Zusatztexte

Wenn sich in vielen meiner frühen Gedichte, deren letzte vor siebzehn Jahren veröffentlicht wurden, eine Menge von Weltstoff aufgehäuft hatte, so ist das hier alles wieder abgeräumt. Nichts mehr oder nur noch Spuren von dem Mobiliar der Historie, der Mythologie und der technischen Zivilisation. Nur noch die paar alten Bilder, die seit jeher in mir lagen und jetzt in diesem poetischen Sommer 1980 nach der glücklichen Vollendung einer großen und schweren Arbeit wieder heraufdrängen. Und auch das grammatikalische Gerüst der früheren Gedichte ist nicht mehr da, die Sätze, soweit es sie überhaupt gibt, sind ganz einfach. Mehrenteils bestehen diese kurzen Stücke aus Substantiven und Verben in ihrer Grundform. Adjektive und Adverbien sind der einzige Luxus. Hinter dem Ganzen steht die Vorstellung einer Musik der Worte, der schwebenden Assoziationen.

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Schiffe (Motto)

AENEIS X, 219-223:

Atque illi medio in spatio chorus ecce suarum
Occurrit comitum: Nymphae, quas alma Cybele
Numen habere maris, Nymphasque e navibus esse
Iusserat, innabant pariter, fluctusque secabant,
Quot prius aeratae steterant ad litora prorae.

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Flussufer (Vorwort)

GEDICHTE können prall gefüllt sein mit Welt und davon überfließen. Sie können aber auch eine Geste der Abwendung sein, der Welt gleichsam den Rücken kehren. Sie zeigen dann die Gegenstände als die Schatten an der Wand in der Höhle des Plato: auf die Grundformen reduziert, so sehr vereinfacht, daß man vielleicht die Fülle, Farbe, Körperlichkeit vermißt. Dafür erkennt man Zusammenhänge, Übereinstimmungen, Parallelitäten, die fülligere Gebilde nicht ohne weiteres aufzudecken vermöchten. Solche Gedichte sind eher mit Zeichnungen als mit Gemälden oder gar Plastiken zu vergleichen. Überhaupt wenden sie sich ebenso ans Ohr wie ans Auge, wollen ebenso durch ihren Tonfall faszinieren wie durch die Bilder, die sie vor dem Leser aufstellen.

Ich habe Gedichte dieser und Gedichte jener Art geschrieben. Immer entsprachen sie dem jeweiligen Stand meiner Erfahrung. So sehr sie, im einzelnen, vom Kunstverstand geformt waren, so wenig waren sie die Produkte eines äußerlichen Zufalls, sie entsprangen // alle dem Zwang des Augenblicks, der sie erfand. Darum nur wage ich es, diese neuen Stücke vorzulegen. Mag ich mich früher mehr auf den einen Pol meiner poetischen Möglichkeiten hin bewegt haben, so heute mehr auf den andern. Es mag sich für den Betrachter der Ergebnisse mehr um Nuancen handeln, die Unterschiede mögen nicht immer bemerkbar sein: ich selber spüre den Richtungswechsel deutlich.

Kuno Raeber

es war durchaus anzunehmen, daß es immer von Anfang bis Ende, vom Ende bis zum Anfang des Gangs, des Stollens, des Tunnels, des Flußtals immer und überall etwa gleich viele Krebse waren, die Zahl der Krebse, wie es sich auch immer damit verhielt, die Zahl war unwichtig, es ging um die Teilnahme, die Empfindlichkeit, um das Gespür für das Krebstum, die Krebsheit, darum nur ging es, und es mochte wohl sein, es war durchaus anzunehmen und keinesfalls von der Hand zu weisen, daß diese Teilnahme, diese Empfindlichkeit, dieses Gespür immer mehr zunahm und anstieg in ihr, je länger sie dahinging auf diesem Weg, auf diesem Krebswechsel voranschritt, wo die Krebse, soweit sich bei der sonderbaren Bewegungsweise und Gangart, bei der scheinbaren Richtungslosigkeit 30 ihres Ganges, wo zahllose Krebse, so jedenfalls schien es ihr, ihr teils entgegenkamen, teils, hinter ihr, vor ihr, neben ihr gehend, kriechend, krabbelnd, wie sollte man es zutreffend nennen?, sie begleiteten, denselben Weg, dieselbe Richtung einhielten wie sie, aber das waren nur Vermutungen, reine Spekulation und Hypothese war das, denn es war unmöglich, wie schon gesagt, war ausgeschlossen, mit bloßem Auge, während man ohne längeren Stillstand und Aufenthalt immer voranschritt, festzustellen und zu bestimmen, in welche Richtung am Ende und alles in allem ein einzelner Krebs sich bewegte, was für ein Ziel er hatte, unmöglich war das zu bestimmen da unten […]

34 […]

obwohl du am Ende, oben angekommen, nichts zu bereuen hättest, du würdest, die Augen knapp über der Erdoberfläche, bemerken, daß du aus einem Tümpel herauskröchst, daß du im Begriff wärst, herauszukrabbeln aus einem von zahllosen Tümpeln, Seelein und Teichlein, wie du sie schon unten im Gang, im Stollen, im Tunnel, im verschütteten Flußtal und Bergwerk vermutet, wahrzunehmen geglaubt hast, du würdest bemerken, daß du bis zum Hals noch im bracken, lauen Restwasser der letzten Flut steckst, aber mit dem 35 Kopf wärest du oben und sähest die weite Seenlandschaft mit Inseln und Riffen und flachen, sandigen Auen und steil abfallenden Buchten, und überall würdest du deine Mitkrebse entdecken, deine Genossen im Krebstum, ringsum an den Rändern und Ufern und Inseln, den Riffen, den Felsen, an den steil abfallenden Hängen der Buchten alle versammelt und meerwärts lugend, du hättest unzählige Krebse um dich, und mit ihnen gemeinsam sähest du, hinter und über der mit Sandhügeln und Seen durchsetzten, von Tümpelchen, Bächlein zerfressenen Sandstrandfläche sähest du mit allen Krebsen gemeinsam die blauen Flügel, auf einem gleißenden Spiegel schwebten sie langsam, Schmetterlinge auf silberner Flur, langsam dahin, einer hinter dem anderen, eine lange Reihe von Segeln, aber du könntest nicht hinaus und hinüber, schon faßte der Wirbel dich wieder und risse dich durch den Gang, den Tunnel, den Stollen, das versunkene Flußtal und Bergwerk zum Grabmal und Rundturm am anderen Ende, zöge und söge dich hinab in den Strudel, den Sog, in die schwarze Öffnung des Rohrs, einen Schaumfetzen sähst du noch eben mit dem Sacco di Roma, dem Brand im Borgo und der Speisung der Greise entwischen

[…]

I

VOGEL

Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen über dem Boot, das die Woge
hochwirft und dann
für einen Augenblick einschluckt:
05 Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen!: Wie sonst
könnten die Kranichschwärme
über der Karawane, die den Koloss
nach Osten wegführt, und wie
10 die Adler über dem Partherfeldzug noch fliegen?
Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört, über dem Boot
auf und nieder zu fliegen!: Wenn er,
spielmüde, flöhe, wie kämen
Karawanen und wie
15 kämen Partherzüge ans Ende?

Wenn der Vogel auf einmal nicht mehr flöge, erführe die Welt unabsehbare Veränderungen, die Gewichtverteilung verschöbe sich, alle Bewegungen gingen ganz anders, schneller oder langsamer, sie gingen in eine andere Richtung.

02 Der Vogel fliegt über dem Boot, das allein auf der See treibt. Die See ist bewegt und wirft das Boot hin und her. Nicht allzu heftig zwar, immerhin: Die Wellen steigen hoch, mit sehr weissen Mähnen, für Augenblicke scheinen sie doch bedrohlich. Der Vogel, oben, vollzieht auf seine Weise die Schwankungen des Bootes, die Bewegung des Meeres nach. Oder er vollzieht sie mit, es mag das eine, es mag das andere zutreffen. Der Zusammenhang, // die Interdependenz von Vogel, Boot und Meer ist auf jeden Fall unbezweifelbar, da ja alles ein System ist: Undurchschaubar im Ganzen, in seinen Gesetzen noch weithin rätselhaft, dennoch als System erkennbar. Für wen, wird man fragen, ist es erkennbar? Auf jeden Fall nicht für den logischen, den wissenschaftlichen Verstand. Das System ist erkennbar nur für den schauenden, den assoziierenden Geist, der, plötzlich erwachend, sieht, dass die Dinge so und nicht anders liegen, so und nicht anders zusammenhängen. Der dichterische Geist sieht das System, die Einheit der Welt, obwohl er nicht sagen kann, warum alles so ist und nicht anders. Aber dieses Warum interessiert ihn auch gar nicht. Es geht ihm nicht um Kausalität, es geht ihm nicht um die Feststellung, dass A B verursacht, B aber C. Es geht ihm nur um die Erkenntnis der unauflösbaren Beziehung, der Freundschaft und Sympathie, die alle Dinge und alle Bewegungen an einander bindet. Nicht bloss fliegt der Vogel über dem einsamen Boot, nicht bloss bindet ihn sein spielerischer Flug an die gleichfalls spielerische, wenn auch für das Boot gefährliche Erregung der See, man muss vielmehr annehmen, dass die Zusammenhänge, die Bindungen und Anlehnungen noch breiter und weiter sind, dass sie zahllos sind und alles mit einem dichten Geflecht überziehen, dass überhaupt alles ein Dickicht, ein dichtes und unzerschneidbares Geflecht ist. Der Geist kann es nicht auf einmal wahrnehmen, er sieht aber plötzlich einen Nerv, der eine Erscheinung mit der andern, ein Gelenk, das eine Bewegung mit der andern verbindet, sodass zwei, drei Phänomene sich als ein einziges, zwei, drei Bewegungen sich als eine einzige erweisen.

03 Denn jener Vogel, der über dem einsamen Boot, der über dem bewegten und für das Boot bedrohlichen Meer auf und nieder schwebt, jener Vogel ist natürlich nicht der einzige, der jetzt fliegt und auch nicht der einzige, dessen Flug einer andern Bewegung entspricht und sie begleitet. Gleichzeitig, zum Beispiel, zieht eine Karawane durch Syrien, sie gehört einem Kaufmann, der den Koloss für ein Spottgeld, für dreissig Silberlinge zum Beispiel, den Rhodiern abgekauft hat und ihn jetzt davonführt, so schnell wie nur möglich, damit die Inselbewohner, wenn sie, wie zu erwarten, die // Schnödheit ihres Entschlusses erkennen und ihn bereuen, den Transport nicht mehr einholen und ihr höchstes Gut und Schutzbild nicht mehr zurückkaufen können. Über der Karawane fliegt nicht nur ein Vogel, über ihr zieht ein ganzer Schwarm von Vögeln, von Kranichen, weil diese, so sagt die Überlieferung, weite Flüge lieben, Vieles von oben gleichzeitig sehen und so die gebenen Verkünder und Bestätiger menschlicher Unternehmungen sind. Sie ziehen am Himmel begleitend dahin, während gleichzeitig der Vogel über dem Boot auf und nieder schwebt. Man imaginiere die beiden Doppelbewegungen und mache sich klar, dass sie einander nicht gleichgültig sind, dass ihre Gleichzeitigkeit nicht zufällig ist. Sondern im Gegenteil: Jener gleiche Himmel, das grosse Geflecht aus Windströmungen, aus Ballungen und Verdünnungen, Bewölkungen und Aufhellungen, der gleiche Himmelsorganismus bewegt und trägt den einen Vogel über dem Meer, über dem Boot, der gleiche Himmelsorganismus, der auch die Kraniche über die Wüste treibt, sie zum Fluge lockt und zur Verfolgung der Karawane reizt. Sodass schon durch diese Tatsache die Zusammengehörigkeit des Bootes und der Karawane, zum Beispiel, des in seine Teile zerlegten Kolosses und des einsamen Vogels, zum Beispiel, erwiesen wäre.

04 Aber dann gibt es auch noch die Adler, die auf mehr und anderes hinweisen, uns zu noch genauerem Hinschauen zwingen, auf dass wir das System der Welt und seine Hintergründe schärfer erkennen. Oder besser: Wenn wir die Adler sehen, wenn wir ihnen nachschauen, wird uns noch deutlicher, dass wir das System nicht erkennen können, dass uns seine Hintergründe verborgen bleiben. Auch die Adler fliegen über einem Zug, sie fliegen über dem fatalen Zug des Kaisers gegen die Perser, der diesen in seinen Tod führen wird. Das Ende des Kaisers wird alsbald zu allerhand Spekulationen Anlass geben, und die Spekulationen werden einen endlosen Streit auslösen, der Jahrhunderte unterhalten und ärgern wird. Auf jeden Fall ist es ein pathetischer Vorgang, über dem die Adler da wachen. Und das ist auch in Ordnung so, denn die Adler sind die pathetischen Vögel schlechthin. Unvergleichlich pathetischer als die neugierigen Weitstreckenwanderer, die Kraniche, um gar nicht zu reden von dem einsamen Vogel über dem Boot, der eigentlich überhaupt kein Pathos hat, es sei // denn ein Seelenpathos in seiner fragilen und rührenden Geste, die für viel Innerliches und Verborgenes steht, Intimes und Geheimes ausdrückt für den, der dafür empfänglich ist. Keine Spur davon bei den Adlern: Sie sind politische Tiere, lieben die offen ausgeübte Macht, darum gehören sie zu Zeus wie der Blitz, sie machen kein Federlesens, entweder eignen sie sich etwas an, unterwerfen es sich, oder aber sie lassen es liegen, wenden sich davon ab, indem sie sich den Anschein geben, es sei ihnen gleichgültig. Da ist nichts vom bloss neugierigen Beobachten, noch weniger vom zögernden, spielerischen, sensiblen, meditierenden Schweben. Daher kommt es, dass die Mystiker und die Innerlichen den Adler seit jeher hassen, dass sie, obwohl doch der Ekstase zugeneigt, den Raub des Ganymed als Gewaltakt missbilligen.

05 Sei dem wie immer, mit dem Perserzug des Kaisers erreicht uns die Geschichte, wir nehmen teil an einem Ereignis, das nur einmal und in einem bestimmten Moment stattfindet. Jeder weiss, wann und weiss auch oder glaubt zu wissen, was für Folgen es hat. Man wird nun einwenden, das Gleiche gelte auch für den Transport des rhodischen Kolosses durch die Karawane des Kaufmanns. Aber hier ist ein Unterschied: Der Koloss selbst ist noch eine quasi mythische Figur, der Gipfel des Berges, mit dem der Mythos in die dünnere Luft der Geschichte hineinragt. Und die Karawane, die ihn wegträgt, obwohl historisch datierbar, zieht, bei genauerer Betrachtung, noch durch die Wüste der Zeitlosigkeit. Die Geschichte des Kolosses ist die Geschichte eines Gottes, der aufgerichtet und verehrt wurde, der dann einstürzte und dessen Trümmer man am Ende wegtrug nach Osten<,> wo sie spurlos verschwanden. Das ist mehr Mysterium als Historie, ein Ablauf, der uns gleich bekannt vorkommt: wie etwas, das sich dauernd und immer wieder ereignet.

06 So sage ich hier, so sage ich im Augenblick, und doch wäre es denkbar, dass ich zu einem anderen Zeitpunkt – wenn die Sterne anders stehen, der Luftdruck höher oder tiefer, die Luft feuchter oder trockener ist – es ist denkbar, dass ich zu einem anderen Zeitpunkt das Gegenteil dächte und sagte. Dass ich das Gegenteil mit nicht geringerer Überzeugung, mit // nicht weniger kräftigen Argumenten verföchte. […]

07 Damit komme ich der Frage, die mich bedrängt, schon näher: Was nämlich veranlasst den Dichter zum Schreiben von Essays? […]. //

II

01 Denn der Essay, was ist er anderes als ein verkapptes und amplifiziertes Gedicht? Er ist das Gedicht des Autors, der keine Poesie schreiben will, sich keine Poesie zu schreiben getraut, aber es trotzdem nicht lassen kann. […].

IV

01 Gerade in der scheinbar wissenschaftlichen Bemühung, die der Essay darstellt, demonstriert und bekräftigt der Dichter seine Feindschaft gegen die Wissenschaft: Gerade dieser Versuch, die Kluft aufzufüllen oder wenigstens einen Steg hinüberzubauen, schlägt unvermeidlich in das Gegenteil aus. Der Dichter glaubt nicht an die Wissenschaft, darum scheitert jede seiner wissenschaftlichen Unternehmungen. Wenn er sich wissenschaftlicher Mittel bedient, so ist das immer, ob er es weiss oder nicht, ob er es will oder nicht, ein Schindludertrei­ben mit den heiligsten Gütern der Forscher, Gelehrten und Philosophen. Wenn er Essays schreibt, dringt der Dichter ins Sanctissimum des Feindes ein und löst das Götterbild, indem er den Strahl der Poesie darauf richtet, in Staub auf. Der Dich­ter ist ja in unserer Welt, in der die Wissenschaft längst gesiegt zu haben scheint und täglich neue Siege davonträgt, der Einzi­ge, der noch an Magie glaubt und sie für stärker hält als die Ra­tio. Wenn er Essays schreibt, tut er es zum Teil auch darum, weil er den Gegensatz, die unversöhnliche Gegnerschaft nicht mehr erträgt. Ja, er schreibt Essays auch darum, weil er sich anpassen, sich dem wissenschaftlichen, rationalen, diskursiven Zeitalter als respektablen Kumpan anbieten will, weil er, das reine Gegenteil eines Intellektuellen, sich mit den Intellek­tuellen als einer ihresgleichen anbiedern möchte. Das Ergeb­nis wird alles andere sein als das, was er sich, da er sich zum Schreiben hinsetzte, vorgenommen hat. Der Essay wird ihn als Dichter und damit in seiner unrettbaren Überholtheit und Zeitfremde bestätigen. Das wird ihn erschrecken: Denn jetzt weiss er endgültig, dass er auf dem einzigen Weg ist, den er ge­hen kann. Er schrieb einen Essay, um einmal etwas anderes zu machen. Und siehe da: er hat einfach ein weiteres Gedicht ge­schrieben!

V

01 Die Himmelsströmung, die den Adler über dem kaiserlichen Feldzug dahintreibt, die ihn zum Darüberfliegen verlockt, weiss sie von der Bedeutung des Zuges, von seiner fatalen Endgültigkeit? Oder gibt es ein Drittes, das alle drei leitet, Ad­ler und Himmelsströmung und Kaiser? Veranlasst dieses Drit­te auch die Kraniche, den Koloss auf seinem Wüstenweg in die Verschollenheit zu begleiten? Ist dieses Dritte eine jenseitige höhere Macht oder ein innerweltliches Gesetz oder ein riesiger Magnet, der eine Anzahl Bewegungen gleichzeitig und an ver­schiedenen Orten bewirkt? Oder hat das alles gar nichts mit­einander zu tun, und der Zusammenhang, die Sympathie sind bloss im Kopf des Dichters, in seinem kupplerischen Geist vorhanden? Dafür spricht zum Beispiel der Umstand, dass er auch den unbedeutenden, gar nicht näher bestimmten Vogel über dem ebenso unbestimmten und unbedeutenden Boot mit in den Zusammenhang zieht. Von aussen gesehen ist das künstlich, und wie sollte es gelingen, eine derartige Machinati­on irgendjemandem plausibel zu machen? Wenn der Dichter sich so zu fragen beginnt, hat er seine Sicherheit verloren, dann flüchtet er in den Essay: Er will dann begründen, warum er gerade diese Dinge und warum er sie gerade so sieht. Und das ist, wenn nicht geradezu töricht, so doch unmöglich, die Folge einer bedauerlichen Selbstunterschätzung. Denn es ge­nügt, dass der Zusammenhang, die Einheit und Verwandt­schaft in einem Geist als Vision existiert, um echt und über­zeugend zu sein. Daran aber zweifelt der Dichter, wenn er sein Gehege verlässt und sich auf den Gemeinplatz der Beweise
und Begründungen begibt. Es wäre klüger, wenn er darüber nachdächte, was für Bilder ihn bewohnen und aus ihm, im Ge­dicht, hinausdrängen, wie diese Bilder sich verändern und was sie für ihn bedeuten. Warum etwa kommt er immer wieder auf das Fliegen und auf die Vögel: seien das nun Adler<,> Kraniche oder unbestimmte Vertreter ihrer Gattung? Warum geht es ihm immer um jenen Zug, jene Bewegung, wie sie eben den Vögeln eigen ist, aber auch den Tieren in der Wüste, dem ein­samen Boot im Meer: um eine in ihrem Ziel unklare und // doch in eine bestimmte Richtung drängende Bewegung? Diese Fra­gen müsste er sich stellen, statt sich in Spekulationen über den Weltgeist und über kosmische Sympathien zu verirren. Er müsste sich zurücknehmen auf ganz einfache Reflexionen über sich selbst und die Methode seiner Arbeit: Dann hätten er und seine Leser einen grösseren Gewinn. Warum überhaupt lockt es die Dichter, wenn sie schon theoretisieren wollen, so selten, das System ihrer Motive und Bilder aufzustellen und vorzuzeigen? Täten sie das, könnten sie viele ihrer Gegner, deren Angriffe sie jetzt mit stummem Groll erdulden, zum Schweigen bringen. Der Poet könnte zum Beispiel zeigen, dass jedes einzelne der wiederkehrenden Motive der Ikonen­malerei entspricht: Wie sich hier in der Welt einer noch weit­hin kollektiven Psyche die visionär geschaute Realität der Religion in fest umrissenen und unveränderlichen Gestalten niederschlägt, so behält der Dichter, von bestimmten frühen Erfahrungen erschüttert und geprägt, daraus einige Bilder zurück, die aus seinem Tiefengedächtnis immer wieder nach oben tauchen und in seinen Gedichten erscheinen. So also sieht er seit vielen Jahren immer den Vogel vor sich, das Flie­gen überhaupt, das Auf- und Absteigen mit dem Wind, ähn­lich sieht er immer das Schiff in den Wellen und dann die Wel­len selbst: eine heftige und, bei aller Regelmässigkeit, wilde und gefährliche Bewegung. Dagegen steht – in dem Gedicht, das diese Gedanken veranlasst hat, kommt er nicht vor – der Baum. Der Baum steht wirklich und bedeutet etwas ganz an­deres als Vogel und Wellen, er bedeutet das Gegenteil: Um ihn und für ihn steht alles still. Der Baum ist das Feste, woran sich alles hält, er ist Umriss, Ballung, die das Fliehende, Flüchtige, Wegfliessende und Verwehende anzieht, aufhält, festmacht. Der Baum hat die gleiche Funktion, die in ältern Gedichten die Kuppel hat. Warum denn aber, wird man nun fragen, hast du die Kuppel durch den Baum ersetzt? Ist es sinnvoll, ist es überhaupt gestattet, ein Bild durch ein anderes zu ersetzen, wenn das, was abgebildet werden soll, sich nicht verändert hat? Es handelt sich hier um einen Abstieg in ältere Schichten, um ein Freilegen älterer Grundrisse, um ein Ausschälen ver­wucherter Kerne, um einen Konzentrationsvorgang: Wenn in früheren Gedichten die Kuppel dort stand wo in späteren der Baum, so darum, weil der Dichter damals noch mehr von Ein­zelerscheinungen der Geschichte bestimmt und besessen war, weil er damals noch naiv glaubte, die Geschichte // biete ihm Chiffern, Gestalten, Gleichnisse an, die das, was in ihm selber lag und sich ausdrücken wollte, angemessen und dem Leser verständlich übermitteln, verkörpern, versinnlichen würden. Dies Vertrauen in die Geschichte verlor sich, als der Dichter bemerkte, dass manche Leser die historischen Bilder und Al­lusionen als leeren Zierat missverstanden, dass sie sich an für ihn nebensächlichen Aspekten stiessen, so dass er zuweilen seine eigenen Gebilde in den Beschreibungen seiner Kritiker gar nicht mehr wiedererkannte. Sie erschienen da als Aufsta­pelungen von kuriosen Altertümern, als eitle Schaustellungen von Schulwissen, die mit jenem Blitz aus der Mitte der Welt, aus dem Zentrum persönlicher Erfahrung, als was der Dichter seine Arbeiten doch verstanden wissen wollte, nichts mehr, aber auch gar nichts mehr zu tun hatten.

02 Er beschloss, dies alles wegzuwerfen, abzuräumen, er dachte über die Grundfiguren nach, die unmittelbar einleuchten wür­den, die von niemandem missdeutet oder als bloss zufällig bezeichnet werden könnten: Er versuchte, sich von der Ge­schichte zu lösen und in den Mythos, in die Natur, zu den Ar­chetypen zurückzusteigen. Daraus ergab sich eine grosse Ver­einfachung seines Szenariums. An die Stelle der Kuppel trat, zum Beispiel, der Baum. Dann gab es Kiesel, Tiere und Kin­der. Denn er glaubte, dass die Kinder einer Zeit vor dem Be­ginn der Geschichte zugehören würden, einer Zeit, wo es all die historischen Einrichtungen, Gesellschaft, Staat, organi­sierte Religion und Antireligion noch nicht gab. Der Dichter bildete sich keinen Augenblick ein, dass das, was er wollte, möglich sei. Er machte sich, da er ja von der Geschichte her­kam und sich selber, wohl oder übel, auch immer als histori­sches Wesen empfand, keinen Augenblick Illusionen darüber, dass das Verlassen der Geschichte unmöglich und die Flucht daraus zum vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Den­noch versuchte er das Aussichtslose, er reduzierte seine Ge­dichte auf ein Minimum an Worten und Bildern, er bemühte sich verzweifelt, ihnen jene Simplizität zu geben, die er als das Merkmal der Natur, des Mythos, der Kindheit betrachtete. Als er nun sah, dass seine Bemühung wider Erwarten zu gelin­gen begann, dass seine Gedichte sich der Klarheit und Trans­parenz näherten, die er ihnen so leidenschaftlich gewünscht hatte, gerade als er dies aufatmend feststellen // wollte, waren auch schon die Kritiker wieder da und erhoben ihre nörgeln­den Stimmen: Wie schade es doch sei, dass der Dichter seinen alten Reichtum, die Bilder und Metaphern verlassen habe und nüchtern, arm und mager geworden sei. So musste er fürchten, unversehens aus einem Übel ins andere gefallen zu sein, viel­leicht sogar Teufel durch Beelzebub vertrieben zu haben. Denn seine klugen Ratgeber beklagten nicht nur die allgemei­ne Auszehrung, denen seine Gedichte anheimgefallen seien, sie bedauerten plötzlich und ausdrücklich sogar, dass er der Geschichte, die doch die Quelle seiner Inspiration sei, den Rücken gekehrt habe. Der Dichter war verwundert, verwirrt, dachte nach und zog seine Schlüsse. Seine Flucht aus dem Licht, das die Paläste und Kuppeln beschien, hatte er offenbar teuer bezahlt. In der Höhle, die er jetzt bewohnte, gab es nur Unrat, Dämmerlicht und das Spiel der Schatten an den Wän­den. Dieses Schattenspiel faszinierte zwar den, der es betrach­tete, der sich überhaupt genauer hinzusehen bemühte. Das aber taten die wenigsten. Die Augen der meisten waren nicht empfindlich genug, um die Nuancen wahrzunehmen. An die grellen Kontraste des Tageslichts gewöhnt, meinten sie, dass in der Höhle überhaupt nichts passiere: Was da geschah, lag ein­fach unterhalb ihrer Reizschwelle. Und der Dichter hatte sich eingebildet, aus den kleinsten Bewegungen liessen sich die Be­wegungsgesetze der Welt überhaupt erraten, der schwankende Schatten eines Grashalms, an die Rückwand der Höhle ge­worfen, offenbare mehr vom Rhythmus der Welt als die Wan­derung ganzer Milchstrassen. Der Dichter stutzte und dachte nach und schrieb nieder, was er dachte. Und dabei hielt er doch nach wie vor wenig vom Denken, wenig von aller Theo­rie. Als ob es auf Meinungen und Überzeugungen ankäme! Dass es nicht darauf ankommt, gerade das will der Dichter, wenn er aus Verlegenheit und Angst und aus dem Bedürfnis nach Anpassung einmal Essays schreibt, genau das will er ja damit demonstrieren. Womit er, zu seiner Verblüffung, doch wieder sich selbst treu bleibt.

VI

01 Aber das ist nur ein Durchgang, ein Aufenthalt, den er macht, dass sich ihm die Elemente neu ordnen, dass sich ihm der Stoff neu zusammenfüge: Er muss ihn in die Hand nehmen und auf den Kopf stellen und durcheinanderschütteln. Nur so kann er hoffen, dass alles anders wird. Alles anders und neu zu machen und immer wieder ganz von vorn zu beginnen, das ist die ein­zige Chance für den Dichter, Dichter zu bleiben und nicht zum blassen Rhetor zu werden. (Der Dichter enthält immer auch den Rhetor in sich, ist immer auch Rhetor. Aber nicht umgekehrt!) In diesem Prozess des Umwerfens, Zerstreuens, Neusammelns, Neuordnens und Neubauens hat der Essay seine Funktion. Er ist, selber ein verkapptes Gedicht, ein Um­weg zum neuen Gedicht. Vielleicht wird es sich, nachdem sich der Autor eine Zeitlang auf den Essay zurückgezogen hat, mit neuer Sinnlichkeit füllen. Vielleicht wird das Gedicht, nach so viel Kargheit, nach so viel Stilisierung, nach der Reduktion auf ein Minimum an Bildern und Figuren, sich neu vollsaugen mit Weltsaft, mit Gegenwart und Geschichte, mit was auch immer. Vielleicht wird der Essay, dies Anpacken der Welt von einer anderen Seite oder doch mit anderen Zangen, dem Dichter mehr Kühnheit geben, ihn die lang geübte Abstinenz als Prü­derie empfinden lassen oder doch als eine Übung in Scham­haftigkeit, die nun abzubrechen an der Zeit wäre. Vielleicht. Auf jeden Fall, dass er ihn bis zu diesen Gedanken und Zwei­feln geführt hat, dass er mit seiner Hilfe die Denk- und Fühl­krusten aufbrach: das verdankt der Dichter der zwischen allem hängenden, nirgends zugehörigen und allen etwas ab­schauenden, unentschlossenen und unten am Ende der Tafel sitzenden Literaturgattung des Essay. Er mag von Vögeln, Booten, Feld- und Kaufmannszügen, von Bäumen oder Höh­len reden, er mag dies oder jenes oder das Gegenteil von bei­dem behaupten, Meinungen und Überzeugungen haben ihre Tages- und Lebenszeit. Aber der Essay hat seine Funktion als Übung. Wer ihn, als nicht allzu ernsthaftes Genre, ernst neh­men kann, der versteht das Spiel: Hin- und Herlaufen, ohne System und scheinbar auch ohne Absicht, sich treiben lassen von den Launen des Geistes, zuweilen ist es gut, dies // zu tun, dann treibt einen die Strömung an unbekannte Orte. Der Ma­gnetberg zieht die Splitter an, sie richten sich in einer neuen Konfiguration auf ihn aus. Diese wird am meisten den überra­schen, der die Splitter planlos verstreut hat.

 

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