Dienstag, 03 November 1953

Von Markus Kutter, 3.11.1953

Basel, 3. Nov. 53

Lieber Kuno,

[…]

Also zu den Gedichten: ich sehe jetzt völlig ein, warum Dir eine Novelle oder überhaupt eine Geschichte in Prosa nicht gelingen konnte: Dieser Anspruch an die Prosa, der mir aus den Sätzen Deines „Pfaus“ (übersendet diesen Sommer) entgegentrat, verträgt es allerdings nicht, dass // man, wie Valéry es einmal gesagt hat, irgendwann den Satz schreiben muss: La marquise descendit les marches du perron. Gerade dieser „Pfau“ ist mir, ich weiss nicht warum, schon bei der ersten Lektüre ins Fleisch gefahren; dieses poème en prose (auch Baudelaire konnte keine Romane oder nur ganz schrecklich missratene schreiben) hat nicht eine unbarmherzige, sondern barmherzige sprachliche Präzision, etwas, das die Worte genau bis in ihren hintersten Hohlraum ausfüllt, sodass, im Bild zu bleiben, ein vollkommener moulage entsteht, etwas ohne Löcher und Brüchigkeit.

02 Eine gleiche, beinahe angreifende Präzision <hat> das Gedicht mit dem Gang und der säugenden Wölfin [= Der Gang]: das ist sehr stark, und in solchen // Sachen erreichst Du Deine eigentliche Stärke. Ich seh nun wirklich langsam den Zeitpunkt gekommen wo Du in Druck gehen musst, in einem Band von etwa 80 – 120 Gedichten; wenn Du in Deutschland nichts findest, so kann ich mich hier bei meinem kleinen Verläglein verwenden, wenn leider auch nur in kleinerer Auflage. Ich würde Weihnachten übers Jahr als Erscheinungstermin vorschlagen und Dir die Zusammenstellung eines savamment komponierten Bandes im Lauf der nächsten Monate (bis Sommer 54) empfehlen.

03 Zurück zu den Gedichten: für mich wichtig in der neusten Sendung „Der Entrückte“, vor allem des entwaffnenden und eigentlich zu Herzen gehenden letzten // Verses wegen. Den „Schuh“ bin ich fast versucht, auf meine Situation zu beziehen, wo mich Deine Gedichte in sehr gefülltem Alltag treffen – dabei wundert mich immer die so ganz natürliche Affinität, die Du zu 1001 – Nacht – Welten besitzest oder zur Welt der goethischen Pandora (etwa „Elegie“ und „Die verwandelten Schiffe“). Immerhin möchte ich gerade für diese traditionsgehaltenen Stücke meinen, dass sie erst dann zu einer voll gedeckten Währung werden, wenn mindestens in einem Vers, einem Schlussbild, einem Bild überhaupt, diese Konvention (der Begriff ist nicht negativ, er ist neutral!) in Deiner ganz persönlichen Aktualität hineingespült und in ihr aufgelöst wird. //

04 Zum Technischen: mir fällt weniger auf als bisher. Ein Detail: In „Das Riff“ ist der Rhythmus doch getragen von 4- bis 5-füssigen Trochäen (Ausnahme 2. Vers). Dann darf man nach meinem Ohr nicht den Schlussvers 6-füssig machen, er kommt sonst nicht mit und will rhythmisch nicht fertig werden, das bringt das Gedicht um die Vollendetheit. Vergleiche etwa das vollkommen geglückte Gegenteil im „Gewitter“, wo eine Reihe von Dreisilbern durch einen zweisilbigen Vers absolut schön und definitiv abgeschlossen wird. Dasselbe auch in der „flüchtigen Taube“ – ebenfalls eines meiner engern Auswahl. –

 

  • Besonderes:

    Der Gang usw. vgl. Typoskripte spez. / Sammlung Kutter

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: B-2-Kutt_004

Inhalt: Briefstellen zur Gedichtproduktion
Signatur: Vgl. Angabe bei den einzelnen Texten

Kommentar: Die Auswahl ist beschränkt auf einige wenige Briefe, v. a. aus der Verlagskorrespondenz;
vgl. auch einige Briefentwürfe Raebers in den Notizbüchern
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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