Montag, 02 November 1953

2.11.53

Die Poesie subjektiv, vom Poeten her gesehen, ein Ausdruck, der Ausdruck, die notwendige Frucht des geistigen Lebens. Dies würde schon genügen: dass sie notwendig aus dem Wesen des Dichters herausfliesst, dass er nur durch sie, in ihr sein Leben, sich selbst erfährt. Denn ausser diesem Werk, diesem immer erneuten Bilden, dieser Leidenschaft des Formens gibt es ja nichts, ist nur Leere, Chaos, Dumpfheit.

02 Dies würde schon genügen, und doch genügt es nicht: Denn dazu kommt das andere, an dem sich letztlich der Wert der Poesie entscheidet, an dem sich die Frage beantwortet, ob jedes dieser Gebilde, ob dies oder jenes davon wirklich ein Gedicht ist. Es kommt dazu, dass die Poesie objektiv, von der Sache her gesehen, eine Antwort auf die Wirklichkeit, ein Abbild // der Wirklichkeit ist, jener wahren Wirklichkeit, die, von den Menschen meist nicht erkannt, unmittelbar auch nicht erkennbar, in der sichtbaren Welt, sie bestimmend, sie füllend, wunderbar drin ist und trotzdem nicht mit ihr identisch, sie unendlich übersteigend. Alles einzelne dieser Welt weist auf diese Wirklichkeit hin, ist nur aus ihr denkbar, aus ihr in seiner Gestalt erfahrbar, aber es leidet darunter, dass die Menschen diesen Hinweis nicht verstehen, dass sie seine Gestalt nicht erfahren. So lechzt die Welt nach Enthüllung, nach Durchsichtigkeit auf ihr Innerstes hin. Das wäre letztlich die Aufgabe der Dichtung, diese Enthüllung: ganz einfach, die Wirklichkeit zu zeigen, die wahre Wirklichkeit zu zeigen, indem sie den göttlichen Strahl hinlenkt auf die Welt, wodurch diese erst in ihrer Gestalt aufscheint und ihre Perspektive nach dem // Ursprung, nur ganz wenigen sonst sichtbar, dem Auge freigibt.

03 Was ist ein Gedicht wert? Soviel, als es am Ganzen Anteil hat, als es vom Ganzen enthält. Es muss in einem Minimum an Gegenständen die Substanz eines Maximums geben: eine winzige Ampulle, die mit ihrem Duft ein ganzes Haus berauscht.

  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: C-2-a/08
  • Werke / Chronos: Bd.6, 187, 188

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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