Entstanden: 12. Juli 1958

Du machst täglich deine „einsame Übung“, 
und weisst nicht, 
ob es mehr ist als eine Etüde, 
wertlos an sich, 
05 worein du dich ganz gibst. 

Wirst du das Konzert selbst jemals spielen? 
Wird nicht bloss die Art, 
mit der du die Finger spreizest 
und weit auseinanderliegende Tasten gleichzeitig anschlägst, 
10 Vorbild sein für den Lehrer dessen, 
der das Konzert einmal aufführt und kann? 

Doch sicher weisst du, 
dass die Schneegebirge über den Palmen, 
die grünen Brunnen Granadas und die Boboligärten // 02
15 nicht mehr sind für dein Gedicht als deine Schmerzen am After, 
dein stockender Stuhlgang, das Brennen. 

Wer eine Fornarina geküsst und begattet, 
schickt sie am Morgen fort. 
Denn die „einsame Übung“ erträgt keine Gesellschaft. 
20 Er wird sie malen, vielleicht als Madonna. 
Aber es ist ihm lieber, 
wenn sie ihn in der nächsten Nacht bei einem andern vergisst. 
Die „einsame Übung“ verbietet die Liebe als Zustand. // 03

Weil sie das „retardierende Sterben, um zwei Tote zu erzeugen“
25 unendlich wiederholt hat,
wird die Fiammetta in der Kirche begraben. 
Weil nur die Toten, 
die Ausgeglühten, deren Herz 
die Spritze Wollust stets neu wieder anästhesiert hat, 
30 fähig sind zur „einsamen Übung“, 
gehen die Huren 
in der Prozession feierlich unter dem Himmel. // 04

Darum vielleicht. Doch du weisst nur:
die grünen Brunnen, die Palmen, die Gipfel Granadas, 
35 die Boboligärten erregen dich nicht mehr als die Schmerzen im After,
dein stockender Stuhlgang täglich zur „einsamen Übung“.

Infos
  • Besonderes: Schwarze Tinte
    Verso: Typoskript↑ (B1/B2: Schwemmt der Fluss; B3: Vergänglich ist auch dieses Bildnis; B4: Kühle tropft auf die Blume)
  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Verse
  • Datierung: vollständig
  • Fassung: Zwischenfassung
  • Schreibzeug: Tinte
  • Signatur: A-5-d/05_024
  • Seite / Blatt: 01, 02, 03, 04