Montag, 01 April 1957

Die Engelsburg: Kaiser Hadrian spricht (B)

Als ich die Augen in der Finsternis auftat,
begann ich langsam mich in dem Grabmal durch die Jahrhunderte 
aufwärts zu tasten. 

Dann baute ich mir die oberen Zimmer aus 
und drapierte mich mit schweren Brokaten: 
05 Wie wandlungsfähig ist doch der Geschmack! 
Meine Krone trug ich, voll Lust zur Übertreibung, jetzt dreifach.

Die Bescheidenheit, die ich früher von den Alten noch hatte, 
liess ich jetzt ganz weg, 
da mir die Biegung der Seele so wichtig geworden war seither; 
10 die Anspannung der Kräfte, die man früher schön auswog, // 03v
zum ungehemmten Wettstreit, 
wurde mir zur unentbehrlichen Droge. 

Und hatte ich davon genug, 
befleissigte ich mich nachts der Sprache und Gestik 
15 verzückter Fische, 
die nur einfach, ohne Reflexion, 
stillschimmernd schwammen. 

Bis ich mich schliesslich nach all den vielen Versuchen, 
mein Imperium so verbindlich darzustellen, 
20 dass keiner, den es je ergriff, 
es wieder vergessen und sich ihm jemals wieder entziehen könnte: 
entschied für eines der am längsten wirksamen Bilder, 
das am wenigsten den Verdacht der blossen Maskerade auf
sich zieht // 04
und trat, nicht ohne Bedenken trotzdem 
25 wegen des nicht zu vermeidenden Pathos solchen Auftritts 
– aber das schien mir das kleinere Übel –, 
auf die Zinne: 

Das Schwert der Seuche in die Scheide steckend, 
die Flügel vom Herabflug noch gebreitet, 
30 kurz, in der schönen Pose, der gemein verständlichen, 
des nach langem Groll versöhnten, 
durch Bitten, Bussasche, Kerzen und Prozessionen endlich
beschwichtigten 
und so auf dieser hohen Stelle fromm erinnert festgehaltenen, 
die ganze Stadt beruhigenden Engels.


Blatt 03r (A-5-d_02_046.jpg)

B Die Engelsburg: Kaiser Hadrian (der Engel) spricht.

Als ich die Augen in der Finsternis auftat,

begann ich langsam mich in dem Grabmal durch die

Jahrhunderte aufwärts zu tasten.

Dann
Schliesslich baute ich mir die oberen Zimmer aus 

und drapierte mich mit schweren Brokaten: 

05 Wie wandlungsfähig|ist doch der Geschmack! 

Meine Krone trug ichjetzt
Meine Krone trug ich , voll Lust zur Übertreibung,

jetzt dreifach. 


Die Bescheidenheit, die ich von den früher von den Alten

noch hatte, 

liess ich jetzt ganz weg, 

da mir die Biegung der Seele so wichtig geworden war

seither; 

10 die Anspannung der Kräfte, die man früher schön auswog, //

Blatt 03v (A-5-d_02_047.jpg)

zum ungehemmten Wettstreit, war mir nun Bedürfnis.

wurde mir zur unentbehrlichen Droge.

Und hatte ich davon genug, 

befleissigte ich mich nachts der Sprache und Gestik 

15 verzückter Fische, 

die nur einfach , stillschimmernd schwammen ohne Reflexion, 

stillschimmernd schwammen.

Bisich
Bis  mich schliesslich nach all den vielen Versuchen, 

mein Imperium so verbindlich darzustellen, 

20 dass keiner, den es je ergriff, 

es wieder vergessen und sich ihm jemals wieder entziehen

könnte: 

entschied für eines der am längsten wirksamen Bilder, 

das am wenigsten den Verdacht der blossen Maskerade

auf sich zieht //

Blatt 04 (A-5-d_02_048.jpg)

B Die Engelsburg 2

[ – wenn ich auch wusste, dass er mir selbst in diesem

dass er selbst in diesem Fall mir nicht erspart bliebe – ]

und trat, nicht ohne Bedenken trotzdem 

25 wegen des nicht zu vermeidenden Pathos solchen Auftritts 

– aber das schien mir das kleinere Übel –, 

auf die Zinne: 


Das Schwert der Seuche in die Scheide steckend, 

die Flügel vom Herabflug noch gebreitet, 

30 kurz, in der schönen Pose, der gemein verständlichen, 

des nach langem Groll versöhnten, 

durch Bitten, Bussasche, Kerzen und Prozessionen

endlich beschwichtigten 

und so auf dieser hohen Stelle fromm erinnert festgehalt-|nen, 

die ganze Stadt beruhigenden Engels.

1.4.57

 

  • Besonderes:

    Bräunliches Papier; Blatt 03 beidseitig beschrieben

  • Letzter Druck: GEDICHTE 1960
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Strophen: ja
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-d/02
  • Seite / Blatt: 03r/v, 04

Inhalt: 89 Manuskripte und 11 Typoskripte zu 24 Gedichten und 2 szenischen Texten (2 Endfassungen)
Datierung: 27.11.1956 – 31.12.1957
Textträger:114 Einzelblätter (A4-Format); v.a. durchscheinende Makulatur von Gedichttyposkripten und bräunliche Blätter
Umfang: 27 Dossiers, 192 beschriebene Seiten
Publikation: GEDICHTE (10), Verstreutes (2)
Signatur: A-5-d/02 (Schachtel 37)
Herkunft: Mappe EG 57

Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

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