Rom, 6. Mai 1951
[…]
Deiner Aufforderung, etwas über Deine Gedichte zu sagen, komme ich nur unter der einen Bedingung nach, dass Du meine allgemeine Einstellung ihnen gegenüber, wie ich sie im letzten Brief erwähnte, nicht vergissest. […]
03 Wir haben ja in Basel schon einmal davon gesprochen, wie einzelne termini, die bereits // eine gewisse Bedeutung haben, nicht leicht neu verwendet werden können. Du musst es mit Dir selbst ausmachen, welchen Grad von Authentizität Worte wie: Unterwelt, Engelheer, gnadenglänzende Taube, der vom Siechtum ausgesparte Knabe, Lebensgärten, Väterhallen etc. besitzen. Ich halte sie nicht für unmöglich oder entwertet; ich glaube aber, dass sie nur mit dem höchsten Bewusstsein auch ihres überkommenen Wertes angewendet werden dürfen.
04 Vielleicht dass es Dich noch wunder nimmt, welche Gedichte ich als ein verantwortlicher Redaktor zur Publikation annähme. Es wären:
"Wo denn anders ist dieser Strauch"
„Schwemmt der Fluss“
„Irrgeworden vor dem Ueberhellen“
„Was ist im trüben Moor“ //
„Auf der Insel gehn“
„Vor dem offen auf den Strand“
„Das heraufstieg in den Wald“
Verschlossen blieben mir die Gedichte:
„“Wirr fährt hin und her“ (obwohl gerade in ihm einige Verse seltsam klar aufleuchten)
„Vergänglich ist auch dieses Bildnis“
„Kühle tropft“
„Dem der heimlich aus von Tänzern“
„Von den Gipfeln ist die fremde Taube“
05 Beim wiederholten Lesen ist mir auch etwas aufgefallen, was zwar überhaupt nichts gegen die Qualität Deiner Verse sagt, aber vielleicht ihre Annahme bei Redaktoren (erstaunlicherweise auch bei einem Streicher!) erschwert: Sie beziehen sich vielfach auf eine Welt, die in der deutschen Literatur eine geringere Rolle spielt als in romanischen Literaturen. Ich meine // eine katholisch – geschichtliche Welt. Man hat sich nach meiner Meinung nicht oft genug Gedanken darüber gemacht, wie protestantisch im Grunde seit Lessing und Herder die deutsche Literatur ist. Du musst verstehen, dass ich das nicht im Sinne eines Credos meine, sondern in der Beschaffenheit, der Substanz der dichterischen Welt. Deine Welt aber ist etwas anders; als Beispiel nenne ich die Gedichte:
„Die Taube trägt die heilige …“
„Wer da Gold wirft“
„Obgleich die Tore dröhnen“
und andere mehr. Sie atmen alle eine andere Luft. Und vielleicht sind sie auch mir fremder.
Im Grunde aber sind dies alles Dinge, die man im Gespräch bereden sollte, in einem Brief lässt sich derlei schwer sagen. // Ich habe Deine Gedichte hier auch einem Deutschen, Baron Bock von Wülfingen, der an der Münchner Pinakothek arbeitet, vorgelegt. Auch er hat manches als ausgesprochen schön und echt empfunden, sodass Du also die Kärtchen à la Streicher nur bedingt ernst zu nehmen hast. Ich will sie auch noch einem andern Deutsch-Römer vorlegen und gebe Dir dann wieder Bericht.