Tagebuch
Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen
In dem Gedicht „Der Zipfel“ ist genau das Motiv veranschaulicht, das am Anfang aller Kunst steht, das zur künstlerischen Produktion treibt und zwingt: die Leere, die nach Gestalt schreit, sie auszufüllen. Wir malen, bilden, schreiben, um die namen- und gestaltlose Leere auszufüllen. Eine Banalität, die so wichtig ist: frühe Völker (heute noch, liest man, in Indonesien) warfen Früchte, Tiere, Menschen in den Abgrund, um die Gottheit gnädig zu stimmen. So stellen wir Gestalten vor die gähnende Leere, um sie zu besänftigen, zu beschwichtigen. Wir werfen seit Jahrtausenden // Bilder, Gedichte hinab, um sie zu füllen. Und unsere Existenz, unser Menschsein bedarf dieser Erfahrung der Leere, dieser Angst vor dem Fürchterlichen. Denn nur sie provoziert uns zur geistigen Antwort, zu jener äussersten Leistung, die allein unser Dasein von der blossen Natur unterscheidet. (Die felix culpa und die beata nox der Osterliturgie!)
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- Konvolut: Tagebuch
- Besonderes: Vgl. Der Zipfel (Typoskripte 1956)
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/09
- Textverweis: Der Zipfel (Sant' Onofrio)
- Werke / Chronos: -
Mein Vers ist vielleicht gar kein Vers im herkömmlichen Sinn, wenigstens oft nicht: die Schreibweise in festen Zeilen soll oft einfach // zum richtigen Lesen, zum richtigen Verständnis des Gedichtrhythmus anleiten. Es ist nicht gleichgültig, an welcher Stelle eine Zeile aufhört, eine neue beginnt. Meine Verse sind immer insofern Verse, als sie den Rhythmus an einer bestimmten Stelle unterbrechen, an einer bestimmten Stelle neu einsetzen lassen. Manchmal freilich fliesst die Bewegung so stetig oder es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, den Rhythmus zu interpretieren, zu lesen, dass ich darauf verzichte, die Zeilenanfänge und Enden zu fixieren. Dann entstehen die Prosagedichte. Oft fange ich ein Gedicht als Versgedicht an, und merke erst in der dritten oder vierten Fassung, dass es besser als Prosa geschrieben wird, dass ich es bloss aus Gewohnheit in Versen schrieb, oder doch fast bloss aus Gewohnheit. // Denn der weitaus grösste Teil meiner Gedichte steht hart an der Grenze von Vers und Prosa. Nur wenige setzen sich zusammen aus eindeutig festen Verskörpern, unter den neuesten vielleicht am ehesten „Zwischen den Kerzen“, „Die Nymphe“.
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- Konvolut: Tagebuch
- Besonderes: Vgl. Zwischen den Kerzen und Die Nymphe
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/10
- Textverweis: Die Nymphe , Zwischen den Kerzen
- Werke / Chronos: Bd.6, 237, 238
Ich gehöre zu jenen, die nur die höchste Ambition zur Leistung bringt. Nur wenn ich das Äusserste will, erreiche ich etwas. Und ich glaube, dass ich sogar viel erreiche. Die Frage ist nur: wie vereine ich diese Anspannung, diese unablässige Anstrengung mit dem andern, was ebenso nötig ist, für meine Arbeit nicht weniger als für meine ganze Existenz: mit der Leichtigkeit, der Ironie, dem nie Ganz- und nie Allzuernstnehmen? Es gibt da nur das stete Hinsehen auf die Exempla: Thomas Mann, André Gide, Goethe. Zugleich ernst und frivol, wissend und leichtfertig sein. //
02 Gides „Falschmünzer“ faszinieren mich durch die Kunst, die Dinge indirekt zu sagen; für den, der weiss, alles zu sagen und dem, der nicht weiss, ein unterhaltendes Spektakel zu bieten. So entsteht jene Atmosphäre des Schwebenden, Durchsichtigen, Leichten und zugleich Tiefsinnigen, des Scherzens, das Furchtbares verhüllt und zugleich präzisiert und erheitert: die Atmosphäre Mozarts. Sie ist das Höchste, was ein Kunstwerk erreichen kann. –
03 Sicher, der Gebrauch von Kategorien wie Ambition, Erreichen, Anstrengung, Hinsehen, Exempla, das Höchste bestätigt immer wieder meine christliche Herkunft, einen tief sitzenden Moralismus. // Aber im Moment komme ich noch nicht ohne aus.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/10
- Werke / Chronos: Bd.6, 237, 238
Der Hunger nach dem Absoluten greift nach jeder Erscheinung, beinah wahllos, scheinbar wahllos. In jeder Erscheinung spürt sie den Funken auf, zieht ihn heraus (Siehe: „Das inwendige Licht“) –
[…]
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- Konvolut: Tagebuch
- Besonderes: Vgl. Das inwendige Licht (In: Die verwandelten Schiffe 1957)
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/10
- Textverweis: DAS INWENDIGE LICHT
- Werke / Chronos: -
„Der Fisch und der versunkene Poseidon“: Der Fisch soll in einem lockeren, sachlichen, fast vernünftelnden Stil sprechen. Er zieht sich, praktisch, hinter die Linie zurück, die er erreicht hatte. Siedelt sich aber im Ohr des Poseidon an, um so, wenigstens theoretisch, eine Beziehung zu dem, was ihn übersteigt, zu bewahren. – Diese Art Gebilde ist spröde, hat nicht den Glanz, den ich meinen lyrischen Gedichten zu geben versuche: sie sind Lehrstücke, Balladen, mit einer handgreiflichen Moral. – Ich bin selber dieser Fisch, oder auch die Wache, die sich hütet, über // die Linie aus weissen Pflastersteinen hinauszugehen: ich bin an dem Punkt angekommen, wo ich mich zurücknehmen, d. h. die Dichtung streng vom Leben trennen muss. Das sind zwei Spiele mit ganz verschiedenen Regeln. Gerade weil ich und wenn ich in der Dichtung ein Äusserstes leisten will, muss ich mich im Leben bescheiden: d. h. versuchen, ein möglichst unauffälliges, möglichst „normales“ Leben zu führen. – Experimente muss man in dem Augenblick abbrechen, wo man merkt, dass sie uns mehr kosten und aufbrauchen, als dass sie uns einbringen und weiterführen. – Der Fisch ist nicht sympathisch, // braucht es auch nicht zu sein. Klugheit ist selten sympathisch. Aber es geht nicht ohne.
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- Konvolut: Tagebuch
- Besonderes: Vgl. "Der Fisch und der versunkene Poseidon ("Gedichte" 1960)
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/10
- Textverweis: DER FISCH UND DER VERSUNKENE POSEIDON
- Werke / Chronos: Bd.6, 246
Der Unterschied zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Darstellung besteht nicht darin, dass der Wissenschafter andere Gegenstände behandeln würde als der Künstler, nicht darin, dass beispielshalber der Wissenschafter die Gegenstände theoretisch abstrakt, der Künstler, der Dichter aber sinnlich bildhaft darstellen würde. Auf jeden Fall muss man genau // angeben, was man unter dem einen und was man unter dem anderen versteht. –
02 Der Dichter kann die gleichen Gegenstände mit der gleichen Terminologie behandeln wie der Gelehrte. Er kann sich, wenn er es beherrscht und wenn er will, des Vokabulars jeder beliebigen Wissenschaft bedienen. Der Unterschied liegt darin, dass der Dichter auch den – scheinbar – wissenschaftlichen Gegenstand, die – scheinbar – wissenschaftliche Terminologie poetisch verwendet. D.h. er wird statt logisch zu denken, der ästhetischen Forderung seines formenden Geistes folgend assoziieren. // Sogar, wenn er eine Abhandlung – scheinbar eine Abhandlung – schreibt, hat sie die Bedeutung eines Bildes. Sie will nicht überzeugen, sondern faszinieren. Es wäre ein Gedicht denkbar, das ausschliesslich aus abstrakten Begriffen bestünde und dennoch ein reines Gedicht wäre – ein reineres als jene vielen Gedichte, die Philosopheme in Bilder eingewickelt mitteilen –: wenn es nämlich diese abstrakten Begriffe einem rein ästhetischen Zwang, einem künstlerischen Antrieb folgend, ordnen und vereinigen würde. – Das gleiche gilt vom Roman: man braucht da nichts zu // sehen, zu hören, zu schmecken, im üblichen Sinn. Es genügt, wenn der Roman unsere geistige Sinnlichkeit anspricht, unseren Sinn für Rhythmus, Proportion, Spannung, Lösung auf der höchsten Stufe. Es braucht da, äusserlich, gar nicht viel zu passieren. Die Bewegung der Empfindungen des einen Menschen für einen anderen innerhalb einer Viertelstunde ist ein ausreichender Stoff für einen Roman. Dass sowohl der, der ihn zu schreiben, wie auch der, der ihn zu lesen imstande wäre, noch nicht geboren ist – wahrscheinlich – ist doch wohl kein Einwand dagegen.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/10
- Werke / Chronos: Bd.6, 274, 275
Nach einem Gespräch mit Curt Hohoff: Die spezifisch moderne Lyrik ist so wenig eine charakteristisch jugendliche Gattung der Poesie, wie die antike oder die barocke es war. Der noch weit verbreitete Glaube, es sei für einen Mann von 40 Jahren nicht mehr möglich oder sogar unwürdig, Gedichte zu schreiben, hat zur // Voraussetzung eine romantische Lehre und Auffassung der Dichtung (siehe Emil Staigers Poetik, Kapitel über Lyrik): Lyrik, im Gegensatz zur Prosa, zum Drama Äusserung eines spontanen, direkten, noch naiven Gefühls. Bewusstheit, geistige Formkraft, Distanzierung vom Stoff sind, nach dieser Auffassung, der Lyrik fremd, machen sie unmöglich. – Abgesehen davon, dass uns heute die Unterschiede der Gattungen gar nicht mehr so wichtig sind wie früheren Generationen, sind Namen // wie Goethe, Mörike (er freilich mit Vorbehalten), Meyer, Rilke, Benn Beweise genug gegen die These von der Jugendlichkeit der Lyrik. – Und was soll man erst zu Valéry, Mallarmé, Auden, Eliot sagen, deren Kunst zum wesentlichen Teil nur als die Kunst eines reifen Alters denkbar ist? Ich möchte, im Gegenteil, sogar sagen: nur das Wissen, die Skepsis, der Weltabstand, der schmerzlich-ironische, die elegisch-leidenschaftliche Erfahrung der Vergeblichkeit des reifen Lebensalters war und ist das // zu schaffen imstande, was wir als moderne Lyrik kennen. Eine Kunst, die freilich Horaz, Ovid und den Alexandrinern näher steht, auch den Dichtern des Barock, als dem 19. Jahrhundert. – Vielleicht entspricht die Lyrik als Kunstgattung unserer Zeit darum besonders, weil sich in ihr die künstlerischen Prinzipien und Methoden, die uns am nächsten liegen, am reinsten anwenden, am deutlichsten vorführen lassen. // Die kühne Assoziation, der „Bildsprung“ ist ein spezifisch lyrisches Verfahren, die Komposition der Gegensätze (der scheinbaren), alles, was man als Eigentümlichkeit moderner Dichtung kennt. Man macht das heute alles auch im Roman, im Drama. Aber in der Lyrik ist es wohl am besten am Platz: die modernen Methoden sind anstrengend, verlangen vom Autor und vom Leser jeden Augenblick die gespannteste Aufmerksamkeit. So liegt die Kurzform der Lyrik nahe. Die längere des Romans, der // Erzählung, des Dramas strengt leicht zu sehr an. So wirken moderne, wirklich moderne, Romane oft wie überlange Gedichte, oder oft auch wie durch Lyrik kommentierte, von Lyrik durchsetzte Erzählungen. – Aber hier schliesst sich der Ring: die Gattungen fangen an, wie in der Spätantike, ineinander überzugehen. Und heute wird alles zur Lyrik, wenn auch – sofern man das auf deutsch überhaupt sagen darf, ohne gleich umgebracht zu werden – zu einer sehr spröden, zu einer intellektuellen Lyrik.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/10
- Werke / Chronos: Bd.6, 279, 280
[…] – Ich hasse den rein solipsistischen Künstler. Kunst geschieht, für mich, in der Welt. Der Künstler kann ein Narr sein, aber er muss ein Hofnarr sein, der Narr eines Hofes. – Nur unter äusserstem Zwang könnte ich mich entschliessen, in die Wüste zu gehen, die Stimme des Rufenden aus der Wüste zu spielen. Ich tue es, wenn ich muss, aber ich werde mich bis zum letztmöglichen Augenblick gegen dieses // Schicksal wehren. Meine Antipathie gegen Hölderlin, gegen Rilke, gegen Nietzsche, trotz aller Bewunderung, kommt daher, von diesem Misstrauen gegen das ungemischt Dämonische, das Brutale, das Unkonziliante dieser Figuren. Meine Liebe zu Thomas Mann, Hofmannsthal, André Gide (auch André Gide?) kommt aus meinem Einverständnis mit ihrem „gesellschaftlichen“ Künstlertum, das immer menschlich blieb, ohne das Geringste an Intensität aufzugeben. – Heute ist die Frage // für mich die, ob ich diesen Standpunkt halten kann, ob ich ihn nicht modifizieren muss. […] // […] Ich habe eine – unglückliche Liebe zum Bürgerlichen. Ich möchte ein bürgerlicher Künstler sein. Ich fürchte, ich muss, wenn ich überhaupt ein Künstler sein will, diese Ambition aufgeben, weil ich der doppelten Belastung, vielleicht, nicht gewachsen bin. […]
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/11
- Werke / Chronos: -
Der Trapezkünstler unternimmt die halsbrecherischen Sprünge, Stürze, Schwünge. Aber für den Zuschauer sind sie ein ästhetisches Vergnügen: schön ist vor allem die Vereinigung von Todesverachtung, Kühnheit und Leichtigkeit. // Vielleicht gibt es gar keine wirkliche Schönheit ausser der Gefahrenzone. – Vielleicht darf ich mich nicht mehr erschrecken über die Sprünge, Stürze, Schwünge. Sie gehören vielleicht einfach dazu. Gibt es den Trapezkünstler, der nicht weiss, dass er einer ist, der wider Willen einer ist? Der vom hohen Seil seine Angst herabschreit und seinen Überdruss, aber trotzdem immer weiter geht und springt und stürzt, weil ihm etwas anderes einfach nicht übrig bleibt?
02 Ich bin der Tanzbär auf der glühenden // Platte. – Aber vielleicht ist diese Situation für mich gar nicht konstitutionell, sie ist vielleicht nur okkasionell. Ich kann mir denken, dass sich gar nicht allzuviel ändern müsste in mir und in meinen Verhältnissen, damit ich ein vergnügter, ein verhältnismässig unproblematischer Poet würde? – Nach welcher Richtung mache ich mir da etwas vor? Sehe ich die Dinge zu tragisch oder zu harmlos? Eines von beidem auf jeden Fall.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Signatur: C-2-a/11
- Werke / Chronos: -
Zur Diskussion in der Gruppe 47: Jeder Mensch reagiert auf andere Reize. Und jeder dieser Reize, jede Art von Reizen verführt den Künstler zu spezifischen Fehlern. Er muss sie kennen und versuchen, ihnen zu entgehen, sie zu überwinden. – So wird der Dichter, der seine Motive aus seiner nächsten Umwelt, aus seinem Alltag nimmt, leicht in Gefahr geraten, muffig und hausbacken zu werden, Literatur für Hausfrauen // und Schulmädchen zu schreiben. Derjenige aber, der sich durch fremde Länder, alte Mythen, die Geschichte anregen lässt, kommt leicht in Gefahr, die Faszination seines Stoffes schon für ausreichend zu halten, bloss zu kolportieren, statt zu gestalten, zu vergessen, dass ein grosser und leuchtender Stoff noch kein grosses und leuchtendes Gedicht ergibt. – Der eine wie der andere hat seine Gründe für seine Motivwahl. Aber es kommt ausschliesslich darauf an, was einer aus seinem Motiv macht. Die // Gründe liegen tief unten in seinem Innern, er müsste sich sein Leben lang analysieren, um sie frei zu legen. Das ist sicher müssig, sicher unwichtig. Aber wichtig, unvermeidlich, absolut nötig ist es, dass der Dichter seine Motivwahl durch die Gestaltung rechtfertigt. Das vom Dichter gewählte Motiv muss dem Leser als das einzig mögliche erscheinen. Er darf gar nicht auf den Gedanken kommen: warum hat er jetzt gerade dieses und kein anderes gewählt?
02 Klischees: es gibt modernistische, historische, // mythologische, touristische (Italien, Spanien, Afrika, Skandinavien, Amerika usw.) Klischees. Es ist ganz unmöglich, zu schreiben, ohne Klischees aus einem oder mehreren dieser Bereiche zu benützen. – Diese Erkenntnisse über Motive und Klischees scheinen mir die selbstverständliche Voraussetzung jeder irgend ernst zu nehmenden Diskussion von Schriftstellern über diese Gegenstände. Jeder Streit über erlaubte und unerlaubte Motive, über die Vermeidbarkeit von Klischees // überhaupt scheint mir sinnlos, zeigt höchstens, dass die Leute nicht wissen, wovon sie reden. Aber das ist ja das Erheiternde: die Leute meinen immer, dass gerade die augenblicklich gebräuchlichsten Motive die besten, die augenblicklich gängigsten Klischees keine Klischees seien.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/11
- Werke / Chronos: Bd.6, 281, 282
Die Motive, die Stoffe sind in meiner Arbeit verhältnismässig gleichgültig. Ich bin hier vielleicht leichter imstande, zu wechseln<,> mich umzustellen als andere. Es mag sein, dass dies vom einen oder anderen als Charakterlosigkeit empfunden wird. Aber das Gegenteil ist der Fall: // was in meinem Zentrum ist, was zur poetischen Äusserung drängt, ist so stark, dass es durch jedes Motiv, durch jeden Stoff gleichermassen durchschlägt. Im Grund schreibe ich immer das Gleiche, schreibe ich immer um das Gleiche herum, dem ich mich von allen Seiten annähere. Man kann mit diesem Heranpirschen ein Leben verbringen, man wird nie ganz dran sein. Wenn ich sterbe, bin ich ganz dran.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/11
- Werke / Chronos: Bd.6, 286
Reduktion durch Konzentration. Konzentration durch Reduktion. Ich hatte noch nie den Mut, mir das Telefon abstellen // zu lassen. Überhaupt, ich darf keine Reserven halten, keine Hintertüren offen lassen. – Ich hinke mit etwa einem Jahrzehnt hinter meinem Lebensalter her. Ich bin in meiner literarischen und menschlichen Entwicklung dort, wo ich mit siebenundzwanzig Jahren hätte sein müssen –, und vielleicht auch hätte sein können. Wenn mir zur richtigen Zeit die richtigen Leute begegnet wären. Ich habe 1946 zwar André Gide gesehen. Aber er nahm mich nicht wahr, konnte mich nicht wahrnehmen: ich lag noch verborgen unter einem Schuttberg von Konventionen, von mir unangemessenen Meinungen // und Wertungen. Es hätte jemand einen sehr grossen Einsatz machen müssen, um mich auszugraben. […]
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/11
- Werke / Chronos: Bd.6, 286, 287