Tagebuch
Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen
Man mag sich über den „Goldschmied“ lustig machen. Aber zuletzt und zuerst ist das Gedicht Sprache, nur Sprache: es ist nichts, gar nichts darin, was nicht Sprache geworden wäre. Und so ist die Dichtkunst eine Arbeit wie jede andere, auch wie die des Goldschmieds meinetwegen. Indem es darauf ankommt, ausschliesslich, wie schon der Name sagt, immer mehr zu verdichten, die ganze Bemühung darauf // zu richten, dass jedes Wort, jede Wendung ganz voll ist, ganz ausgelastet, ganz beansprucht. – Das erschreckt mich so sehr an den poetischen Bandwürmern vieler moderner Dichter: dass sie dem Wort nicht mehr vertrauen oder es gar nicht mehr kennen, und so alles drei-vier-fünfmal sagen, eine langweilige und verwirrende Kaskade überflüssiger Worte und Bilder. – Je genauer ein Gedicht durchgearbeitet ist, desto kürzer ist es. Die langen Gedichte sind, scheint mir, allzu oft, einfach nicht fertig. Wenn die Leser das nicht merken, mag es noch angehen. Aber meist scheint der Dichter selber es nicht zu merken. Sonst würde er mit dem Druck zuwarten.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Werke / Chronos: Bd.6, 194
Die Möglichkeit, die ich plötzlich vor mir sehe, die mich gegenwärtig dauernd beschäftigt: alles im Gedicht zu fassen, alles zum Gedicht zu machen, alles als poetisches Motiv anzusehen, zu behandeln. Nicht dass falsch gewesen wäre, was ich bisher tat: es war wohl auch als Disziplinübung gut, als Übung, mit einem Minimum an Mitteln zu arbeiten. Diese Beschränkung auf einen verhältnismässig engen Kreis von Gegenständen, einen minimalen Vorrat an Worten hatte den Vorteil, dass ich lernte, das Gedicht rhythmisch und inhaltlich ganz genau bis in jede Einzelheit durchzuarbeiten, unerbittlich durchzubilden, ohne dass die allzu starke Bewegung von Bildern und Gedanken, die den Raum der von mir selbst gesetzten Konvention überstiegen, mich von dieser Arbeit hätten ablenken können. Ich habe durch diese asketische Methode gelernt, mir nichts zu schenken. Wenn ich nun eine neue Methode versuche, muss ich das Gelernte im grösseren Bereich anwenden. Und es mag wohl sein, dass ich immer wieder // etwa zum alten Verfahren zurückkehre: schon zur Prüfung und Übung meiner Kräfte.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Werke / Chronos: Bd.6, 196, 197
Mit der Kraft des Dichters wächst seine Fähigkeit, die ganze Welt, alles ihm überhaupt Erfahrbare seinem Gedicht einzuverleiben. Die preziöse Scheu vor dem Unpassenden, dem Banalen verringert sich, indem es für ihn immer weniger Unpassendes, Banales gibt. Es wird ihm immer deutlicher, dass alles geistiger Durchdringung fähig ist, alles auf diese Durchdringung wartet. Sein Glück besteht dann darin, sie zu leisten: alles in seinem Wesen zu erhellen, die Grundlinien jeder Erscheinung sichtbar zu machen. Und hier // ist Erscheinung nun in einem weitesten Sinn verstanden. Es ist damit sowohl das Anschaubare, sinnlich unmittelbar Wahrnehmbare gemeint, als auch alles Gefühlte, Gedachte. Der Raum der Poesie erweitert sich so um das Vielfache, eigentlich unendlich, damit auch die Gefahren (vom Zentrum abzugleiten). Aber es lohnt sich, sie zu riskieren, um des Gewinnes willen an Freiheit, an Reichtum, an bildender, enthüllender, das Wesen der Welt bestimmender Macht.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Werke / Chronos: Bd.6, 197, 198
Es fällt mir immer noch schwer, loszukommen von der fest eingewurzelten Gewohnheit der falschen Stilisierung, des, fast unbewussten, Ausschliessens des grössten Teils der umgebenden Welt aus dem Gedicht: ich muss mir dauernd vorsagen: es gibt nichts ringsum, nichts auf der Strasse, nichts im Kaffeehaus, nichts in der Zeitung, nichts im Buch, das ich lese, das nicht im Gedicht seinen Platz finden könnte, das nicht Motiv für das Gedicht abgeben könnte. Die höchste Kunst besteht darin, nichts auszuschliessen. (Siehe Meinekes Satz, es gehe nicht zuerst um den harmonischen Akkord, sondern um den möglichst reichen harmonischen Akkord. Was Meineke vom Nationalstaat sagt, das muss ich auf das Gedicht anwenden.)
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Werke / Chronos: -
Marcel Proust, ähnlich wie Ezra Pound und Marianne Moore, ein Brecher der Schlösser, ein Öffner der Zimmer: Dichtung beruht auf der grenzenlosen Assoziation, auf der Beherrschung des Mittels der Assoziation, der Verbindung eines jeden mit einem jeden. War ich bisher geneigt, das Wesen meiner Kunst im Hinausgehen, in der strengen Abscheidung von den Erscheinungen der Welt zu suchen, in der Beschränkung auf ein Minimum von Grundbildern, aus denen ich meine Gestalten zu komponieren unternahm; so muss ich in Zukunft immer mehr hineingehen, in das Zentrum der Welt vordringen, beladen mit allen Erscheinungen, die mir auf dem Weg begegnen, so wenige wie möglich auslassend, alle hineintragen, um sie dort in der Glut zusammen<zu>schmelzen zur neuen Gestalt, zum Gedicht. – Es wird dies vielleicht viel mühsamer, viel zehrender noch sein, als was ich bisher gemacht habe: aber es wird mich weniger jetzt wohl nicht mehr befriedigen. Die geistige Bewältigung dieser so erweiterten Welt ist die Vorbedingung einer neuen geistigen Ordnung. Es kann sehr gut sein, dass ich sie nicht mehr sehe, dass meine Generation sie nicht mehr erlebt. Aber ich glaube, dass man sie in einzelnen Punkten vorbilden, vorwegnehmen kann, dass ich imstande bin, in meinem Gedicht sie anzudeuten, anzuzeigen, eine Art – wenn man so will – neuer Klassik. Freilich ganz anders als die sogenannte deutsche Klassik: banaler und abstrakter, aufgerafft aus einem furchtbaren Abstieg, weltbeladener // und weltflüchtiger, unruhiger und skeptischer. Denn wir sind, immer, in einer gesteigerten Dynamik, in einem beschleunigten Flusslauf, bewusst mittendrin. Und wenn wir darin ruhen müssen, so wissen wir, dass wir darin ruhen, dass unsere Ruhe bloss relativ ist, die Ruhe der schliesslichen Einmündung, wenn überhaupt, erst andeutend, vordeutend. Während die Welt damals noch von uns aus gesehen, als Ganzes ruhte (wie sehr sich Goethe und die Seinen auch im Gegensatz fanden zum Sturm des Revolutionszeitalters, so sehr war das für uns Heutige erst ein Anfang, ein erstes Beben)<,> ist sie heute als Ganzes in Bewegung geraten, und die Anstrengung des Geistes, darin die Gestalt, die immer ein Ruhendes ist, aufzustellen, muss so viel grösser sein, auch wenn es zum vorneherein deutlich ist, dass das Ergebnis geringer sein wird, als es damals war. Das Mögliche muss trotzdem getan werden.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Werke / Chronos: Bd.6, 199, 200
Wie man ein Gedicht anfangen kann: 1. Man zeichnet einfach auf, was einem an Gedanken ohnehin einfällt, ohne vorerst irgendetwas zu unterdrücken. Die stilisierende, formende Kraft und Gewohnheit des Geistes wird dann schnell von selbst auswählend und lenkend eingreifen. In jeder neuen Fassung wird die bewusste Arbeit beherrschender, aus dem originellen oder banalen Einfall wird langsam ein Gedicht. 2. Man unterlegt einem alltäglichen Geschehnis, einer alltäglichen Beobachtung eine mythologische Figur, ein mythologisches Ereignis als Hintergrund. Dadurch erreicht man, was Brecht den Verfremdungseffekt nennt: das Alltägliche, Banale, Unbedeutende, wird bedeutend, allgemein, verbindlich. 2b. Man tut dasselbe, nur setzt man an die Stelle der mythologischen eine historische Figur, ein historisches Geschehnis. // 3. Man nimmt eine Zeitungsnotiz, eine Redensart oder dergl. und verbindet sie mit einer Assoziation, die man dazu hat, zu einer neuen Figur. Je entfernter die Assoziation, scheinbar, vom Bereich der Zeitungsnotiz ist, desto stärker die Wirkung. 3 b. Man tut dasselbe mit einem Vers, einer Strophe eines Volksliedes, eines klassischen Gedichtes. Das Gemeinte nähert sich unter Umständen der Kunst der Paraphrase. 4. Man wählt eine von den erwähnten Möglichkeiten, sofern es sich jeweilen um die Aufstellung eines Bildes handelt und übersetzt das aufgestellte Bild, oder, besser noch, Teile davon gleich noch ins Begriffliche, tut also etwas an sich entschieden „Unpoetisches“: Man erklärt ein Bild, ein Bildelement durch einen daneben gestellten Begriff. Sparsam angewendet ergibt das eine reizvolle Kontrastwirkung.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Werke / Chronos: Bd.6, 201, 202
Der Busch, grau, ausgedörrt und doch zugleich in einem unheimlichen Leben wuchernd, der von der dunklen Berglehne zum Meeresufer herabhängt, in seinen Zweigen die fahle Maske, tot-lebendig wie der Busch selber. Am Strand aber schaut Lorcas Engel entsetzt auf seinen von der Spitzenhose eingefassten Schenkel, wo eine schwarze Spinne sich langsam vorwärts bewegt. Und irgendwie die Flügel des Engels furchtbar in den Busch verwirrt. – Das ist so ein Bild, wie es einem einfallen kann, wie sie mir häufig einfallen; und daraus mache ich dann ein Gedicht, und daraus wird ein Gedicht im Augenblick, wo die Sprache von der andern Seite kommt und das Bild in ihren Rhythmus aufnimmt, es ganz einschmilzt und mit ihm zu einer neuen Gestalt gerinnt. Was mir bisher noch nicht gelungen ist: das Gedicht von seinem Kern her so auszufalten, die ruhende Gestalt so in Handlung und Bewegung zu verwandeln, die einzelnen Figuren des Gemäldes so mit // und gegeneinander zu bewegen, dass ein Drama daraus wird. Und es ist mir nicht ganz klar, warum: ob einfach wegen meiner Trägheit, die mich in der notwendigen Konzentration nicht lang genug verharren lässt? Aber lässt sich ein Drama nicht ebenso gut in einzelnen Viertel- und Halbstunden intensivster Sammlung konstruieren wie ein monologisches Gedicht? Oder liegt es einfach an meiner wesentlich undramatischen Natur? An meiner wesentlich undramatischen Art, die Welt zu erfahren, zu sehen, zu verstehen? Aber das hiesse lediglich für die Art Dramen, die ich schreiben müsste und könnte, etwas. Es gibt genug Dramen, die in ihrem Kern nicht „dramatisch” sind, d. h. nicht vom Gegensatz ausgehen, sondern die Übereinstimmung sichtbar machen, oder vom scheinbaren Gegensatz ausgehend, die Übereinstimmung überzeugend sichtbar machen. Und diese Dramen sind nicht die schlechtesten: Goethe, Hofmannsthal, Calderon, vielleicht sogar Shakespeare.
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- Konvolut: Tagebuch
- Besonderes: Vgl. Der Engel im Glashaus (Manuskripte 1954)
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Textverweis: Der Engel im Glashaus (C)
- Werke / Chronos: Bd.6, 204
Der lange Vers ist leichter als der kurze, insofern seine Teile ein geringeres Gewicht durch ihren engen Zusammenhang haben: die Elemente des langen Verses relativieren sich gegenseitig. Im kurzen Vers aber ist jedes dieser Elemente oder doch fast jedes selbständig, was im langen Vers Teil ist, das ist hier das Ganze; es erhält so ein viel // grösseres Gewicht, einen viel stärkeren Akzent, viel mehr Pathos. Der lange Vers hat darum eher die Chance, unpathetisch zu geraten als der kurze, der ja auch eine eher staccatohafte Lektüre bedingt; ein in langen Versen geschriebenes Gedicht liest sich fliessender. Ja, dasselbe Gedicht, einmal in kurzen Versen geschrieben, das andere Mal in langen, und zwar so, dass ich einfach zwei oder drei kurze Verse auf die gleiche Zeile schreibe, dieses selbe Gedicht ist jedes Mal ein ganz anderes, sein Rhythmus, sein Ton, sein Sinn verändert sich durch eine scheinbar ganz äusserliche Manipulation. – Immer wieder erstaunt es mich, wie selten es vorkommt, dass Dichter ein Gedicht in mehreren Fassungen vorlegen. Alle haben eine Scheu davor, weil sie zum vorneherein annehmen, nur eine Fassung sei gut, sei gelungen, die anderen müssten schlecht oder wenigstens im Verhältnis zu der einen approbierten unzulänglich sein. Dabei ist es doch denkbar, dass ein Gedicht in zwei gleich guten Varianten existiert, oder sogar in mehreren, in vielen. Die puristischen Neigungen // scheinen bei den Dichtern grösser zu sein als bei den Malern, von denen viele sich nicht genug tun können, dasselbe Motiv in den verschiedensten Weisen zu behandeln: als Aquarell, als Ölbild, gezeichnet, gestochen. Und innerhalb jeder dieser Manieren dann nochmals verschieden: einmal mehr hell getönt, einmal mehr dunkel; die Figur, die in der einen Fassung rechts steht, ist in der andern links zu sehen usw. Den Dichtern fällt so etwas merkwürdigerweise kaum ein. Vielleicht weil sie, vor allem in Deutschland, eine andere Auffassung von ihrem Metier haben als die Maler, eine viel angestrengtere, bemühtere: es geht ihnen nicht ums Bilden und Formen, sondern vor allem um Ausdruck. Jetzt gibt es diesen natürlich nicht ohne jenes und umgekehrt. Aber es kommt darauf an, wie man den Akzent setzt. Und da sind doch offenbar die Maler meist einfacher und handfester.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Werke / Chronos: Bd.6, 205, 206
Gestern war Peter Hamm hier und las mir aus seinem Aufsatz über Schweizer Lyrik die Stellen vor, die sich <auf> meine Arbeit beziehen: es ist dies der grösste Trost, die höchste Ermunterung, dass einer das, was ich meine, was mir das Wesentliche meiner Dichtung scheint, so genau, so // adäquat aussagen kann, ohne dass ich ihm je darüber gesprochen hätte. So wächst mir doch wieder eine kleine Hoffnung, dass meine Arbeit allmählich die Stellung erlangen wird, die ihr, wie ich glaube, in der literarischen Welt zukommt. Denn es ist doch, scheint mir, nicht allzu viel, was in der deutschen Dichtung der Gegenwart über das Provinzielle hinauswächst, ins Zentrum der Weltliteratur vordringt.
02 Ich sage diese Dinge mit einem gewissen Vergnügen: sie können für die Deutschen (und Schweizer) nur schockant sein. Denn sie sind eines wahren Dichters unwürdig, oberflächlich. Und doch hat die Kunst, wie alles Wesentliche, Anteil an allem, gehört zu jeder Seite des Daseins. Und eine Seite ist die soziale. Dichtung muss im Zusammenhang der Gesellschaft stehen, auch. Dass dies nicht genügt, ist klar: eine Kunst, die bloss gefällig ist, ist sicher keine grosse Kunst. Aber eine Kunst, die grundsätzlich unfähig ist, sich ein Publikum zu schaffen – wenn auch vielleicht erst sehr spät – sich ein Publikum zu erziehen, ist // ebenfalls keine grosse Kunst. Substanz genügt nicht, sie muss leuchten, das Leuchten genügt nicht: ohne Substanz ist es bald erschöpft wie die Ziffern eines alten Weckers. Beides ist nötig. Und ich glaube, wenn ich nicht nachlasse, werde ich es erreichen.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Werke / Chronos: Bd.6, 206, 207
Die Aussage des Dichters ist nie zu vollenden, die Gestalt, die er weiss und sieht, kann er nie ganz sichtbar machen. So kann er nicht genug arbeiten, nicht genug schreiben, grundsätzlich wenigstens: denn je mehr er produziert, desto deutlicher wird das mit der Produktion Gemeinte, je umfangreicher sein Gedicht wird, desto grösser ist seine Chance, dass er einen grossen Teil des ihm aufgegebenen Gedichtes mitteilt. – Das soll kein Lob billiger Vielschreiberei sein, aber ein Einwand gegen die Minimalisten (Benn), die behaupten, ein Dichter schreibe nicht mehr als sechs gute Gedichte u. ä. Das Verkehrte solcher Theorien wird einem sofort klar, wenn man sie auf die bildende Kunst überträgt // (warum sollte es da anders sein?): Welche sechs Werke Michelangelos sind wirklich gut, sodass der ungeheure Rest dagegen abfällt? Oder wie ist das bei Rubens? Aber um bei der Dichtung zu bleiben: welches sind die sechs guten Gedichte, die sechs grossen Gedichte Goethes, Hölderlins, die alle andern als mittelmässig erscheinen lassen? – Es mag im Leben des Künstlers Perioden geben, wo er gut daran tut, sich mit anderem zu beschäftigen, seine Kunst liegen zu lassen. Aber daraus eine Regel zu machen, ein Rezept, das scheint mir doch abwegig. Von einem gewissen Punkt an, kann der Mensch nicht anders als das Seine tun (wenn er überhaupt etwas zu tun hat), unablässig am Seinen arbeiten. Und ist er einmal innerlich tot, unfähig – was jedem passiert – so leidet er darunter, erfährt er die grösste Qual. Aber der Fleiss, die tägliche Bemühung bleibt doch immer die Bedingung des Fortschreitens in der Kunst. Kann man sich vorstellen, dass Van Gogh ein Jahr lang aufgehört hätte mit Malen? Sein Leben war Malen. Dass Rilke aufgehört // hätte zu dichten (als er es eine Zeitlang musste, war es ihm so schlimm wie der Tod), freiwillig aufgehört hätte? Sein Leben war Dichten. Valéry ist hier die Ausnahme.
02 Wozu dieses Raisonnement?: Gegen die Versuchung zu glauben, dass sich mir das Entscheidende im Schlaf, nur im Schlaf zeigen werde, dass es genüge, abzuwarten, eine Versuchung, für die ich immer wieder empfindlich bin. Zur rechten Zeit schlafen und zur rechten Zeit warten ist gut. Aber daraus ein Prinzip zu machen, bedenklich. Mir kann es sehr leicht passieren, dass ich mein Leben verschlafe und verwarte und, auf den Kairos gefasst, auch das nicht tue, was ich mit weniger Schlaf und mehr Bemühung zu tun imstande bin.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Werke / Chronos: Bd.6, 207 (Auszug)
Kunst als eine Methode, das Auseinanderfallende zu fassen, das Auseinanderstrebende in die gleiche Richtung zu zwingen. Das vielleicht ist ihre Beziehung, ihre einzige, zum Chaos. Vielleicht ist derjenige, der nicht das Chaos in sich erfährt, zum vorneherein unproduktiv. Denn die Kunst ist ein Versuch, über das unmittelbar Gegebene, über das Selbstverständliche hinauszukommen. Und dies Erste und Selbstverständliche, das eben ist das Chaos. Darüber braucht man nicht reden, man kann sich nur davon abwenden. Oder genauer, man kann sich ihm nur beschwörend zuwenden: wie der Gott der Genesis, der aus dem Chaos Welt schafft.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/08
- Werke / Chronos: -
Entpoetisierung des Gedichtes, das ist die Zurückziehung des Poetischen von der Oberfläche in den Kern, der bewusste Verzicht auf den direkten, gefälligen Reiz. Also auf den forcierten Wohlklang z.B.: Hiate, Häufungen von Konsonanten, einsilbige Wörter werden vielleicht nic:ht geradezu gesucht, aber vor allem nicht mehr bewusst vermieden. Wenn sie sich ergeben, werden sie in Kauf genommen. Dass es keine poetischen Stoffe gibt bei diesem Verfahren versteht sich schon lange von selbst. Aber es gibt auch keine „hohen“ und keine „niederen“ Wörter mehr, keine zu vermeidenden banalen Wörter, keine zu bevorzugenden seltenen Wörter. Das scheinbar Flachste und Abgegriffenste ist gerade recht, um, an der richtigen Stelle, dem Gedicht neuen verborgenen Glanz zuzuleiten, es auf neue Räume hin zu öffnen.
02 Die ästhetische Qualität dieses entpoetisierten // Gedichts liegt nicht mehr offen da, es zwingt also den Geist zu grösserer Anstrengung, er muss auf die Suche nach dem Reizenden gehen. Und wenn er es tut, wenn er die Anstrengung auf sich nimmt, durch die neutrale, graue äusserste Schicht des Gedichts hindurch zu stossen, dann findet er eine Fülle von Gestalten, Farben, Spielen, die ihm das gewohnte, scheinbar so vie1 schönere und reichere Gedicht nie bieten konnte. Vor allem auch darum nicht bieten konnte, weil es ihn nie zu voller Tätigkeit, zu voller Bewegung zwang, oder doch sehr viel seltener, ihn nicht so unbedingt zwang, seine ganze Sensibilität auf es einzustellen.
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- Konvolut: Tagebuch
- Textart: Prosanotat
- Datierung: vollständig
- Fassung: Zwischenfassung
- Schreibzeug: Tinte
- Signatur: C-2-a/09
- Werke / Chronos: Bd.6, 208, 209