Mittwoch, 04 November 1953

An Peter Schneider, 04.11.1953

Mein lieber Peter,

mit den Fragen, die Du an meine Verse stellst, triffst Du, glaube ich, ins Zentrum der Problematik der Kunst überhaupt, vor allem heutiger Kunst. Die Auflösung der verbindlichen Welt früherer Epochen, der Umstand, dass heute jeder in seiner eigenen Welt lebt, erschwert zweifellos das Verständnis des Gedichtes sehr, und zwar, wie Du richtig sagst, weil das Bild, das bei dem einen die Gedankenassoziation hervorruft, beim andern jene, und in beiden Fällen ist es unsicher, ob sie mit der vom Dichter im Augenblick der Produktion gemeinten, etwas zu tun hat.

02 Aber: das Stoffliche ist ja beim Gedicht nur eines, gleichsam der Anlass zur Gestaltung, wobei es ganz auf das Wie ankommt: ob dieser Stoff an diesem Ort nun zu recht steht, ob er so ganz Form geworden ist, dass man von einem Gedicht sprechen kann. Weil das den grossen Künstlern der Antike z. B.gelang, finden wir ihre Werke heute noch bedeutend, erfüllt, gross, lebendig, obwohl die Welt, die ihnen die Stoffe lieferte, nicht mehr unmittelbar die unsere ist, obwohl ihre Götter nicht mehr einfachhin die unseren sind. Diese Welt wird die unsere, // diese Götter werden die unseren, insofern es den Dichtern gelingt, insofern sie die Macht haben, sie durch ihr Gedicht zur unseren zu machen. Ähnlich liesse sich von der Kunst des Mittelalters, der Chinesen, Inder usw. sagen.

03 Warum aber kann ihnen diese Einschmelzung ihrer Welt in die unsere, in die so ganz verschiedene Welt eines jeden von uns immer wieder gelingen? Weil in uns allen – ob man sich nun dafür auf Platon oder C. G. Jung beruft, tut nichts zur Sache, alle Kommunikation beruht auf diesem Faktum – bestimmte Urbilder angelegt sind, sowohl im Dichter wie im Leser, die durch das Bild des Dichters erregt werden, aufgerufen werden. Die Bilder sind ein konventionelles Element in der Dichtung, ein Element höchster und zugleich tiefster, unausgesprochener Konvention. Und der Unterschied zwischen den einzelnen Bereichen, aus denen die Bilder hier und dort kommen, zwischen dem antiken, christlichen, orientalischen, dem Bereich der Traumsphäre (die heute sehr beliebt ist) ist verhältnismässig unwichtig, ist auch viel geringer, als man im ersten Moment glauben möchte. Es kommt ja nur darauf an, dass diese Bilder, dass der Stoff des Gedichtes möglichst durchsichtig auf das allein Wesentliche, auf den Lichtkern hin ist. Wenn du überdies vom Gedicht noch verlangst, dass es bestimmte Gedanken, sogar die Gedanken des Dichters im Leser reproduziere, so bist Du, scheint mir dem heute üblichen Missverständnis anheimgefallen: es ist niemandem verboten, ein Gedicht, ein Kunstwerk zum Anlass für Gedanken zu nehmen, und das kann gut und fruchtbar sein. Aber dies ist wohl in keinem Fall Sinn und Absicht des // Gedichtes: Die Einigung, Begegnung, die das Gedicht mit dem Leser herzustellen vermag, wurzelt doch wohl in einem anderen Bereich, als dem der rationalen Intellektualität, wenn sie auch bis dorthin emporragen mag. Aber hier halte ich mich nun wiederum nicht mehr für zuständig.

[…]

  • Besonderes:

    Absender-Adresse: Zeppelinstr., 8 / Tübingen

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: B-1-SCHNPE (Schachtel 50)

Inhalt: Briefstellen zur Gedichtproduktion
Signatur: Vgl. Angabe bei den einzelnen Texten

Kommentar: Die Auswahl ist beschränkt auf einige wenige Briefe, v. a. aus der Verlagskorrespondenz;
vgl. auch einige Briefentwürfe Raebers in den Notizbüchern
Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

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