Sonntag, 20 November 1949

20.11.49

Auch bei den Deutschen scheint langsam der Dichter dem Autor Platz zu machen (vgl. Ernst Jünger, Gottfried Benn: Ausdruckswelt). Es könnte dies das Zeichen sein für einen Gewinn an innerer Freiheit, für ein wachsendes Misstrauen gegen alles Krampfhafte in der geistigen Produktion. Man will sich nicht mehr auf das Pathos verpflichten und sich den Aufenthalt auf mehreren Ebenen zugleich offen lassen. Damit wird man allmählich fähig zur Literatur im französischen Sinn: das Schrifttum nicht mehr ein geschlossener Raum, zu dem niemand Zugang haben soll, vielmehr einer, der grundsätzlich allen offensteht.

02 Die Veränderung lässt sich auch begreifen // als eine neue Intensivierung der Beziehung zu Frankreich, die seit dem 18. Jhdt., zu unserem Schaden, so dünn geworden war. Freilich, das heutige Frankreich, dem wir uns wieder nahe fühlen, ist nicht mehr das, was wir im r 8. Jhdt. verlassen haben. Es hat Veränderungen erfahren durch den romantischen Geist, seine Literatur wäre kaum denkbar ohne die romantische Dichtung Deutschlands. Freilich, die neue französische Lyrik, an sie denke ich hier vorab, ist etwas anderes als das deutsche Vorbild, insofern sie den Traumgesang zum rationalen Kunstwerk gesteigert hat. Und dies rationale Kunstwerk ist es, das wir seit fünfzig Jahren den Franzosen abzulernen im Begriffe sind. […]

  • Textart: Prosanotat
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Signatur: C-2-a/07
  • Werke / Chronos: Bd.6, 122

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

Blättern zurück / vor: « 4.7.49 8.12.49 »
Tagebücher (Datum)
(Total: 101 )
Suchen: Tagebücher