Sonntag, 10 April 1949

Zur Lage

Zur Lage: Sämtliche Ausgänge scheinen versperrt. Mein Geld wird etwa in zwei Wochen zu Ende sein: Ob mir dann Tante Luise wieder etwas geben wird, oder vielleicht Tante Martha, ist unsicher. Und selbst wenn: mit der // 013 Universität bin ich innerlich völlig zerfallen, ich sehe nicht, wie ich die Ausarbeitung einer so umständlichen und langwierigen Diss wie es die meine ist, zustande bringen soll. Hätte ich, wie es klug gewesen wäre, eine leichtere Arbeit – etwa in der Art der Bonjour-Thesen – genommen, so könnte alles glatt ablaufen. Es hätte sich dann nur um eine kleine Disziplinübung gehandelt: ein halbes, höchstens ein Jahr durchzuhalten. Die Kägi-Arbeit aber, die ich übernahm, ist unübersehbar. Ich sehe nicht, wie grosse Ansprüche sie noch stellen wird und vor allem, wie lange – selbst wenn mir das Geld zur Verfügung stünde – es dauern würde, bis ich sie vollendet hätte. Sie verlangte auf jeden Fall, auf Jahre hinaus Ablenkung meiner zentralen Energie auf etwas mir gänzlich fern Liegendes // 014 (nicht dass der Stoff mir fern läge, aber die wissenschaftliche Methode, ihn zu bearbeiten), auf etwas, was mir täglich ferner rückt. Diese Leistung aber kostet mich mein ganzes Gleichgewicht, die mühsam genug errungene relative innere Harmonie. Unterdrückung meiner zentralen Produktivität auf längere Zeit macht mich gemütskrank. Ich verliere meine ganze Sicherheit, kann nicht mehr stehen: die Seekrankheit der Seele, mit ungeheurer Anstrengung überwunden, beginnt von neuem.

02 So sieht das Ganze von innen her aus. Aber: ohne akademisch regulären Abschluss ist es sehr schwer, eine irgend ihren Mann nährende Stellung zu finden. Die Gesellschaft verlangt unerbittlich das Examen. Und ohne Stellung zu sein, kann ich mir nicht leisten. Schon darum nicht, // 015 weil ich ein volles menschliches Leben führen will, darauf kann ich noch nicht, ja immer weniger resignieren: ich möchte eine Frau lieben und von ihr geliebt werden, ich möchte Kinder haben. Und das kann ich nur mit einem wenigstens kleinen Einkommen. Die Ehe ist für mich eine notwendige Lebensform, das Zentrum des Ausgleichs und der Behütung gegen die schroffen Angriffe der Welt, die Wehr, die hält, wenn das Individuum für sich allein ins Schleudern gerät. So wenigstens sehe ich das heute.

03 Die ganze Problematik reichlich verknotet. Ich sehe nicht, wie sich das alles lösen soll. Gleichwohl, trotz aller Bedrückung und allem Nichtwissen, ich zweifle nicht, dass ich mich durchsetze. Die Erfahrung lehrt mich dass ich am Ende stets // 016 stärker bin. Es gilt nur, auszuharren. Zu übereilen gibt es da nichts. Man kann sich nicht genug der Geduld befleissen.

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Zur Lage: Sämtliche Ausgänge scheinen

versperrt. Mein Geld wird etwa in zwei Wo-

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wieder etwas geben wird, oder vielleicht Tante

Martha, ist unsicher. Und selbst wenn: mit der //

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Universität bin ich innerlich völlig zerfallen,

ich sehe nicht, wie ich die Ausarbeitung

einer so umständlichen und langwierigen

Diss wie es die meine ist, zustande bringen

soll. Hätte ich, wie es klug gewesen wäre,

eine leichtere Arbeit – etwa in der Art der

Bonjour-Thesen – genommen, so könnte alles

glatt ablaufen. Es hätte sich dann nur

um eine kleine Disp Disziplinübung

gehandelt: ein halbes, höchstens ein Jahr

durchzuhalten. Die Kägi-Arbeit aber,

die ich übernahm, ist unübersehbar. Ich se-

he nicht, wie grosse Ansprüche sie noch stel-

len wird und vor allem, wie lange – selbst

wenn mir das Geld zur Verfügung stün-

de – es dauern wir würde, bis ich sie

vollendet hätte. Sie verlangte auf je-

den Fall, auf Jahre hinaus Ab-

lenkung meiner zentralen Energie auf

etwas mir gänzlich fern Liegendes //

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(nicht dass der Stoff mir fern läge, aber

die wissenschaftliche Methode, ihn zu

bearbeiten), auf etwas, was mir täglich fer-

ner rückt. Diese Leistung aber kostet mich

mein ganzes Gleichgewicht, die müh-

sam genug errungene innere relative in-

nere Harmonie. Unterdrückung meiner zen-

tralen Produktivität auf längere Zeit

macht mich gemütskrank. Ich verliere

meine ganze Sicherheit, kann nicht mehr

stehen: die Seekrankheit der Seele, mit

ungeheurer Anstrengung überwunden, be-

ginnt von neuem.

02 So sieht das Ganze von innen her aus.

Aber: ohne akademisch regulären Abschluss

ist es sehr schwer, eine irgend ihren

Mann nährende Stellung zu finden. Die

Gesellschaft verlangt unerbittlich das

Examen. Und ohne Stellung zu sein, kann

ich mir nicht leisten. Schon darum nicht, //

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weil ich ein volles menschliches Leben

führen will, darauf kann ich noch

nicht, ja immer weniger resignie-

ren: ich möchte eine Frau lieben

und von ihr geliebt werden, ich möchte

Kinder haben. Und das kann ich nur

mit einem wenigstens kleinen Einkom-

men. Die Ehe ist für mi mich eine
men. Die Ehe ist für mi mich ein   not-

wendige Lebensform, das Zentrum des Aus-

gleichs und der Behütunglgegen
gleichs und der Behütung  vor denie schroffen

Angriffe der Welt, die Wehr, die hält,

wenn das Individuum für sich allein ins

Schleudern gerät. So wenigstens sehe

ich das heute.


03 Die ganze Problematik reichlich verkno-

tet. Ich sehe nicht, wie sich das alles lö-

sen soll. Gleichwohl, trotz aller Bedrük-

kung und allem Nichtwissen, ich zweif-

le nicht, dass ich mich durchsetze. Die Er-

fahrung lehrt mich dass ich am Ende stets //

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stärker bin. Es gilt, nur, auszuharren.

Zu übereilen gibt es da nichts. Man kann

sich nicht genug genug der Geduld befleis-

sen.

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  • Besonderes:

    Fast identischer Text im Tagebuch c-2-a/07, Basel 10.4.1949

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/02
  • Seite / Blatt: 012 (unten), 013, 014, 015, 016 (oben)

Inhalt: Notizen, 47 Entwürfe zu 39 Gedichten (5 Endfassungen)
Datierung: 5.3.1949 – 7.12.1949
Textträger: Blaues Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 130 beschriebene Seiten
Publikation: Gesicht im Mittag (6 Gedichte)
Signatur: C-2-b/02 (Schachtel 79)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1945-50, 1948-50
Kommentar: 14 Texte rhythmische Prosa, 24 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften (19 private Prosanotate nicht erschlossen)

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