kierkegaard und all seinen Schülern

und Varianten bis heute.

03 Die ganz grossen Zei Epochen und die

ganz grossen Geister waren aber alle

„ästhetisch“ gerichtet. Das heisst, sie

hielten letzti letztlich die Harmonie

des Ganzen für entscheidend. Und

das Ethische figurierte für sie als ein

Sonderfall des Ästhetischen, d.h.

als Ausdruck des Vollkommenen in

einem bestimmten Bereich. Über

diesen Punkt waren sich Platon, Au-

gustinus, und  Michelangelo und Goet

Dante, Michelangelo und Goethe wohl //

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einig. Dass unsere „Ethischen“ sie deswegen

als oberflächlich und unverantwortlich

verachten, dürfte sie kaum sehr an-

fechten. Denn es dürfte wohl nicht

zweifelhaft sein, wer hier Mass zu geben

gibt und wer gemessen wird.

30.5.49

 

  • Besonderes:

    Gleicher Text wieder im Tagebuch, 30.5.1949

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/02
  • Seite / Blatt: 054 (unten), 055, 056, 057, 058, 059 (oben)

Inhalt: Notizen, 47 Entwürfe zu 39 Gedichten (5 Endfassungen)
Datierung: 5.3.1949 – 7.12.1949
Textträger: Blaues Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten
Publikation: Gesicht im Mittag (6 Gedichte)
Signatur: C-2-b/02 (Schachtel 79)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1945-50, 1948-50
Kommentar: 14 Texte rhythmische Prosa, 24 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (19 private Prosanotate nicht erschlossen)

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