Entstanden: 27. August 1958

Du machst täglich deine „einsame Übung“, 
und weisst nicht, 
ob es mehr ist als eine Etüde, 
wertlos an sich, 
05 worein du dich ganz gibst. 

Wirst du das Konzert selbst jemals spielen? 
Wird nicht bloss die Art, 
mit der du die Finger spreizest 
und weit auseinander liegende Tasten gleichzeitig anschlägst, 
10 Vorbild sein für den Lehrer dessen, 
der das Konzert einmal aufführt und kann? 

Doch sicher weisst du, 
dass die Schneegebirge über den Palmen, 
die grünen Brunnen Granadas und die Boboligärten 
15 nicht mehr sind in deinem Gedicht als deine Schmerzen am
After, // 06
dein stockender Stuhlgang, das Brennen. 

Wer eine Fornarina geküsst und begattet, 
schickt sie am Morgen fort. 
Denn die „einsame Übung“ verträgt keine Gesellschaft. 
20 Er wird sie malen, vielleicht als Madonna. 
Aber es ist ihm lieber, 
wenn sie ihn in der nächsten Nacht bei einem andern vergisst. 
Die „einsame Übung“ verbietet die Liebe als Zustand. 

Weil sie das „retardierende Sterben, um zwei Tote zu erzeugen“
25 unendlich oft wiederholt hat, 
wird die Fiammetta in der Kirche begraben. 
Weil nur die Ausgeglühten, 
deren Herz die Spritze Wollust stets neu wieder anästhesiert 
hat, 
fähig sind zur „einsamen Übung“
30 gehen die Huren 
in der Prozession feierlich hinter dem Himmel. // 07

Darum vielleicht. Doch du weisst nur: 
die grünen Brunnen, die Palmen, die Schneegebirge Granadas, 
die Boboligärten erregen dich nicht mehr als die Schmerzen im After,
35 als dein stockender Stuhlgang täglich zur „einsamen Übung“.

Infos
  • Details: V. 24: vgl. das gleiche Valérie-Zitat in Herrenchiemsee (Notizbuch 1957-58)
  • Besonderes: Schwarze Tinte; verso: Typoskripte↑ (Wenn du nicht vermagst das Unlenkbare zu lenken)
  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Verse
  • Datierung: vollständig
  • Fassung: Zwischenfassung
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: A-5-d/05_024
  • Seite / Blatt: 05, 06, 07