Sonntag, 19 Februar 1956

19.2.56

Kunst, Literatur, das ist Freiheit, Frechheit, Frivolität, kühnes, tollkühnes Spiel mit dem unendlichen Stoff Welt. Zur Voraussetzung hat sie geistige Überlegenheit, einen hohen Grad der Unabhängigkeit von den Bedingungen der Umwelt und Herkunft. […] Jeremias Gotthelf oder Spitteler haben für mich nie die geringste Bedeutung gehabt, obwohl sie Schweizer sind, Jakob Schaffner habe ich überhaupt nie gelesen, Siegfried Lang kaum je. Ich will mich deswegen nicht loben: Aber als Schüler und Student fielen mir andere Autoren in die Hände, bildeten andere Autoren – in einer fast ganz schweizerischen // Umwelt – den Gesprächsstoff: Rilke, Hölderlin, Trakl, George, Heym, Goethe, Jünger, Stifter, Hofmannsthal usw., alles durcheinander aufgezählt, später dann noch Kafka, Thomas Mann. Diese Autoren beschäftigten mich, waren meine Anreger, sind es zum Teil noch, meine Vorbilder. Von den Schweizern hatte ich nur eine Beziehung zu einzelnen Werken Gottfried Kellers, zu einzelnen Gedichten C. F. Meyers (die ich freilich sehr bewundere). Aber mich oder andere Schweizer in eine spezifisch schweizerische Linie einzuordnen, dafür fehlt mir jedes Verständnis. Der deutsche Sprachraum ist für mich eine Einheit, worin ich zu allem den gleichen Zugang habe, worin mich das eine mehr, das andere weniger berührt und bestimmt, nicht so sehr von landschaftlichen, sondern von individuellen Voraussetzungen her. Das Landschaftliche ist natürlich vorhanden, aber es wird vom Individuellen bis zur Unkenntlichkeit abgewandelt, vor allem in einer Zeit, wo der Intellektuelle, der bewusste // Mensch höchstens noch, wenn überhaupt, an den Raum seiner Muttersprache gebunden ist. Und wenn es für mich innerhalb dieses Raumes eine Landschaft gibt – was ich auch nicht weiss –, deren literarische Überlieferungen und Produkte mich besonders bestimmen oder bestimmt haben, so ist es sicher nicht die Schweiz, die deutsche Schweiz als eine Ganzheit (als was ich sie nie erfahren habe), sondern am ehesten der süddeutsch-katholische Bereich, der die katholischen Länder der Schweiz und Österreichs, Bayern, Franken, Teile von Schwaben umfasst. Wien, München, Bamberg, Würzburg, Freiburg lagen mir immer näher als Zürich oder Basel (obwohl ich gerade Basel immer sehr liebte). Aber heute haben auch diese Unterschiede keine große Bedeutung mehr, scheint mir; zu lange schon lebe ich, und zwar ganz vergnügt, im protestantischen Deutschland.

  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: C-2-a/09
  • Werke / Chronos: Bd.6, 223

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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