Montag, 01 Mai 1961

1.5.1961

Ein junger Mann, Roland Fleissner, lässt mich ein langes Gedicht, das er zum Tod von Hans-Henny Jahn geschrieben und auf Band gesprochen hat, anhören: Mir fällt wiederum die rücksichtslose Direktheit auf, mit der man heute alles sagt. // Wenn manche Leute sie mir vorwerfen, sind sie naiv. Was sich die ganz Jungen, was sich die amerikanischen Beatniks leisten, was Jean Genêt tut, das stellt alles bisher Bekannte in den Schatten. Und dabei sind diese Leute, ich sah es eben wieder bei diesem Fleissner, alles andere als lüstern oder obszön oder grausam. Im Gegenteil, sie sind ausserordentlich unschuldig. Sie würden gar nicht verstehen, dass irgendjemand ihre Redeweise // schockant finden könnte. Dazu kommt, dass diesem krassen Realismus im Einzelnen eine grosse Abstraktheit im Ganzen entspricht: Die unerhört brutalen und vulgären Ausdrücke und Bilder sind zu einem kunstvollen, vielschichtigen Ganzen zusammengesetzt, drücken sehr komplizierte Gedankengänge und Empfindungen aus. 

02 Ich selber, wenn ich etwa Versuche mache, in einem entsprechenden Stil // zu schreiben, fühle mich dabei unbehaglich und angestrengt. Ich stelle mir die schockierten Mienen mancher möglicher Leser vor, sehe aber im Übrigen kaum einen Gewinn für die Sache, um die es mir geht. Meistens genügen Andeutungen, sie sagen dem, der verstehen soll und kann, alles. Das ist keine Kritik an den Jungen: ihnen fehlt einfach, vielleicht zu ihrem Glück, der Begriff // der Dezenz, wie ich ihn leider noch mitbekommen habe. Für mich hat er auch keine grundsätzliche Bedeutung mehr, wohl aber eine praktische. Ich sehe ein, dass gewisse bürgerliche Regeln und Beschränkungen keinen Sinn mehr haben, dennoch sind sie in meinem Gefühl als Hemmungen geblieben. Ich setze mich über diese Hemmungen immer dann weg, wenn es sein muss, aber es hat keinen Sinn, dass ich mich in eine Attitüde // hineinsteigere, die mir nicht liegt. Das würde nur wieder zu einer andern Verkrampftheit führen. Ich muss das Meine innerhalb meiner Grenzen leisten. Diese Grenzen kann ich vielleicht langsam hinausschieben. Aber es hat keinen Sinn, dass ich, nur um up to date zu sein, eine Freiheit vortäusche, die ich nicht habe.

  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: C-2-a/13
  • Werke / Chronos: -

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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