Vogel
Synopse
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Dass nur ein Vogel (A*)
Notizbuch 1961-65 — Entstanden: 09. März 1965Dass nur ein Vogel
auf fliegt
und nieder über dem einsamen Boot,
worin die Menschen, weil es schlingert,
05weil das Wasser es hochwirft,
weil das Wasser es für einen Augenblick einschluckt,
sich fürchten:
Dass nur ein Vogel auffliegt darüber und nieder,
statt dass ganze Kranichscharen oder auch
10Vieles bedeutende Adler
ziehn über der Karawane des syrischen Kaufmanns,
der den Koloss nach Osten bringt, // 175
oder Vieles bedeutende Adler
über dem gegen die Parther
15ziehenden Heer:
Dass nur ein Vogel, neugierig und ängstlich¿ und selber
wenig wissend,
schaukelt über dem furchtsamen Boot:
dies sei dir genug und errege dir Schrecken
20und löse den Schrecken in Hoffnung,
weil schon die alten
Dampfer unbewegt liegen zu beiden Seiten.
Doch dafür fliegt nicht einmal mehr ein Vogel
auf und nieder über dem Boot.
25 Er fürchtet die alten Dampfer
am meisten, die // 176
zwischen Aasen und Öl
unbewegt liegen. -
Vogel (B*)
Notizbuch 1961-65 — Entstanden: 05. Mai 1965Dass nur der einsame
Vogel nicht aufhört
auf- und nieder zu fliegen
über dem Boot,
05das die Woge hochwirft und dann
für einen Augenblick einschluckt:
Dass nur der einsame
Vogel nicht aufhört, auf und niederzufliegen:
Wie sonst könnten die Kranichschwärme
10über der Karawane des syrischen Kaufmanns,
der den Koloss wegträgt nach Osten,
noch fliegen und wie
die Adler über dem Partherzug des Kaisers:
Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört // 178
15über dem Boot
auf- und niederzufliegen:
Wenn er, spielmüde, flöhe,
wie sollten dann Kraniche,
wie sollten dann Adler noch fliegen,
20und wie
kämen Karawanen und wie
Partherzüge ans Ende? -
Vogel (A)
Manuskripte 1964-65 — Entstanden: 12. Mai 1965Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen
über dem Boot,
das die Woge hochwirft und dann
05für einen Augenblick einschluckt:Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen:
Wie sonst könnten die Kranichschwärme
über der Karawane des syrischen Kaufmanns,
10der den Koloss wegführt nach Osten, und wie
die Adler über dem Partherzug des Kaisers
noch fliegen?Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört, // 02
über dem Boot
15auf und nieder zu fliegen:
Wenn er, spielmüde, flöhe,
wie sollten dann Kranichschwärme,
wie sollten Adler noch fliegen,
und wie
20kämen Karawanen und wie
Partherzüge ans Ende? -
Vogel (B)
Manuskripte 1964-65 — Entstanden: 09. Juni 1965Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen über dem Boot, das die Woge
hochwirft und dann
für einen Augenblick einschluckt:05Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen!
Wie sonst könnten die Kranichschwärme
über der Karawane des syrischen Kaufmanns,
der den Koloss wegführt nach Osten, und wie
10die Adler über dem Partherfeldzug des Kaisers
noch fliegen? // 04Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
über dem Boot auf und nieder zu fliegen:
Wenn er, spielmüde, flöhe,
15wie sollten Kraniche dann, wie
sollten Adler dann fliegen, und wie
kämen Karawanen und wie
kämen Partherfeldzüge ans Ende? -
Vogel (C)
Manuskripte 1964-65 — Entstanden: 11. Juni 1965Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen über dem Boot, das die Woge
hochwirft und dann,
für einen Augenblick einschluckt:
05Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen!: Wie sonst
könnten die Kranichschwärme
über der Karawane, die den Koloss
nach Osten wegführt, und wie
10die Adler über dem Partherfeldzug noch fliegen?Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört, über dem Boot
auf und nieder zu fliegen!: Wenn er,
spielmüde, flöhe, wie kämen
Karawanen und wie
15kämen Partherzüge ans Ende? -
Versuch über den Essay, das Gedicht und den Dichter
Zusatztexte — Entstanden: 04. September 1965I
VOGEL
Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen über dem Boot, das die Woge
hochwirft und dann
für einen Augenblick einschluckt:
05Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen!: Wie sonst
könnten die Kranichschwärme
über der Karawane, die den Koloss
nach Osten wegführt, und wie
10die Adler über dem Partherfeldzug noch fliegen?
Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört, über dem Boot
auf und nieder zu fliegen!: Wenn er,
spielmüde, flöhe, wie kämen
Karawanen und wie
15kämen Partherzüge ans Ende?Wenn der Vogel auf einmal nicht mehr flöge, erführe die Welt unabsehbare Veränderungen, die Gewichtverteilung verschöbe sich, alle Bewegungen gingen ganz anders, schneller oder langsamer, sie gingen in eine andere Richtung.
02Der Vogel fliegt über dem Boot, das allein auf der See treibt. Die See ist bewegt und wirft das Boot hin und her. Nicht allzu heftig zwar, immerhin: Die Wellen steigen hoch, mit sehr weissen Mähnen, für Augenblicke scheinen sie doch bedrohlich. Der Vogel, oben, vollzieht auf seine Weise die Schwankungen des Bootes, die Bewegung des Meeres nach. Oder er vollzieht sie mit, es mag das eine, es mag das andere zutreffen. Der Zusammenhang, // die Interdependenz von Vogel, Boot und Meer ist auf jeden Fall unbezweifelbar, da ja alles ein System ist: Undurchschaubar im Ganzen, in seinen Gesetzen noch weithin rätselhaft, dennoch als System erkennbar. Für wen, wird man fragen, ist es erkennbar? Auf jeden Fall nicht für den logischen, den wissenschaftlichen Verstand. Das System ist erkennbar nur für den schauenden, den assoziierenden Geist, der, plötzlich erwachend, sieht, dass die Dinge so und nicht anders liegen, so und nicht anders zusammenhängen. Der dichterische Geist sieht das System, die Einheit der Welt, obwohl er nicht sagen kann, warum alles so ist und nicht anders. Aber dieses Warum interessiert ihn auch gar nicht. Es geht ihm nicht um Kausalität, es geht ihm nicht um die Feststellung, dass A B verursacht, B aber C. Es geht ihm nur um die Erkenntnis der unauflösbaren Beziehung, der Freundschaft und Sympathie, die alle Dinge und alle Bewegungen an einander bindet. Nicht bloss fliegt der Vogel über dem einsamen Boot, nicht bloss bindet ihn sein spielerischer Flug an die gleichfalls spielerische, wenn auch für das Boot gefährliche Erregung der See, man muss vielmehr annehmen, dass die Zusammenhänge, die Bindungen und Anlehnungen noch breiter und weiter sind, dass sie zahllos sind und alles mit einem dichten Geflecht überziehen, dass überhaupt alles ein Dickicht, ein dichtes und unzerschneidbares Geflecht ist. Der Geist kann es nicht auf einmal wahrnehmen, er sieht aber plötzlich einen Nerv, der eine Erscheinung mit der andern, ein Gelenk, das eine Bewegung mit der andern verbindet, sodass zwei, drei Phänomene sich als ein einziges, zwei, drei Bewegungen sich als eine einzige erweisen.
03Denn jener Vogel, der über dem einsamen Boot, der über dem bewegten und für das Boot bedrohlichen Meer auf und nieder schwebt, jener Vogel ist natürlich nicht der einzige, der jetzt fliegt und auch nicht der einzige, dessen Flug einer andern Bewegung entspricht und sie begleitet. Gleichzeitig, zum Beispiel, zieht eine Karawane durch Syrien, sie gehört einem Kaufmann, der den Koloss für ein Spottgeld, für dreissig Silberlinge zum Beispiel, den Rhodiern abgekauft hat und ihn jetzt davonführt, so schnell wie nur möglich, damit die Inselbewohner, wenn sie, wie zu erwarten, die // Schnödheit ihres Entschlusses erkennen und ihn bereuen, den Transport nicht mehr einholen und ihr höchstes Gut und Schutzbild nicht mehr zurückkaufen können. Über der Karawane fliegt nicht nur ein Vogel, über ihr zieht ein ganzer Schwarm von Vögeln, von Kranichen, weil diese, so sagt die Überlieferung, weite Flüge lieben, Vieles von oben gleichzeitig sehen und so die gebenen Verkünder und Bestätiger menschlicher Unternehmungen sind. Sie ziehen am Himmel begleitend dahin, während gleichzeitig der Vogel über dem Boot auf und nieder schwebt. Man imaginiere die beiden Doppelbewegungen und mache sich klar, dass sie einander nicht gleichgültig sind, dass ihre Gleichzeitigkeit nicht zufällig ist. Sondern im Gegenteil: Jener gleiche Himmel, das grosse Geflecht aus Windströmungen, aus Ballungen und Verdünnungen, Bewölkungen und Aufhellungen, der gleiche Himmelsorganismus bewegt und trägt den einen Vogel über dem Meer, über dem Boot, der gleiche Himmelsorganismus, der auch die Kraniche über die Wüste treibt, sie zum Fluge lockt und zur Verfolgung der Karawane reizt. Sodass schon durch diese Tatsache die Zusammengehörigkeit des Bootes und der Karawane, zum Beispiel, des in seine Teile zerlegten Kolosses und des einsamen Vogels, zum Beispiel, erwiesen wäre.
04Aber dann gibt es auch noch die Adler, die auf mehr und anderes hinweisen, uns zu noch genauerem Hinschauen zwingen, auf dass wir das System der Welt und seine Hintergründe schärfer erkennen. Oder besser: Wenn wir die Adler sehen, wenn wir ihnen nachschauen, wird uns noch deutlicher, dass wir das System nicht erkennen können, dass uns seine Hintergründe verborgen bleiben. Auch die Adler fliegen über einem Zug, sie fliegen über dem fatalen Zug des Kaisers gegen die Perser, der diesen in seinen Tod führen wird. Das Ende des Kaisers wird alsbald zu allerhand Spekulationen Anlass geben, und die Spekulationen werden einen endlosen Streit auslösen, der Jahrhunderte unterhalten und ärgern wird. Auf jeden Fall ist es ein pathetischer Vorgang, über dem die Adler da wachen. Und das ist auch in Ordnung so, denn die Adler sind die pathetischen Vögel schlechthin. Unvergleichlich pathetischer als die neugierigen Weitstreckenwanderer, die Kraniche, um gar nicht zu reden von dem einsamen Vogel über dem Boot, der eigentlich überhaupt kein Pathos hat, es sei // denn ein Seelenpathos in seiner fragilen und rührenden Geste, die für viel Innerliches und Verborgenes steht, Intimes und Geheimes ausdrückt für den, der dafür empfänglich ist. Keine Spur davon bei den Adlern: Sie sind politische Tiere, lieben die offen ausgeübte Macht, darum gehören sie zu Zeus wie der Blitz, sie machen kein Federlesens, entweder eignen sie sich etwas an, unterwerfen es sich, oder aber sie lassen es liegen, wenden sich davon ab, indem sie sich den Anschein geben, es sei ihnen gleichgültig. Da ist nichts vom bloss neugierigen Beobachten, noch weniger vom zögernden, spielerischen, sensiblen, meditierenden Schweben. Daher kommt es, dass die Mystiker und die Innerlichen den Adler seit jeher hassen, dass sie, obwohl doch der Ekstase zugeneigt, den Raub des Ganymed als Gewaltakt missbilligen.
05Sei dem wie immer, mit dem Perserzug des Kaisers erreicht uns die Geschichte, wir nehmen teil an einem Ereignis, das nur einmal und in einem bestimmten Moment stattfindet. Jeder weiss, wann und weiss auch oder glaubt zu wissen, was für Folgen es hat. Man wird nun einwenden, das Gleiche gelte auch für den Transport des rhodischen Kolosses durch die Karawane des Kaufmanns. Aber hier ist ein Unterschied: Der Koloss selbst ist noch eine quasi mythische Figur, der Gipfel des Berges, mit dem der Mythos in die dünnere Luft der Geschichte hineinragt. Und die Karawane, die ihn wegträgt, obwohl historisch datierbar, zieht, bei genauerer Betrachtung, noch durch die Wüste der Zeitlosigkeit. Die Geschichte des Kolosses ist die Geschichte eines Gottes, der aufgerichtet und verehrt wurde, der dann einstürzte und dessen Trümmer man am Ende wegtrug nach Osten<,> wo sie spurlos verschwanden. Das ist mehr Mysterium als Historie, ein Ablauf, der uns gleich bekannt vorkommt: wie etwas, das sich dauernd und immer wieder ereignet.
06So sage ich hier, so sage ich im Augenblick, und doch wäre es denkbar, dass ich zu einem anderen Zeitpunkt – wenn die Sterne anders stehen, der Luftdruck höher oder tiefer, die Luft feuchter oder trockener ist – es ist denkbar, dass ich zu einem anderen Zeitpunkt das Gegenteil dächte und sagte. Dass ich das Gegenteil mit nicht geringerer Überzeugung, mit // nicht weniger kräftigen Argumenten verföchte. […]
07 Damit komme ich der Frage, die mich bedrängt, schon näher: Was nämlich veranlasst den Dichter zum Schreiben von Essays? […]. //
II
01Denn der Essay, was ist er anderes als ein verkapptes und amplifiziertes Gedicht? Er ist das Gedicht des Autors, der keine Poesie schreiben will, sich keine Poesie zu schreiben getraut, aber es trotzdem nicht lassen kann. […].
IV
01Gerade in der scheinbar wissenschaftlichen Bemühung, die der Essay darstellt, demonstriert und bekräftigt der Dichter seine Feindschaft gegen die Wissenschaft: Gerade dieser Versuch, die Kluft aufzufüllen oder wenigstens einen Steg hinüberzubauen, schlägt unvermeidlich in das Gegenteil aus. Der Dichter glaubt nicht an die Wissenschaft, darum scheitert jede seiner wissenschaftlichen Unternehmungen. Wenn er sich wissenschaftlicher Mittel bedient, so ist das immer, ob er es weiss oder nicht, ob er es will oder nicht, ein Schindludertreiben mit den heiligsten Gütern der Forscher, Gelehrten und Philosophen. Wenn er Essays schreibt, dringt der Dichter ins Sanctissimum des Feindes ein und löst das Götterbild, indem er den Strahl der Poesie darauf richtet, in Staub auf. Der Dichter ist ja in unserer Welt, in der die Wissenschaft längst gesiegt zu haben scheint und täglich neue Siege davonträgt, der Einzige, der noch an Magie glaubt und sie für stärker hält als die Ratio. Wenn
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VOGEL
Typoskripte 1965 — Entstanden: 1965Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen über dem Boot, das die Woge
hochwirft und dann
für einen Augenblick einschluckt:
05Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört,
auf und nieder zu fliegen!: Wie sonst
könnten die Kranichschwärme
über der Karawane, die den Koloss
nach Osten wegführt, und wie
10die Adler über dem Partherfeldzug noch fliegen?
Dass nur der einsame Vogel nicht aufhört, über dem Boot
auf und nieder zu fliegen!: Wenn er,
spielmüde, flöhe, wie kämen
Karawanen und wie
15kämen Partherzüge ans Ende?