Sonntag, 10 Januar 1954

10.1.54

Es werden immer mehr Dinge ungewiss, die Einstellung zu immer mehr Dingen wird eine rein praktische. Was früher undiskutables Prinzip war, steht mir heute einfach dahin. Ich fange überhaupt erst an, die Wirklichkeit zu erkennen. So fühle ich mich zum Pädagogen so unfähig wie nur möglich: wenn ich je das Bedürfnis gehabt hätte zu belehren, jungen Leuten zu sagen, wie man dies und jenes anfängt, so spüre ich davon herzlich wenig mehr. Es konzentriert sich mir alles immer mehr ins Gedicht, als in die mir einzig mögliche Form der Übermittlung dessen, was ich zu sehen und zu wissen glaube. Sonst glaube ich nicht, dass ich jemandem etwas zu sagen hätte, was nicht auch // ein anderer ebenso gut oder besser sagen könnte.

02 „Poeta doctus“: die einzige Rechtfertigung einer Beschäftigung mit der Wissenschaft, mit dem überlieferten Wissensstoff liegt für mich darin, dass ich ihn möglichst vollständig poetisiere, ins Gedicht verwandle. Hier ist der Ort, wo ich schliesslich eine Ganzheit erreichen kann, erreichen muss. Es gibt nichts, was nicht in das Gedicht eingehen, zum Gedicht werden könnte, wenn sein Urbild, seine Grundfigur einmal erkannt, gesehen ist. Der Dichter sieht.

  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: C-2-a/08
  • Werke / Chronos: Bd.6, 190

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

Blättern zurück / vor: « 15.11.53 5.3.54 »
Tagebücher (Datum)
(Total: 101 )
Suchen: Tagebücher