Synopse

(6)
Mittwoch, 28 Januar 1959    (    )

Was herabfällt … (A*)

Was aber nicht leicht herabfällt,
das ist eine silberne Taube: man glaubt,
dass man sie schon in der Hand hält,
dann ist es bloss ein Federball,
05 mit dem auf dem Balkon zwei Kinder spielten.
Oder, noch schlimmer, es ist
eine Büchse mit dem
stinkenden Rest von Sardellen. Man läuft
sein Leben lang durch die Städte und auch
10 nahe entlang den Häusern, von denen
niederhängt ein Ziegel mit der
Warnung: Achtung Dachdeckerarbeiten. Man läuft
ihnen trotzdem entlang, weil man // 083
( – lächerlicherweise –) immer noch glaubt,
15 es falle die Taube
einem in die Hand und sträube
wohlig die silbernen Federn. Und eher
doch ist es ein Ziegel, der einen erschlägt,
eher ein Blumentopf, den die Putzfrau
20 unvorsichtig vom Sims stösst,
was herabfällt. … Aber
du lachst: Was denkst du von mir: Nie hab ich
auf irgend etwas, nie
hab ich auf eine Taube gewartet.
25 Missverständnis, das Schwirren, das Fallen,
die gesträubten silbernen Federn. Ich wenigstens // 084
will gehen mit geöffneter Hand auch da,
wo man Dächer
neu deckt und wo der Schnee in grossen
30 Brocken rutscht und poltert, ich will
immer gehen, Tag und Nacht den Häusern
entlang und durch die Pfützen
mit meinen
dünnen Schuhen, die man lang schon neu // 085
35 schmieren müsste. Sicher fällt mir
einmal die Taube herab in die offne
Hand und sträubt, warm und atmend,
die silbernen Federn. Aber bald weiss sie, sie muss
sich vor mir nicht fürchten, und schläft.

40 Was nicht leicht herabfällt ist eine
Taube mit silbernen Federn.

In: Notizbuch 1958-61
Mittwoch, 28 Januar 1959    (    )

Was herabfällt … (B)

Was herabfällt, ist ein
Federball, mit dem man 
auf dem Balkon spielte. Aber eine
lebendige Taube mit
05 silbern gesträubten
Federn fällt nicht so leicht
herab in meine Hand, auch wenn
ich sie offen halte.

Auch wenn ich den Häusern
10 entlanggehe mit offener Hand und mich
nicht fürchte vor dem Ziegel, auf dem
steht: Achtung Dachdeckerarbeiten, // 087
ist das, was herabfällt ein
Blumentopf, den einer
15 vom Sims stösst. Ist das, was herabfällt,
Schnee, der rutscht und poltert.
Der mich erschlägt, wenn ich
mit den dünnen Schuhen
vom vorigen Sommer durch den Matsch
20 wate, und es spritzt ringsum 
auf. Aber eine lebendige
Taube fällt mir nicht so leicht
in die geöffnete Hand und sträubt
die silbernen Federn und atmet warm
25 und weiss, dass sie sich nicht zu fürchten // 088
braucht und schläft mir
dann ein in der offenen Hand. Nein,
was herabfällt ist alles eher als
eine Taube. Dennoch, ich weiss nicht warum,
30 geh ich nah an den Häusern
mit geöffneter
Hand weiter, weiter entlang:

Was herabfällt …

In: Notizbuch 1958-61
Mittwoch, 25 März 1959    (    )

Was nicht leicht herabfällt … (A)

Was nicht leicht herabfällt,
das ist eine Taube; man glaubt,
man hat sie schon in der Hand. Dann ist es
bloss ein Federball, mit dem auf dem Balkon
05 zwei Kinder spielten.
Es ist eine Büchse mit dem stinkenden Rest
von Sardellen. Man läuft
sein Leben durch Städte und läuft
den Häusern entlang, von denen ein Ziegel
10 niederhängt mit der Warnung: Achtung,
Dachdeckerarbeiten. Trotzdem
läuft man entlang. Man hofft immer, es falle // 02
die Taube einem herab in die Hand
und sträube wohlig die Federn.
15 Doch eher ist es ein Ziegel, der einen
erschlägt, eher
ein Blumentopf, den die Putzfrau
leichtsinnig vom Sims stösst, der einen
erschlägt …..

20 Aber du lachst:
Nein, nie hab ich auf eine
Taube, nie auf das Schwirren, das Fallen
der gesträubten Federn gewartet. Ich will,
ohne zu wissen warum, laufen
25 durch Städte und laufen mit geöffneter Hand den Häusern // 03
entlang, auch wo man Dächer
neu deckt und wo der Schnee in grossen
Brocken rutscht und poltert. Ich will
durch die Pfützen mit meinen brüchigen Schuhen,
30 die man lang schon neu sohlen
müsste, laufen. Ohne zu wissen, warum.
Denn was nicht leicht herabfällt,
das ist eine Taube.

In: Manuskripte 1959-60
Samstag, 09 Mai 1959    (    )

Was nicht leicht herabfällt … (B)

Was nicht leicht herabfällt,
das ist eine Taube; man glaubt,
man hat sie schon in der Hand. Dann ist es
bloss ein Federball, mit dem zwei Kinder
05 spielten auf dem Balkon.
Es ist eine Büchse mit dem stinkenden Rest
von Sardellen. Man läuft
den Häusern entlang, von denen ein Ziegel
niederhängt mit der Warnung: Achtung,
10 Dachdeckerarbeiten. Trotzdem
hofft man immer, es falle
die Taube herab in die Hand
und sträube die Federn. Doch eher
ist es ein Blumentopf, den die Putzfrau
15 leichtsinnig vom Sims stösst, der einen
erschlägt …

Du lachst: nie hab ich auf eine
Taube, nie auf das Schwirren, das Fallen
der gesträubten Federn gewartet. Ich will,
20 ohne zu wissen warum,
mit geöffneter Hand den Häusern
entlang laufen, auch wo man Dächer
neu deckt und wo der Schnee in grossen
Brocken rutscht und poltert. Ohne
25 zu wissen warum. Denn was niemals, was nicht
leicht herabfällt, das ist eine Taube.

In: Manuskripte 1959-60
Datiert: 1959    (    )

Was nicht leicht herabfällt …

Was nicht leicht herabfällt,
das ist eine Taube; man glaubt,
man hat sie schon in der Hand. Dann ist es
bloss ein Federball, mit dem zwei Kinder
05 spielten. Es ist eine Büchse
mit dem stinkenden Rest von Sardinen. Man läuft
den Häusern entlang, von denen ein Ziegel
niederhängt mit der Warnung: 'Achtung,
Dachdeckerarbeiten!'. Trotzdem
10 hofft man immer, es falle
die Taube herab in die Hand
und sträube die Federn. Doch eher
ist es ein Blumentopf, den die Putzfrau
leichtsinnig vom Sims stösst, der einen
15 erschlägt …

Du lachst: nie hab ich auf eine
Taube, nie auf das Schwirren, das Fallen
der gesträubten Federn gewartet. Ich will,
ohne zu wissen warum,
20 mit geöffneter Hand den Häusern
entlang laufen, auch wo man Dächer
neu deckt und wo der Schnee in grossen
Brocken rutscht und poltert. Ohne
zu wissen warum. Denn was niemals, was nicht
25 leicht herabfällt, das ist eine Taube.

In: Typoskripte 1959
Datiert: 1960    (    )

WAS NICHT LEICHT HERABFÄLLT …*

Was nicht leicht herabfällt,
das ist eine Taube; man glaubt,
man hat sie schon in der Hand. Dann ist es
bloß ein Federball, mit dem zwei Kinder
05 spielten. Es ist eine Büchse
mit dem stinkenden Rest von Sardinen. Man läuft
den Häusern entlang, von denen ein Ziegel
niederhängt mit der Warnung: ›Achtung,
Dachdeckerarbeiten!‹ Trotzdem
10 hofft man immer, es falle
die Taube herab in die Hand
und sträube die Federn. Doch eher
ist es ein Blumentopf, den die Putzfrau
leichtsinnig vom Sims stößt, der einen
15 erschlägt …

Du lachst: nie hab ich auf eine
Taube, nie auf das Schwirren, das Fallen
der gesträubten Federn gewartet. – Ich will,
ohne zu wissen warum,
20 mit geöffneter Hand die Häuser
entlang laufen, auch wo man Dächer
neu deckt und wo der Schnee in großen
Brocken rutscht und poltert. Ohne
zu wissen warum. Denn was niemals, was nicht
25 leicht herabfällt, das ist eine Taube.

In: GEDICHTE 1960
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