Samstag, 26 Januar 1952

Von Markus Kutter, 26.1.1952

Basel, den 26. Jan. 1952

[…]

Nun aber zu Deinen Gedichten, die wichtiger als meine Hypochondrie sind. Mein Urteil wirst Du freilich wieder unter den üblichen Vorbehalten zur Kenntnis nehmen müssen, auch unter dem, dass ich eigentlich für Gedichte nicht recht zuständig bin. – Ich zitiere wieder nach den ersten Worten oder nach dem Titel:

02 Römische Campagna: Je ne saisis pas. Nur die ersten zwei Verse empfinde ich als richtig. – Einzelnes: zu „feig“ (drittletzte Zeile): das ist eine häufige Konstruktion bei Dir, dass Du ein Adjektiv adverbial gebrauchst in einer Konstruktion, die einen solchen Gebrauch eigentlich sehr schlecht erträgt. Im dritten Vers wundere ich mich wieder über den unschönen Wechsel des Rhythmus nach den ersten zwei Versen, die rhythmisch vollkommen sind. Vergleiche klanglich: „Die Ruine leuchtet“ mit „Was ist's, das uns“! Das Gedicht muss meiner Meinung nach neu gemacht werden, und zwar nicht von der Idee, sondern von der bildlichen Anschauung her.

03 S. Maria della Vittoria: Unvergleichlich besser, auch wenn meinem Empfinden recht fern. Raebersche Bilder von vollkommener Prägnanz in Vers 6 und Vers 9. Ich meine immer, dass Du in Richtung solch gewalttätiger Bilder, in denen sich Abstraktes und Anschauliches auf so innige Weise verbündet und verbindet, arbeiten solltest. Zu bedenken wäre hier vielleicht, ob nicht das zweimalige o! durch etwas anderes ersetzt (wenigstens einmal) werden könnte. Vor allem das Nebeneinander von „eh beglückte“ und „O wie sind die Wiesen kahl“ finde ich etwas leer. //

04 Wie doch fallen jäh die Flammen: Ueber diesem Gedicht habe ich lange gebrütet. Seine metrische und gedankliche Konstruktion dünkt mich überaus interessant mit der eröffnenden, mottoartigen Strophe und den zwei parallel gerichteten Strophengruppen. Die Ausführung empfinde ich aber nicht auf der Höhe diese Architektur. Grammatikalisch unerlaubt scheint mir vor allem die zweite Strophe: es ist nach meinem Dafürhalten auch bei freier Behandlung der Sprache nicht möglich, jemandem etwas zu zücken. Zücken bezeichent doch nur die Bewegung des Herausziehens, des Aufblitzens zur Not noch, aber nicht des gezielten Stosses. „Peinigt jeden ohne Wahl“ ist mir zu dünn. Wie dem Gedicht beizukommen ist, weiss ich freilich auch nicht.

05 Allzu leicht nicht: Eines jener lehrhaften (im guten Sinn) besser: sentenziösen Gedichte, in denen Du eine ganz besondere Art der Aussage gefunden hast. Das Poetische entsteht hier immer durch eine bewusst unübersichtlich gehaltene Auffächerung der Grammatik, wie man es bei hölzernen Lehrgerüsten für Betonbrücken sieht, <wo ein Gewirr von Sparren die eingentlich erstrebte Form verstellt.> Es entsteht ein gewisses logisches „dépaysement“ des Lesers, die einzelnen Verse schwimmen beinahe selbständig vorüber, und doch ahnt man einen sicheren Zusammenhang. Unerlässlich ist dabei, dass dieser sichere Zusammenhang tatsächlich auch ganz streng logisch vorhanden ist; in diesem Gedicht scheint mir der zweite Satz (ab Vers 11) nicht vollkommen logisch durchgeführt zu sein; vielmehr nicht vollkommen evident: man erwartet eine Entbehrung, die dann schon durch eine Beere in Erwartung der Fülle gesetzt werden könnte; demgegenüber scheint aber die Süsse, die man lüstern erfährt, schon zu stark. Ich weiss nicht, ob ich mich klar ausgedrückt habe. Schön finde ich den Anklang an Ostern und Weihnacht, sprachlich ist das Gedicht aber schwächer. Mir hat es zuviele abstrakte termini: Erfüllung, Sattheit, Süsse, Gaben, Vorpfand.

06 St. Johann im Lateran: Die Ouvertüre dieses Gedichtes ist eine der besten, die Du je geschrieben hast. „Nahe krächzt, nahe das Schöpfrad“ finde ich sowohl in Bild wie Assoziation wie Vokal- und Konsonantenspiel überaus aufregend und geglückt. Die Fortsetzung ist diesem Anfang nicht gewachsen. Ich höre – wahrscheinlich ganz grundlos – immer Klopstocks Tropfen am Eimer. Kannst Du aus diesem Gedicht nicht noch etwas Grossartiges machen, wenn Du Dich überall so nahe an den poetischen Gegenstand // hälst und klammerst wie in den ersten zwei Zeilen? Du musst von abstrakten Begriffen wie Reichtum, Schatz, Letzung unbedingt weg, sie verderben Dir alles. Lies meinetwegen Rimbaud und trainier Dich ganz zynisch auf übertriebene Bilder, die Dir die Sprache beinahe zerreissen.

07 Trennung trägt: Auch ein Gedichttyp, für den Du so etwas wie Urheberrechte geltend machen darfst. Das kreisförmig in sich selbst zurückgebogene Gedicht. Ich finde es gut, muss aber in Einzelheiten pedantisch sein: der Delphin ist auf dem i betont, delphis heisst er schon im Griechischen. Es geht nicht an, ihn im selben Gedicht verschieden zu akzentuieren. (Ich weiss wohl, dass es als Präzedenzfall Altar und Altäre gibt, doch existiert dort kein griechisches Wort.) Dürfen Lockungen wehn? „Aber mich trägt“ stört in seinem Rhythmus die andern Trochäen empfindlich. (Im selben Vers muss es wohl heissen: leck erschiene, und nicht: lecker schiene, oder nicht? Für den zweiten Fall würde mich die Assoziation zum gastronomischen lecker irritieren.)

08 Wer das Fleisch noch duldet: Gleich beim ersten Lesen schien es mir das beste Gedicht. Hier nehme ich sogar den falsch betonten Delphin in Kauf, weil er nur einmal, und dann unzweifelhaft im Rhythmus eingespannt, vorkommt. Am schwächsten sind Vers 13 und 14. Was bedeutet es sprachlich, einen Gang und eine Regung zu handeln?

09 Den manche Wolke: Ist mir nicht evident geworden. Den Endreim des dritten Verses liebe ich nicht; Heym stellt die Adjektive auf diese Weise nach, aber es ist immer eine Verlegenheitslösung. Die axial-symmetrische Konstruktion des ganzen Gedichtes finde ich reizvoll, darf man aber sucht und Flucht (langes und kurzes u) reimen?

10 Abend auf der Piazza Colonna: Wieder ein unerhörtes Bild zu Beginn, auch sonst ein sehr starkes Gedicht. Desto schlimmer das adverbial gebrauchte nachgestellte Adjektiv „weich“ in dem vierten Vers. Mauerbraun – Benn hat hier vielleicht recht mit der Warnung vor Farben. Kannst Du nicht die stoffliche Beschaffenheit an Stelle der Farbe schildern? Rote Lichter dagegen halte ich für gelungen.

11 O der Schlinge: Irgendwie sind das (Vers 4 und 6) neue Töne in Deiner Lyrik. Mir scheinen sie richtig. Heute muss // jede Lyrik „the waste land“ durchschreiten. Richtig für Dich auch insofern, als sie Dich von den abstrakten Begriffen wegbringen. Sei doch konsequent in dieser Richtung. So wie es jetzt ist, spielt das Gedicht noch zwischen zwei Stilen.

12 Treibt ihr noch: Gelungene lyrische Sentenz. Ich habe nichts dazu zu bemerken. Am besten gefällt mir – trotz seiner Begrifflichkeit – das „fest zugleich darin“. Hier hilft die rhythmische Sauberkeit sehr zur Vorstellung.

13 Ianiculus: Gehört nach meinem Empfinden zu den schwächeren Gedichten Deiner Sendung; ich habe wieder geradezu heftige Assoziationen ans Strassburger Denkmal, wenn ich vom heilen Schilde höre. Auch das Vokabularium ist eher kraftlos.

14 Das wären sie also. Hab ich zuviel genörgelt? Man ist so schrecklich empfindlich, wenn man an die Mühen denkt, mit denen man jedes Gedicht aus seinen letzten Reserven hervorreissen muss. Du hast es nach wie vor in der Hand, meine Kritik nach Belieben herunterzuschrauben, falls Du in Deiner produktiven Freiheit beengt wirst. Für die Sendung an den Merkur musst Du auf jeden Fall aber noch auswählen. Wenn Du willst, bin ich bereit, Dich den Basler Nachrichten einmal aufzuschwatzen; ob es gelingt, weiss ich freilich nicht. Aber ich würde versuchen, Dich mit ein paar Sätzen einzuführen. Versorg mich also weiter mit Produkten.

15 Was die Prosa anbelangt, vor der Du Dich in metaphysische Entschuldigungen zu flüchten beginnst: Vielleicht hat Dein Bruder schon recht, nur übersieht er das Handwerkliche an der ganzen Sache. Eine Wendung zur Prosa vollzieht sich nicht nur in den Hintergründen, sondern muss auch im Handwerklichen erzwungen werden.

[…]

  • Besonderes:

    Römische Campagna usw. vgl. Typoskripte spez. / Sammlung Kutter

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Schreibmaschine
  • Signatur: B-2-Kutt_003

Inhalt: Briefstellen zur Gedichtproduktion
Signatur: Vgl. Angabe bei den einzelnen Texten

Kommentar: Die Auswahl ist beschränkt auf einige wenige Briefe, v. a. aus der Verlagskorrespondenz;
vgl. auch einige Briefentwürfe Raebers in den Notizbüchern
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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