Donnerstag, 10 April 1952

10.4.52

Ein Hauptgrund meiner Abneigung gegen die erzählende Prosa, gegen das Schreiben erzählender Prosa, scheint die Unabsehbarkeit dieser Art Arbeit zu sein: wenn ich ein Gedicht anfange, so habe ich sehr schnell ein Resultat; wenn ich auch selten schon das erste Mal damit fertig werde, so weiss ich doch schon, was noch zu tun bleibt, wenn ich es wieder vornehme. Und im Falle ich einsehen muss, dass ich nicht weiterkomme, so ist damit nicht viel verloren, ich lege die Missgeburt beiseite und fange etwas neues an. Da ich immer mehrere Gedichte auf einmal in Arbeit habe, fällt es mir nicht allzu schwer, // gelegentlich eines davon abzustossen.

02 Ganz anders bei der Prosa: man arbeitet über Wochen und Monate hinaus, mehr oder weniger auf einmal, aber immer ist das, was ich in einer Arbeitsstunde zu Papier bringe, nur ein kleines Stück dessen, was schliesslich herauskommen sollte. Nie weiss ich, wie die Arbeit weitergehen soll, ob ich sie nicht mitten drin abbrechen muss, weil sich plötzlich der ganze Ansatz als verfehlt erweist. Es ist ein Gang ins gänzlich Ungewisse, nie habe ich etwas in der Hand, von dem ich sagen kann: wenn ich das und das noch ändere, ist es fertig, kann ich es beiseite legen. Dies enerviert mich, verärgert mich im höchsten Grade gegen diese Arbeit, und Verstimmung wiederum ist der Arbeit ohnehin wenig günstig.

03 Als Gymnasiast noch schrieb ich häufig wie im Fieber, ich war von einem Bild, einer Bilderfolge über lange Zeit hin wie besessen, das riss mich vorwärts. Heute, wo ich mir jedes Wort mühsam und oft fast unter Schmerzen entreisse und abliste, reicht es, wenn ich mich immer wieder aufreisse, gerade noch zu ein paar Versen. In sie zwinge ich alles, was ich zu erfahren fähig bin, was ich vielleicht noch etwa bin und habe, mit ihnen // suche ich meinen Auftrag einzulösen (ohne zu wissen, ob es mir je gelingt). Zur Prosa fehlt mir der lange Atem, so scheint mir wenigstens bisher, die Geduld, die Kraft, der Optimismus, die Fähigkeit, in dauernder Spannung zu leben.

  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Signatur: C-2-a/07
  • Werke / Chronos: Bd.6, 165, 166

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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