Donnerstag, 11 August 1983

Von Zytglogge Verlag, 11.8.1983

[…]

Leider konnten wir uns nicht für die Veröffentlichung Ihres Manuskripts entschliessen. Zwar waren wir uns alle über die sprachliche und formale Qualität Ihrer Texte einig, sie blieb unbestritten; dennoch gab es Gründe zur Ablehnung: […] Vielmehr plagt uns das mangelnde Interesse des Lesers an der Lyrik überhaupt. Es reicht selten über den Freundes- und Bekanntenkreis eine Autors hinaus. Natürlich wäre es eine verlegerische Tat, wider diese Interesselosigkeit zu kämpfen, aber dazu ist unser Verlag zu klein. So müssen wir uns damit bescheiden, nur von Zeit zu Zeit einen Stein zu werfen. Jedenfalls wird es uns nicht möglich sein, in die nächsten zwei Programme einen Lyrikband aufzunehmen.

02 Wie ich mir wünsche, dass Sie für Ihre Gedichte einen Verleger finden, würde es mir Mühe bereiten, Ihr ausgezeichnet formuliertes Nachwort über das schweizerische Sprachdilemma zu empfehlen. Zu Ihren Aussagen könnte ich (und auch der Verlag) nicht oder nur mit grossen Vorbehalten stehen. So einfach lässt sich das Sprachdilemma – wenn es überhaupt eines ist – nicht mit einem Minderwertigkeitskomplex der Schweizer verbinden. Diese etwas einseitige und vielleicht fast bösartige Sicht hat wohl eher oder sogar viel mit ihrer "Isolation" in München zu tun. Anders kann ich mir die Aussparung wichtiger Tatsachen in Ihrer Arbeit nicht erklären. Einige Stichworte:

  • noch nie, auch nicht vor dem ersten Weltkrieg, wurden Deutschschweizer mit Zeitungen, Zeitschriften und Publikationen aus Deutschland derart überflutet wie in dieser Zeit. Das wäre nicht der Fall, wenn die Druckerzeugnisse nicht auch gelesen würden.
  • noch nie waren Deutschschweizer so vielen Informationen in deutscher Sprache durch Funk und Fernsehen ausgesetzt wie in dieser Zeit. […]
  • noch nie haben Kinder in der Schweiz (als Konsumenten eben dieser Medien) so hemmungslos und gut deutsch gesprochen.
  • während die Akademiker im deutschen Sprachgebiet sich vor dem Zweiten Weltkrieg ohne weiteres mit deutscher Fachliteratur durchs Studium bringen konnten, ist das in der heutigen Zeit für die meisten Studienrichtungen völlig undenkbar. Im Gegenteil, der moderne Akademiker braucht für seine Karriere und als berufliche Notwendigkeit einen Aufenthalt im englischen Sprachraum, wo er übrigens häufig und zugleich den lebenslangen Gefallen an der angelsächsischen Literatur findet. […]
    Für beide, Akademiker und Wirschaftskadermann, verliert das Deutsche seine zwingende Bedeutung und im Falle der Schweizer reduziert es sich sogar zur Beiläufigkeit. Exakt zu dieser Beiläufigkeit erhebt es sich aber beim zeitschriften- und fernsehhungrigen "Normal-Deutschschweizer", der noch vor dreissig Jahren sein Schuldeutsch auf ein paar Briefe und die regionale Zeitungslektüre verkümmern liess. Die Schriftsteller fallen als mehr oder weniger unveränderliche Konstante aus der Gleichung.
    Weil also der Intellektuelle die Rolle des Sprachträgers und -förderers kaum mehr wahrnehmen muss und der grosse Rest die deutsche Sprache nur konsumiert, hat sich das Verhältnis zu ihr von einer umfassenden Respekthaltung zum notwendig Beiläufigen verschoben.
    Diese Entwicklung kam selbstverständlich dem Dialekt zugute. Ihm musste sich, beinahe folgerichtig, ein nicht unbedeutender kultureller Raum öffnen. Einmal aufgefüllt besteht allerdings keine Gefahr, dass er sich ausweiten wird. Das zeigt sich jetzt schon.
    Aufgrund realistischer Feststellungen habe ich hier eine unvollständige Komponente skizziert, die, wie immer auch kritisch berücksichtigt, in Ihrem Nachwort fehlt. Diese Lücke in Ihrem Text empfinde ich als Mangel.
  • Schliesslich entbehrt Ihr Vorschlag, schweizerdeutsche Amtssprachen zu verwenden, der Logik. Sie schieben das Sprachdilemma lediglich auf eine andere Ebene. Wie könnte ein Innerschweizer sich entkrampfen, wenn er in einer späteren Phase beispielsweise das Baseldiitsch als Amtssprache akzeptieren müsste?

[…]

  • Besonderes:

    Betr. Abgewandt Zugewandt 1985 mit dem Nachwort über das schweizerische Sprachdilemma

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Signatur: B-4-c-ABZU (Schachtel 72)

Inhalt: Briefstellen zur Gedichtproduktion
Signatur: Vgl. Angabe bei den einzelnen Texten

Kommentar: Die Auswahl ist beschränkt auf einige wenige Briefe, v. a. aus der Verlagskorrespondenz;
vgl. auch einige Briefentwürfe Raebers in den Notizbüchern
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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