Montag, 21 Juni 1948

So schlägst, so raubst du …* II. (2)

So schlägst, so raubst du. Wie ich dich hasse.
Noch als Verwesender hasse ich dich. Wo sich mir alles löst von allem,
Glied von Glied fällt und die Haut sich
mir abschält, runzlig und alt, wie verbrannt;
ausspeien möchte ich dich, was in mir ist von dir. 
05 Doch zu viel habe ich getrunken von dir, zu viel.
Ich müsste mich selber umwenden, mein Inneres nach aussen.
Und selbst dann gelänge es mir nicht, das meine reinlich
zu scheiden vom deinen.
Ich bin nicht, des werde ich inne.
Ich glaubte zu sein. Doch das gibt es gar nicht: ich.
10 Was bleibt, wenn die Lichter verlöschen, die grossen Scheinwerfer
mit den farbigen Drehscheiben?
Was bleibt von der Bühne ohne das Licht, ohne die Musik?
Schäbige Leinwand, auf Holzrahmen gespannt mit einigen rostigen Nägeln.
Klappernde Vorsatzstücke, wenn du nicht acht hast, fallen sie um.
Vom Balett ein paar geile Mädchen, geil und dumm; // 03v
15 dass sie dumm sind macht sie überhaupt noch erträglich.
Die Tänzer, alberne Jungen, die nur an ihr Bild denken in der Illustrierten,
und an ihre Verehrerinnen, eine gackernde Herde von Hühnern,
woraus man sich eines greift, ein augenverdrehendes Stück, je nach Bedarf.
Die Bäume waren ja gar keine Bäume. Grüne Lappen
warens und ein wenig Holz,
20 die schönen Nymphen geputzte Puppen;
man wäre verlegen, was man mit ihnen sprechen müsste
einen Abend hindurch.
Man würde ihnen Rauch ins Gesicht paffen aus Langeweile,
und sie tränken Thee und lächelten mit langen Wimpern, vergeblich. 
Der Fluss ist eine Projektion von der Galerie. Die Sterne
nichts weiter als eine komplizierte Installation.

25 Aber nicht darum hasse ich dich, dass du mir dies alles gezeigt hast, // 04r
dass es nicht ist,
nein, weil du mir mich selber gezeigt hast, das ist das Schlimmste,
dass ich nicht da bin.
Einen Schönfühler und Dreher von schönlichen Versen,
der eben noch schrieb:

für einen Augenblick glänzt smaragdgrün der Fluss,
für einen Augenblick golden die Krone des Baumes.

30 einen zusammengestohlenen Wicht,
ein Sammelsurium aus guter Erziehung, frommen Gedanken
und halben Aufschwüngen, 
dazwischen Verzweiflungen, bengalisch beleuchtet; 
alles halb von der Seite ironisch betrachtet.
Wie das Mädchen an der Bar die kalte Ovomaltine spielerisch schüttelt,
35 so hast du mich geschüttelt zum Witz,
im Mundwinkel schmunzelnd ob dem Effekt,
den du dir ausgedacht hattest. 
Dein Hampelmann bin ich, der linkische, aus Holz,
mit dem Purpurlappen, dem pathetischen Haarschopf. // 04v
Auch eine Krone kann man ihm aufsetzen, aus Goldpapier,
wenn man will.
40 Aber ich will nicht mehr, hörst du!
Widerlich bist du mir mit deinem zynischen Spiel.
Nicht mehr Hampelmann will ich sein. Einer will ich sein und ich selber.
Und bliebe mir auch nur noch ein Lachen übrig und Verachtung
deines Spektakels, das ich nun kenne.
Lang genug schon bin ich in den Schnürböden herumgestiegen,
weil ich glaubte, es seien Berge.
45 Zu lange, ich Laffe, in den Kulissen gegangen, weil ich
glaubte, es seien Wälder.
Bliebe mir auch nur das Lachen des Verächters, es wäre gut so.
Denn dies Lachen gehörte mir. Ich wäre frei.


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  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Verse
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: A-5-b/02_002
  • Seite / Blatt: 03r/v, 04r/v

Inhalt: 430 Manuskripte zu 151 Gedichten (50 Endfassungen)
Datierung: Mai 1948 – 4. 3.1951
Textträger: 280 Einzelblätter (A4-Format)
Umfang: 174 Dossiers, 436 beschriebene Seiten
Publikation: Gesicht im Mittag (14 Gedichte), Verstreutes (6 Gedichte)
Signatur: A-5-b/02 (Schachteln 30/31) / pdf-Liste
Herkunft: Nr. 1-113: gräulich-grünliche Mappe EG 1 (1948/49/50); Nr. 114-174: grüne Mappe EG 2 (1951)

Kommentar: Willkürlich geordnete Konvolute, Zusammengehörendes oft in verschiedenen Dossiers
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen; diplomatische Umschriften  nur bei Texten, die in Gesicht im Mittag publiziert wurden.

Weitere Fassungen

Manuskripte 1948-51 (alph.)
(Total: 430 )
Manuskripte 1948-51 (Datum)
(Total: 430 )
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