Typoskripte 1983

Inhalt: 88 Typoskripte (Druckvorlage) zu 88 Gedichten + Nachwort (Essay); Inhaltsverzeichnis
Textträger: Einzelblätter (A4-Format)
Umfang: 14 Dossiers (232 Bll)
Publikation: Abgewandt Zugewandt: Hochdeutsche Gedichte / Alemannische Gedichte (88 Gedichte)
Signatur: A-5-h/07 (Schachtel 44)
Herkunft: Roter Umschlag: Abgewandt Zugewandt / (Druckmanuskript) / (116 SS.) / Kuno Raeber, Ainwillerstrasse 1, D-8000 München 40 / Tel 004989 /39 3351

Kommentar: Durchschläge (z.T. Kopien) mit Satzauszeichnungen; Titelei vom Verlag; oben Paginierung durch Raeber (3-116). Besonderheit: diphtongiertes "ië" bei den Mundartgedichten als überschriebenes "iö" dargestellt, z. t. mit Bleistift (Setzer) zu "ie" korrigiert (vgl. v.a. bei SCHTROOSS); auch Verdeutlichungen mit Bleistift.
Eine KOPIE des Druckmanuskripts (A-5-h/06), die Raeber bei sich behielt, enthält einige zusätzliche Korrekturen (vgl. Text-DETAILS).
(Umfassende Beschreibung)
Wiedergabe: Edierte Texte, Korrekturvermerke

Datiert: 1983       )

NEW YORK V

Häute von den
Wänden hängende
Häute abge-
schälte abge-
05 zogene Häute
überall von allen
Wänden herunter
hängende Häute vom
Blut vom Fleisch von den Knochen
10 befreite reine
gereinigte Häute
an Nägeln an reinen
gereinigten Köpfen
der Nägel herunter
15 hängende Häute
von den säuberlich in den
geputzten in den geschrubbten
Wänden von allem
Schmutz gesäuberten Nägeln
20 von den blitzenden Köpfen der Nägel
reinlich verteilt über die peinlich
gereinigten Wände herunter
hängende Häute.

Datiert: 1983       )

NEW YORK VI

Wärst du nur hinten
in der Schlange geblieben und hättest
dich nicht nach vorn ge-
drängelt sie hätten
05 dich noch früh genug
an die unterste Stufe der Treppe
geschoben sie hätten
dich noch früh genug die Treppe
Stufe für Stufe hinauf
10 gestossen sie hätten
dich noch früh genug
auf der obersten Stufe der Treppe
festgehalten sie hätten
dich noch früh genug
15 nicht mehr zurück
nie mehr hinunter gelassen
sie hätten

Datiert: 1983       )

ROM I

Bis hoch hinauf das
Geröll die Schwärme
der Tauben die Hündin
alt mit hängenden Zitzen
05 das brünstige
Zucken der Zunge Geruch
noch immer
scharf zwischen den Steinen.

Datiert: 1983       )

Rom II

Der Schatten
plötzlich auf dem entleerten
Platz. Die Asche
unter dem Rost die
05 eingetrockneten Tropfen
Erinnerung an die
irdische an die
himmlische Liebe ein Schwirren
bald näher bald ferner. Das Rad
10 dreht sich im Regen.

Datiert: 1983       )

ROM III / Thermen des Caracalla

Der Staub der
Wind die
Wirbel im Tor der
riesigen roten
05 Mauer
und drinnen die Becken
vertrocknet Gelächter 
Gejauchz in den Bögen verloren
der Kot
10 der Vögel und die Umarmung
später 
verspätet im Wagen.

Datiert: 1983       )

ROM IV

Und ein Gedanke
lange
schwebend und
unergossen ein Schatten
05 unentschlossen dahin
fahrend über die Gärten die Dächer
schaukelnd und dann die
Böe jäh die
Regenentschliessung.

Datiert: 1983       )

ROM V

Der Sturmwind vom Palatin
herüber und dann
der Regen man braucht keinen Kuchen
mehr bei Giolitti zu kaufen nur einfach
05 hinunterspringen vom Dach und
über den Böen leise
und weich hinweg
über die Kuppeln weich
und leise hinweg
10 über die Plätze und wenn
die Motociclette dort unten
vor der Maddalena noch
so laut hupen und wenn
die Stimme dort unten
15 am Pantheon noch so
schrill kreischt
o Taumel
Glück der Entrückung.

Datiert: 1983       )

ROM VI / Thermen des Caracalla 2

Und dann das Becken
ausgelaufen das warme
das kalte Wasser nicht einmal ein toter
Fisch der Wärter im dunklen
05 Anzug und niemals im warmen
niemals im kalten
Wasser gebadet doch gegen
den Regen eine zusammen-
gefaltete Zeitung.

Datiert: 1983       )

ROM VII

Düfte von nie
gerochenen Blumen die Lüfte
dicht zu Gewölk und
dichter geronnen die Knochen
05 aus den Binden heraus
und davon
geschwemmt von der Schlammflut.

Datiert: 1983       )

ROM VIII / Katakomben

Unter den Mauern
sagst du unter den Wurzeln
sollten wir suchen den Einstieg
in das Gewölbe:
05 Die Nischen dort unten die Wände
tropfend das sei
eher nach unserem Herzen.

Das Heulen aber der Hupen
der Widerhall von den Mauern
10 vom Gewölbe dort unten und aus den
Nischen und von den Wänden
tropfend unter den Wurzeln
was sagst du?

Datiert: 1983       )

ROM IX / Via Appia

Das Grab
begraben unter
Gestrüpp der Wagen
ächzt die Brüste
05 versickern
glitschige Stufen
gestillt die
Schattengewächse.

Datiert: 1983       )

ESCORIAL I

In die Säle hinein
in die Zimmer durch alle
Gänge Wider-
hall deiner Schritte innen
05 zuinnerst die Zelle
der Rost und die Kohlen 
darunter Geruch von verbranntem
Fleisch
und dann zurück durch die Säle
10 die Zimmer durch alle 
Gänge Wider-
hall deiner Schritte hinaus 
ins Freie die Weite 
winzige Falter und weiss 
15 über den Büschen.

Datiert: 1983       )

ESCORIAL II

Oder unten durch die
Keller und durch die Grüfte die feuchten
Kutten in Fetzen
zerfallend in Fäden Partikel
05 farblos und muffig
riechend und in den Kapuzen
quiekende Mäuse und vorn
am Ende die Kästen mit schweren
Deckeln versunken
10 im Schutt doch im ängstlichen
Licht die Windung der Treppe und oben
von neuem die Weite
winzige Falter und weiss
über den Büschen.

Datiert: 1983       )

ESCORIAL III

Oder von Turm zu Turm von einem
Giebel zum andern der Schall
der Glocken als käme
der Richter am Himmel und nicht
05 eine einzige Wolke die weissen
Kaninchen und weit
entfernt sich zu fürchten am Fuss
der bebenden Kuppel
mampfend und in den Augen
10 Neugier blinkend sie sind
bestimmt für das Nachtmahl.

Datiert: 1983       )

FRANKFURT AM MAIN I / Der Adler

Von Wien
stieg er auf und über
dem Schwarzwald erschien er
als einheimischer Vogel und doch
05 war es vermutlich im persischen Hochland wo er
ausschlüpfte aus dem
Ei aber das ist
zu lange her über
Frankfurt steht er
10 seit einem halben Jahrtausend
von Zeit zu Zeit immer wieder und manche
behaupten sogar er habe
eine zeitlang zwei Köpfe gehabt ein Fabel-
tier sei er damals gewesen doch seither
15 ist er ein einfacher
Vogel nun schon
lange allein und ohne
Genossen und findet
zwischen den Wolken-
20 kratzern sein altes
Nest St. Bartholomäus nicht mehr schon auf
Goethe hatte er dort
nur noch exotisch
gewirkt wie aus einem fernen
25 Zwinger hergeflogen da fällt 
eine Feder und dort
eine Feder herunter Passanten
lesen sie auf und erinnern
sich sie hätten ihn neulich
30 im Nordosten auf einem verschneiten
Sandplatz im Schnee
sitzen sehen abgemagert und heiss-
hungrig schnäbelnd wie lang 
ists her dass er über den Toren der freien
35 Städte aus goldenen Tellern //
frass und von Castel del Monte die Flotten
der Sarazenen die Segel
mit dem geflügelten Löwen erspähte dass er in der Höhle
am Palatin hauste bequem 
40 und gefürchtet noch heute 
schmerzt ihn der Rauch in den Augen 
womit man ihn austrieb 
doch auch über Frankfurt wird er sich nicht mehr 
halten können schon bald 
45 hat er alle Federn verloren man wischt sie 
jeweils morgens um fünf Uhr 
an der Konstabler- 
wache zusammen er fällt 
wenn er Glück hat am Römer 
50 herunter ein kahles 
ausgemergeltes Aas liest ihn ein Türke 
vom Pflaster auf und wirft ihn zum übrigen 
Müll in den Container.

Nicht der von 1789 in Paris 
der von 1794 in Frankfurt am Main der 
vierzehnte Juli Goethe
war weit fort in Weimar die Frau
05 Rat lebte immer noch beide
hatten keinen Sinn für das was da
vorging als der grämliche
Franz von Toskana als Letzter
die Römische Krone empfing
10 Sakrament und Beschwörung einer
magischen Ordnung voraus-
weisend auf das universale
Reich des ewigen Friedens das es
bis heute nicht gibt und auch der
15 Völkerbund und die Vereinten
Nationen sind erst
Voranzeigen weniger sinnen-
fällig als der lange
Flug des Adlers vom Nil bis zum Main aber dafür
20 schon allgemeiner die Krone
die heilige Lanze waren für Goethe
und für die Frau Rat nur
Antiquitäten das All-
gemeine gab es für sie nur als eine
25 moralische Übereinkunft der Menschen das Reich
war ein Überbleibsel
der mittleren Zeit und die Krönung des Kaisers
ein gemütliches Schauspiel aus der 
Heimatgeschichte was ist es
30 da zu verwundern dass die
Söhne und Enkel den Frankfurter vierzehnten Juli über
dem Pariser vergassen und aus dem // 
Reich einen weiteren
Panzerwagen machten unter den vielen
35 Panzerwägen alle plombiert und einander
bedrängend zerquetschend auf der
schmalen Strasse zur Welt-
macht und zum Reichtum die Doppel-
krone des Oberen und des
40 Unteren Reichs kommt ins
Museum der Horus-
falke in den Zoologischen Garten der wahrhaft
sittliche wahrhaft
vernünftige Mensch versteht die
45 Zeichen nicht und hat sie
der glückliche
auch nicht mehr nötig.

Datiert: 1983       )

GFRÖRNI

Meteme Gfrörni am Zeche
chantsch lang go
täubele chantsch
lang go nauggle:
05 hättisch ned gaugglet
verosse hättisch de Fuess
ned use lo plampe de Schmotzli
dä Cheusi dä cha
der ned hälfe de chantsch
10 no so mängisch zuenem
hendere tühssele chantsch
no so lislig ond liëb
goge chlöpfele a sini Töre
ond briegge dä cha
15 der ned hälfe.

Datiert: 1983       )

ET IN ARCADIA EGO

To ned müede to
ned sage ech
chome ech chome ghörschs Müsli
ned scho chröschpele ghörschs
05 ned scho tühssele denne em Hüsli denne
onder de Teli? Meintsch öppe
meintsch ech täg tampe nei
ech tone nome ned hösle du mosch
ned müede du mosch
10 ned sage du mosch
nor nochli beite gaume
mosch nor no es Wili
ech chome.

Datiert: 1983       )

S LIBLI

Ond deh sig de Tod
usecho seidmer ond heig e de Hand e
glänzegi Sägesse gha ond är heig
nome es wiesses
05 Libli agha öber sim Greppi das sig
grad gäbig gsi seidmer mer heig  
dor sis Libli dore em Tod 
sini Reppi seidmer
ganz reng chönne zelle.

Datiert: 1983       )

MOSCH NED TÄNKE

Mosch ned tänke dass der
öpper täg zleid
wärche wenn jetz of einisch
d Wolke de Nomittag schwarz
05 machid das esch
nome wels us-
schnuft ond i-
schnuft ond ned
glichlig cha blibe ond d Chöpf
10 vo de Nägle send scho
glänzig vom Räge.

Datiert: 1983       )

DE SCHOPPE

Gömmer e Schoppe s Schtroh
chröschpelet onder de Füesse
das lang
Plange esch äntlech
05 verbi mer gschpört vo dehr
de Schnuf ond vo mehr 
ganz warm of einisch
chröschpelets nömme ond s esch
weich dehende s esch
10 heiss ond ghörsch
wes tod ruhsche?

Datiert: 1983       )

BLÖSELE BLOSE

Blösele ond 
s gohd uf ond werd
grösser ond grösser
blose deh werds
05 grusig deh
werds osennig gross ond
tröckt eim
eifach a d Wand äne ond
ufe a Teli
10 ufe nömme
blose ond nömme
blösele s werd
chliner ond werd
emmer chliner ond werd
15 ganz monzig zletscht ond
verschlüft sech e Bode
ine ond esch of einisch
eifach niëne meh ome.

Datiert: 1983       )

VORSI

Vorsi luege ond nië 
hendere luege
ond deh of einisch
nömme witer wösse ond nömme
05 vorsi chönne ond schtoh
blibe of einisch als wärmer schontsch vore
abe-
gheit enes
Tobel.

Datiert: 1983       )

LOSE OND LUEGE

Abe lose e d Chammere
abe wes gorglet ond abe
luege e d Chammere
abe dä Naue
05 det hende: wer ächt
hedne donde lo schtoh
ond of was
toder warte?

Datiert: 1983       )

CHOSLE

Went choslisch
laufts öbere Tesch ond
tropfet vom Tesch
abe a Bode
05 abe ond lauft dors ganz
Zemmer dore ond erscht
dehende em Egge laufts
zäme zomene Tömpel
went choslisch.

Datiert: 1983       )

DE SCHTROMPF

A dem lange
Schtrompf lesme ond är
werd emmer länger
ond länger ond nömme
05 ufhöre met Lesme de Schtrompf
lampet öber d Schtäge
abe öber alli
Trett vo de Schtäge
lampet er abe ond d Lüt
10 wonderid sech
zonderscht: wohär
chond ächt dä Schtrompf ond wer
tod dra lesme ond wer
hed gnueg langi Bei zom dä Schtrompf
15 alegge am Ändi?

Datiert: 1983       )

WÖTSCHE VERWÖTSCHE

Ond wot scho gmeint hesch
du heigischs do hends ders
nome vo witem
gschpienzlet ond s esch scho
05 weder devo gwötscht.

Öbs ächt no einisch
zrogg chond ond öbs ders deh nömme
nome tönd schpienzle ond öbs deh
nömme devo wötscht ond öbs deh  
10 äntlech verwötschisch?

Datiert: 1983       )

ÖPPER OND ÖPPIS

Zerscht ond
zvorderscht ond zoberscht
ond zmetzt ond
au no dezwösche
05 öpper ond öppis.

Aber nochethär zletscht ond
zhenderscht ond zonderscht
niëmer ond nümeh scho glie
niëmeh scho glie
10 öpper ond öppis.

Datiert: 1983       )

LIESLOPF

Was tosch em Eschtrich
omeschneugge e dene
gwagglige Chäschte wo d Töre
wemmer si ufmacht tönd giepsche?
05 Fendsch nümeh ond went deh
am Ändi emene Chaschte
doch no öppis wördsch fende de wärs
dis Titti weisch no
de Lieslopf oni
10 Hoor ond met läre
Auge ond went au
d Töre grad weder tätisch  
zuemache s wörd der vo deh a wo d schtohsch
tödele ond wo d gohsch
15 tödele wörds der vo deh a.

Datiert: 1983       )

D ZERLINA ZOM MASETTO

Muesch doch ned Angscht ha
ech be be dehr
ha dech heschs nonig gseh
gärn emmer meh.
05 Ech ha au öppis do
das tued der guet:
Ghörsch ned wes chlöpfelet
s well dine Chommer ha
das tued der schüli guet
10 gschpörsch ned wes böpperlet
läng emol a.

Datiert: 1983       )

DE CHRÄBS

Wenner use
chrableti usem Tömpel
use ond ufe
a Rand chäm ond wit osse em Meer ofem blaue
05 Wasser es blaus
Sägel gsäch onderem blaue
Hemel
we chönt deh de Chräbs no
zrogg ond abe chrable
10 vom Rand e Tömpel abe ond Chräbs
blibe ond hocke
blibe em Tonkle
we chönter?

Datiert: 1983       )

Pfengschte

Die selbrige Chöpf 
ond die goldige Chöpf
ond die gläsige Chäschte
use träge us de
05 Hofchele use ond ufe
träge ofs Wäsmäli ufe
ond abe träge vom Wäsmäli abe
ond ome träge e d Hofchele ome
ond nome guet luege dezue
10 ond jo ned lo gheie:

Use us de selbrige Chöpf
ond use us de goldige Chöpf
ond use us de gläsige Chäschte
d Chnöchäli vom heilige Moretz
15 ond d Chnöchäli vom heilige Leodegar
jo ned use lo gheie.

Ond use ond ufe ond abe ond ome
ond nome guet luege dezue
ond jo ned lo gheie.

Datiert: 1983       )

SCHWÖRE

Schwöre to nor
schwöre bem heilige
Leodegar ond bem
heilige Felix ond bem
05 heilige Joscht ond be de
Bluetstropfe vo
Willisau ond bem
Heiligchrüz jo ond au no
bem Heiligchrüz jo
10 schwöre to nor emmer
schwöre bem heilige
Hus em Hergiswald obe ond bem
heilige Franz dobe
ofem Balke öberem
15 heilige Hus em
Hergiswald obe jo
schwöre to nor emmer
schwöre ond au no be allne
arme Seele dobe em
20 Hergiswald be de arme
Seele wo alli
tönd brönne wo alli
dobe em Hergiswald em
Fägfür tönd brönne to
25 nor schwöre nor emmer
schwöre ond au no wenn alles
abverheit ond wenn alles
lätz esch be de Mondschtei jo // 
au no be de Mondschtei 
30 denne em Beregger-
wald jo zmetzt- 
enne em Bereggerwald jo
to schwöre to nor
z gueter letscht au no
35 schwöre of d Mondschtei
zmetzt of de Liëchtig zmetzt
em Bereggerwald wo no niemer
gfonde hed ond wo no niemer
gseh hed jo to nor
40 schwöre to nor emmer to
nor emmer schwöre.

Datiert: 1983       )

FÜR

Aber das schmöckt scho
vo ganz wit hende
füre usem
Götschwald ond usem
05 Littauerwald hende före
schmöckts emmer feschter
noch Rauch ond of einisch
of einisch gsehschs Für ond
gsehsch d Lüt oms Für ome
10 we si Escht tönd
ine rüere es Für ond emmer
meh Escht tönd si ine
rüere wit ome heds scho
kei Schnee meh dië töre
15 Escht we si tönd brönne wië 
si tönd brönne s werd Zit
s werd höchschti
Zit jetz dass gohsch schontsch
gsehndsdi schontsch
20 gsehndsdi zletscht no
ond chömid.
 

Datiert: 1983       )

PFADFENDER

Ond deh ane Baum
aponde met tecke
Schnüere aponde ganz fescht
ond d Handglänk gschwolle
05 ond d Fuessglänk
ganz teck
gschwoIIe ond rot.

Ond deh met
Farechrut gschlage
10 ond met Brönnessle gschlage
ond met Buechezweig gschlage
ond gschlage ond gschlage.

Ond deh wenns
itonkIet eifach
15 fortgange ond eifach
schtoh glo a Baum
aponde ond
es Für onder de Füesse.

Datiert: 1983       )

FREDETAL

Ond d Berewegge ond
d Läbchüeche do chantsch
lang go gigele öber die
marmorige Ängel ond we si
05 tönd früre em Schnee
fascht blott ond norne
meteme Hömmli
a ond d Berewegge ond
d Läbchüeche do chantsch
10 tampe do chantsch
pressiere die
marmorige Ängel die
chömid die
tühssälid henderder noche
15 ond lönd ned logg ond
d Berewegge ond
d Läbchüeche jo
mer ghört di scho charchle.

Datiert: 1983       )

OND DEH

Ond deh ond deh mos mer nömme
go Zobig näh ond mos nömme bem Doney
Chäschüeche ond Mohrechöpf ässe
mer cha deh
05 eifach vom Tach
abegompe ond s macht
nüd ond s
passiërt eim nüd
wenn de
10 Wend chond ond wenn de Räge
vom Palatin öbere
chond öbere Corso mer cha deh
eifach abegompe vom Tach
ond de Wend
15 fod eim uf ond treid eim ond
treid eim lislig
ond höch öber alles
ewägg. Deh chönd dië 
Purschte det onde off de
20 Piazza Navona no so
haleegere deh
cha dië Frau det ofem Campo
no so lut geitsche
ond deh

Datiert: 1983       )

WAS WOTSCH?

Was wotsch
ometschomple em Räge ond hesch
nass a de Füesse ond hesch
chalt a de Wade
05 was wotsch
ometschomple zmetzt e de Nacht
ond niëmer meh esch
ome nor Auto
schprötzid eim a ond drondert
10 onderem Tschope
onderem Hömmli de
Worm wo
bohret ond biesst ond dorom
mosch emmer no witer
15 tschomple aber det äne
lueg onder de Bösche
tüends scho d Zweig
abschnide lueg
si tüendsi scho schele
20 was wotsch?

Datiert: 1983       )

EINISCH

Einisch weder
einisch metenand ned ufe
Schembrig ond ned
of d Schratteflue ufe dië 
05 schpetzige Schtei dië 
Blotere a de Füesse nei norne
of d Chelenegg metenand
weder einisch ufe dië wiesse
Blueme zom Blose ond d Hommle
10 brommligi Elefante
d Heuschtöffel grüeni
Giraffe ond lang
lang schlofe mer weis
ned was för Zit esch ond öppe
15 einisch en Flüger vom Meer
chonder är esch
grad no vorig höch obe
öbere gfloge
öber
20 d Principessa Mafalda.

Datiert: 1983       )

DE CHÄSWÄJE

Dä Chäswäje
wo doch e mehr esch
wo doch ned e dehr esch
ech gebe der öppis devo
05 mer tüendne
metenand ässe
ond nochethär laufed-
mer metenand ine
e Ofe
10 ond setzid ofs Bläch
ond hend no
de Gu vom
Chäswäje em Mul
d Hetz vom
15 Chäswäje onderem Födli ond deh
gohts nömme lang ond mer wärdid
bachet: zo was
förme Wäje ond wer
hed Gloscht zom üs ässe?

Datiert: 1983       )

SCHTROOSS

Wemmer dië lang
Schtrooss hedmer de Hemel
wemmer dië lang ond
breit Schtrooss hedmer de Hemel als Teckel
05 wemmer dië lang ond breit ond
schnuergrad Schtrooss hedmer de Hemel
als isige Teckel wemmer
dië lang ond breit ond schnuergrad ond lähr
Schtrooss hedmer de Hemel 
10 als isige schwäre
Teckel öberem Chopf ond
wemmer dië lang
wemmer dië breit
wemmer dië schnuergrad
15 wemmer dië lähr ond
chond a kes Ändi.

Datiert: 1983       )

D GOTTERE

D Gottere zuegmacht ond
abegloh d Rüs
abe ond d Aare ond de
Rhin abegloh emmer
05 witer abe bes
abe zom Meer ond deh
use es Meer gloh ond emmer
ond emmer witer ond emmer
witer metere use bes es
10 wit omenand kei
Ensle meh hed ond keis Scheff
ond au kei Vogel ond deh
d Gottere ufgmacht:

De Schwan wener usechond us de
15 Gottere lueg ond wener
de Hals schtreckt ond ruig als wärs
nor vo Wäggis of Vetznau eifach
devo tued schwemme ond wit
wit osse verschwende.

Datiert: 1983       )

DE CHÖBEL

Liëber ned ome
gosle em Chöbel ond Wasser
dri tue ond emmer
meh Wasser bes de
05 Chöbel ganz voll esch ond
glatt ond
glänzig vo eim
Rand zom
andere Rand ond deh meteme wiesse
10 Papierscheffli öbere fahre vo eim
Rand zom andere
Rand ond nüd
gseh ond nüd
wösse vo dene
15 grusige Wörm wo
ome tönd chrüche
donde
am Bode vom Chöbel.

Datiert: 1983       )

ÄR HEIG – För e Fabius von Gugel

Är heig
nümeh tänkt ond
nümeh welle ond
alles lo si ond
05 alles vergässe
är sig onder de Brogg
gsässe ond heig
dië ganz Nacht s Wasser
agluegt wes a ehm verbi
10 gloffe sig ond
gruscht heig ond
gschtrudlet är heig
nümeh tänkt ond
nümeh welle ond
15 alles lo si ond
alles vergässe ond metem
Wasser heigers
abe lo laufe de Floss
abe ond d Schtrohsse-
20 lampe dobe ofem
Trottoir am Gländer wenn si
gwagglet heigid em Wend deh
heiger gmeint das sigid
Tschogger wo ehn
25 chämid cho hole
aber das wär ehm
ganz glich gsi är heig
nümeh tänkt ond
nümeh welle ond
30 alles lo si ond
alles vergässe ond nome
no d Füess lo
abeplampe es Wasser.

Datiert: 1983       )

SCHLÖTTLI OND GSCHTÄLTLI

Was förnes Schlöttli
ond onderem Schlöttli
was förnes Gschtältli
hesch amel agha?

05 Meteme Schlöttli
ond meteme Gschtältli
onderem Schlöttli
sigisch usegange e
Husgang use
10 ond sigisch abe
gange d Schtäge
abe ond mängisch
sigisch au oni
Schlöttli ond oni
15 Gschtältli abe
gange ond e Hof
usegange ond dosse
em Hof heigisch em Gösel-
chöbel omegöslet dië ganz
20 Nacht ond niëmer
heig trout öppis z säge
ganz blott
heigisch em Gösel-
chöbel voll Gösel
25 omegöslet jo säg

was förnes Schlöttli
ond onderem Schlöttli
was förnes Gschtältli
hesch amel agha
30 säg emol säg?

Datiert: 1983       )

TÄNKT MER

Zmetzt enne
tänkt mer
wemmer emmer
witer ond witer
05 chond am Ändi de See
zmetzt enne em Wald
ond ke Wäg meh
ond nome Brögel ond nome
Escht aber jo ned
10 schtörchle jetzt chond
nämlech zmetzt enne schtell
ond rond we de Vollmond
ond wen jetzt nome tänkt mer ond emmer
witer ond witer
15 ine e Wald ond ke
Wäg meh ond nome
Brögel ond nome Escht
ond wen jetzt nome tänkt mer
jo ned schtörchle zmetzt enne
20 chond jetzt nämlech am Ändi
de See schtell ond
rond we de Vollmond wen jetz 
nome tänkt mer
nümeh wörd andersch ond alles 
25 emmer ond ewig tänkt mer
wörd grad eso blibe we s esch.

Datiert: 1983       )

ESCORIAL

Oder went donde dor t Chäller
tühssälisch ond öppe e Chatz
wo schloft ewägg schöpsisch
oder au en es Näscht voll
05 Müs ine trampisch chontsch
zletscht zo de Glas-
chäschte met ustrochnete
Libere dren ond si hend keini
Hor meh ond d Chleider send nor no
10 Lömpe oni
Farbe we Schabe s esch grusig
tonke! donde du ghörsch nor
wes chröschpelet onder de Schuene.

Ond deh ganz vore of einisch e chli
15 Liecht vo obe e ängi
Schtäge ond dobe
e Töre: wië gohts do of einisch
wit wit use ond vel
monzegi Sommer-
20 vögäli us de
Bösche vöre e
Wolke e wiessi.

Datiert: 1983       )

NEU YORK I

Gönder öbere
gönder ond hender
ke Angscht det äne
heigs nümeh heigs nüd
05 ond nümeh vo dem was es bes jetz
emmer gha hed es
Hus ond es Liëcht
ond mängisch
e Wolke?

10 Ond de chömeder a ond s esch
alles glichlig we do do
esch det ond det esch
do. Nor d Loft do d Loft
det esch liëchter ond
15 d Hüser send
höcher ond d Lüt
gschneller ond merkid
emmer no öppis si send
alli trurig
20 wellsi scho do send: wohee
chöntetsi go?

Datiert: 1983       )

NEU YORK II

Hender dië tonkle
Höf gseh dië schwarze
Seck ganz donde ond dröbert
dië glänzige Törm
05 eine am andere? Si nämid
si hebedech uf si
hebedech ufe kei
Angscht abezgheie ganz obe
gändsech eine
10 em andere witer ond scho
sender em Hemel.

Datiert: 1983       )

NEU YORK III / De Alexius am Empire State

Nome ned vöre
tröcke ond schön
zhenderisch e de Schlange
blibe du chontsch
05 no früe gnueg vöre eso ond of einisch
schtosch z vorderscht ond muesch
ufe go ufe deh muesch
dië ganz Schtäge deh muesch
Trett für Trett eine
10 ufe nochem andere
schtige ond gar
niëmer esch deh no vorder du chantsch
nömme henderzi chantsch 
nömme absi du besch
15 elei dobe du besch
ganz elei zoberscht si henti
du chantsch nömme zrogg si
nänti si henti.

Datiert: 1983       )

NEU YORK IV

Ond deh hani Angscht öbercho ond ha
tänkt es esch alles
glichlig we emmer es esch
alles glichlig we emmer ond esch
05 alles ganz andrisch es esch
alles do wos emmer gsi esch d Wolke-
chratzer on d Subway
ond au de Gschmack jo
vor allem dä komisch
10 Gschmack us allne 
Schächte ufe us allne
Hüsere use ond wemmer
denne esch e de Hüsere vo de
Schtross dor d Fenschter
15 ine dä Gschmack dä
komisch Gschmack we vo frömde vo
scho lang vertorete frömde
Blueme dä komisch dä süesslech 
Gschmack dä esch au emmer no glichlig ond är
20 esch anderisch alles
esch ganz anderisch dië 
gwagglige farbige Hüsli zwösche de
Wolkechratzere enne ond dië verrockt
toskanisch Villa of dem
25 alte Wolkechrätzerli obe em Village
alles alles esch glichlig ond de // 
Gschmack dä komisch dä süesslech
Gschmack us de Schächte use ond us de
Hüsere use ond dor alli
30 Fenschter ine e d Hüser
esch glichlig wener
emmer gsi esch ond esch 
ganz andrisch alles 
esch ganz andrisch ond ech
35 ha Angscht öbercho
öb ech öppe nömme
de glichlig sig ond öb ech öppe of einisch
e andere sig e
grusigi Angscht.

Datiert: 1983       )

AMSCHTERDAM

O dië choge
Grachte vo
Amschterdam wië 
grau ond trurig dië 
05 riesige
Chele ond alli
zue ond dromome e allne
Fenschtere blotti
Liber oder au nome
10 Schtöck vonene Schwänz
ond Votze ond Bröscht ond
Chöpf met
offene Mülere suber
e Zelofan ipackt.

15 O dië choge
Grachte vo
Amschterdam wië 
grau ond
trurig muesch nome dië ganz
20 Nacht drof fahre a kener
Ländi usschtige de töndsdi
velecht ned verschtöckle ond ned
usschtelle ond ned
eis Teil oms ander voder töndsi
25 de ned verchaufe
velecht.

Vor ein paar Jahren wohnte ich im Schweizer Institut in Rom und trat in einem Brief an ein anderes Mitglied des Instituts, einen Basler Juristen, dafür ein, dass als offzielle Haussprache ausser dem Französischen und dem Italienischen, da ja die Mehrheit der Stipendiaten aus der deutschen Schweiz komme, auch das Deutsche verwendet werde. Ich erhielt ein ausführliches Antwortschreiben, woraus ich einige Abschnitte hier zitieren möchte:

"Wenn wir die Forderung aufstellen, in der Schweiz und in schweizerischen Institutionen solle jedermann seine eigene Sprache verwenden, gilt es … festzuhalten, dass dies für 'Deutschschweizer' nur je ihr Dialekt sein kann. So kommt für mich, der ich in Basel-Stadt aufgewachsen bin, als 'deutschschweizerische' Sprache allein das 'Baseldytsch' in Frage, wie für Sie der in Ihrem Kanton gesprochene Dialekt, also nicht, was Sie irrtümlicherweise anzunehmen scheinen, das Hochdeutsche. Die Dialekte der 'deutschen' Schweiz sind nämlich nicht nur wesentlich älter als das Hochdeutsche, sondern auch eigenständig und jedenfalls für die kulturelle 'Individuation' des 'Deutschschweizers' von ungleich grösserer Bedeutung denn die importierte Schriftsprache, welche für uns eine Fremdsprache ist und immer bleiben wird.

Für Welschschweizer, Tessiner und Rätoromanen nun wäre es, auch wenn sie sich noch so sehr darum bemühten, kaum möglich, unsere vielen und zum Teil doch sehr unterschiedlichen 'deutschschweizer' Sprachen allesamt zu erlernen und zu verstehen. Wenn wir somit mit ihnen leider nicht so sprechen können, wie jedem von uns 'der Schnabel gewachsen isrt', dann bleibt uns nurmehr übrig, uns in der Sprache an sie zu wenden, die von ihnen und uns gemeinsam verstanden wird. Und dabei kommt nur das von uns 'Deutschschweizern' einer gewissen Bildungsschicht in der Regel ebenfalls mehr oder weniger beherrschte Französische oder Italienische in Betracht. Denn: Das Hochdeutsche, // welches von den betreffenden Miteidgenossen heute zumeist ebenfalls verstanden würde, stellt ja für uns 'Deutschschweizer' im mündlichen Verkehr eine Fremdsprache dar und einer solchen sollte doch wohl, der Eigenständigkeit und der 'Selbstrealisierung' unseres Landes zuliebe, im Gespräch unter Schweizern eine der schweizerischen Sprachen (und dies sind, im Gegensatz zum Deutschen, sowohl das Französische als auch das Italienische) vorgezogen werden."

Das ist nur eine von den in den letzten Jahrzehnten nicht eben seltenen Äusserungen dessen, was ich Helvetismus nennen möchte, aber zweifellos die extremste, die mir jemals begegnete. Unter Helvetismus verstehe ich ein kulturpolitisches Programm, das die deutsche Schweiz vom übrigen deutschen Sprachgebiet abtrennen und zu einer besonderen sprachlich-kulturellen Einheit machen will. Er hat die Schweizer meiner Generation und noch mehr die der jüngeren Generationen nachhaltig bestimmt. Seit meiner Schulzeit musste ich mich damit auseinandersetzen. Nicht zuletzt der Brief, aus dem ich zitiert habe, regte mich dazu an, über den Gegenstand neu nachzudenken. Die folgenden Bemerkungen sind ein vorläufiges Ergebnis dieses Nachdenkens.

Als Muttersprache eines Menschen gilt gemeinhin, nicht nur im deutschen Sprachbereich, primär die Hochsprache, in der er sich zuerst artikulieren gelernt hat, in der er, zumindest, seine Schulbildung empfing. Auch in der Schweiz war das spätestens seit der Aufklärung und noch bis vor kurzem nie ernstlich bestritten worden. Die Redensart von der "deutschen Muttersprache" fand sich noch in meiner Schulzeit in den Lesebüchern. Der Dialekt aber steht, so etwa die lange herrschende Meinung, hinter der Hochsprache als deren gleichsam lokale und intime Variante und ältere Vorform. // Dialekt und Hochsprache wurden bis in die neueste Zeit nicht als Gegensatz empfunden, sondern als zwei verschiedene Stufen, Erscheinungsweisen derselben Muttersprache.

Ein historischer und geographischer Überblick lässt zudem erkennen, dass die Grenze zwischen Hochsprache und Dialekt fliesst. Ein Dialekt kann zur Hochsprache aufsteigen, eine Hochsprache zum Dialekt absinken. Derart etwa sind aus dem Lateinischen, in einem Prozess des Ab- und Wiederaufstiegs, die romanischen Sprachen entstanden. Und der zitierte Brief legt die Vermutung nahe, dass für seinen Verfasser wenigstens die alemannischen Dialekte in der Schweiz schon hochsprachliche Eigenschaften anzunehmen beginnen. Wenn man aber heute, nicht nur in der Schweiz, darüber klagt, dass die deutsche Hochsprache den Dialekt verdränge und sich an seine Stelle gesetzt habe, so stimmt das nur in einem sehr eingeschränkten Sinn. Denn der alemannische Dialekt war bisher zu keiner Zeit Hoch- oder Schriftsprache. Diese Funktion hatte die längste Zeit, auch im deutschen Sprachraum, das Latein. Der Dialekt wurde nie geschrieben und weder in der Schule noch in der Kirche noch vor Gericht verwendet. Neben das Latein tritt dann allmählich eine regionale, in der Schweiz und Süddeutschland also eine oberdeutsche Gemeinsprache, die zwar überall mundartliche Elemente enthält, aber niemals identisch ist mit dem gesprochenen Dialekt. Sie befindet sich gleichsam auf halben Weg zwischen diesem und der neuhochdeutschen Schriftsprache. Wer sich für den Verlauf dieser Entwicklung interessiert, sehe sich etwa die Giebelbilder auf der Luzerner Holzbrücke an: Die Sprüche, welche die dargestellten Szenen erklären, alle wohl zwischen dem frühen 17. und dem späten 18. Jahrhundert entstanden, mischen auf eine für uns zuweilen drollige Weise dialektale und hochdeutsche Sprachelemente. Man will offensichtlich eine Sprache schreiben, die // zwar volkstümlich ist, aber zugleich in einem weiteren Umkreis verstanden werden kannn. Der Übergang zwischen Dialekt und Hochsprache ist gleitend, diese mischt sich fortwährend mit jenem. Das Gleiche können wir, ähnlich ungezwungen und naiv, heute noch in der Umgangssprache in Bayern oder Schwaben, auf dem Land vor allem, beobachten - während in der Schweiz der Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zwar objektiv vielleicht nicht grösser geworden ist, aber subjektiv immer mehr als Gegensatz empfunden wird.

Dabei kann das Verhältnis zwischen Hochsprache und Dialekt naturgemäss nur ein hierarchisches sein: Diie Hochsprache ist zwar, darin haben ihre Kritiker durchaus recht, die jüngere und künstlichere, auch rationalere, aber oder gerade deshalb die verbindliche, normsetzende Form einer Sprache. Der Dialekt ist sozusagen ihre Naturform, er ist die Sprache des täglichen Gebrauchs für den privaten Bereich und wird normalerweise nur in einem engen territorialen Umkreis verstanden. Solange der Dialekt echter Dialekt ist, wechselt der Sprecher, kaum dass er seine engere Heimat verlässt, reflexartig über zur Hochsprache, die ihm als die zwar unpersönlichere, aber dafür allgemeiner verständliche Form seiner Muttersprache geläufig ist.

Und was hier, bildlich gesprochen, von der Horzontalen gesagt ist, gilt ähnlich von der Vertikalen. Wenn der Dialektsprecher in eine Situation kommt, wo er sich intellektuell (nicht emotional) differenzierter ausdrücken muss, wo ein höherer Grad der Abstraktion gefordert ist, wechselt er gleichfalls automatisch zur Hochhsprache über als zu jener Form der Muttersprache, die für den Transport wissenschaftlicher Inhalte und für die genaue // begriffliche Unterscheidung geschaffen und geeignet ist.

In der Schweiz nun funktionieren diese Reflexe nicht mehr. In der Mehrzahl der Fälle, in denen der Normaleuropäer, auch wenn er einen Dialekt beherrscht und sich seiner in bestimmten Situationen bedient, zur Hochsprache übergeht, hält der Deutschschweizer am Dialekt fest. Zum Teil ist das der Überrest eines älteren Verhaltens, aus der Zeit, in der sich die Hochsprache noch nicht durchgesetzt hatte und der Gebrauch des Dialekts noch verbreiteter und selbstverständlicher war als heute. Aber für die Erklärung des Phänomens wichtiger sind andere Momente. Und mir scheint, dass diese immer mehr in den Vordergrund treten.

Das Hochdeutsche gehört in der Schweiz nicht mehr zu den Merkmalen der Identität, weder der nationalen noch der lokalen und schon gar nicht der individuellen. Ein Deutschschweizer, wenn ma ihn fragt, was er sei, wird sofort und ohne zu überlegen antworten: Schweizer. Wenn man dann weiter in ihn dringt, wird er das spezifizieren mit Zürcher, Berner, Basler o.ä., aber kaum je mit Deutschschweizer. Und selbst wenn er das einmal täte, seine Sprachzugehörigkeit der ausdrücklichen Erwähnung wert fände, dächte er dabei normalerweise an seinen Heimatdialekt und nur im Ausnahmefall und nebenher an das Hochdeutsche. Die in der Schweiz gesprochenen alemannischen Dialekte liegen offenbar gerade auf der Schwelle, jenseits derer sie notwendig zur Hochsprache werden. Dafür gibt es viele Anzeichen. So übersetzt etwa neuerdings die Simultananlage im Parlament des zweisprachigen Kantons Bern nur vom Französischen ins Berndeutsche und umgekehrt, der Gebrauch des Hochdeutschen ist gar nicht mehr vorgesehen. Mindestens bis in die dreissiger Jahre dieses Jahrhunderts jedoch war Hochdeutsch // die selbstverständliche Verhandlungssprache in allen deutschschweizer Kantonsparlamenten und Kantonsregierungen, von den Bundesbehörden in Bern gar nicht zu reden. Heute soll es sogar schon Unviersitätslehrer geben, die ihre Vorlesungen und Seminare in Dialekt halten. In der Schule sprechen ohnehin seit Jahrzehnten die Lehrer mit den Schülern überwiegend Dialekt; Hochdeutsch ist Unterrichtssprache nur noch im allerengsten Sinn, dient nur noch zur Übermittlung des Lehrstoffs. Die Klassendiskussionen, nicht nur in den Volks- und Hauptschulen, sondern auch auf den Gymnasien und in den Lehrerbildungsanstalten, werden in Dialekt geführt. Etwas, das vor hundert, vor fünfzig Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Wer kann sich da wundern, dasss die Jugend gegenüber dem Hochdeutschen ein Unbehagen empfindet, sich darin unsicher fühlt und, wo immer es angeht, vermeidet, hochdeutsch zu spreche? Wer also das Hochdeutsche als Fremdsprache bezeichnet, kann sich, zumindest was den mündliche<n> Gebrauch angeht, auf eine Menge Argumente stützen. Aber er muss wissen: es ist zur Fremsprache erst geworden, lange Zeit galt es nicht dafür. Gottfried Keller und Jacob Burckhardt, ihrer Herkunft und Bildung nach so verschieden von einander wie nur möglich, hättten diese Vorstellung, falls sie überhaupt jemals darauf stiessen, zweifellos für absurd gehalten. Heute würden sie vielleicht zögern mit ihrem Urteil: Zu vieles weist darauf hin, dass die deutsche Hochsprache in der Schweiz bald nur noch Schriftsprache, im mündlichen Gebrauch jedoch überall vom Dialekt verdrängt sein wird. Bis zum Zweiten Weltkrieg war ja das Hochdeutsche nicht nur in allen öffentlichen und offiziellen Reden, sondern auch in Ansprachen  bei Vereins- und Familienfeiern, wenn nicht selbstverständlich, so doch die Regel. Heute ist das Umgekehrte der Fall: Wer einen Geburtstagstoast hochdeutsch ausbringt, fällt aus dem Rahmen. //

Beteiligt an dieser Entwicklung sind auch die elektronischen Massenmedien. Wenn diese etwa in der Bundesrepublik, wo Hochdeutsch auch Umgangssprache ist, die sprachliche Planierung in Richtung auf ein farbloses Fernsehdeutsch fördern, bestätigen und stärken sie in der Schweiz den Dialekt in seiner beherrschenden Stellung. Fernsehen und Rundfunk, im Ehrgeiz, den Leuten nach dem Mund zu reden, den Mann und die Frau von der Strasse ohne Stilisierung und Überhöhung so zu zeigen, wie sie sind, können nicht daran interessiert sein, Menschen, die sonst nie in ihrem Leben auf die Idee kämen, hochdeutsch zu sprechen, ausgerechnet vor dem Mikrophon und der Kamera dies tun zu lassen.

Die Schweizer lieben ihre Hochsprache nicht, viel eher scheint es, dass sie sie hassen. Immer wieder hört man Klagen darüber, wie abstrakt, gemütlos, seelenlos sie sei, und das gerade von den Gebildeten, die so tun, als gäbe es weder den Grünen Heinrich noch "Die Kultur der Renaissance in Italien" noch "Andorra", als wären sie in ihrer Schulzeit nie von "Augen, meine lieben Fensterlein" und dem "Römischen Brunnen" bezaubert gewesen. Sie stellen sich genau so an, als ob man ihnen das Hochdeutsche aufgezwungen hätte, und nennen es verächtlich eine "importierte" Sprache. Als ob nicht alle Hochsprachen, das liegt in ihrem Wesen als überregionale Idiome, überall ausser in der Gegend ihrer Entstehung "importiert" wären. Um bei der unsern zu bleiben, das Hochdeutsche ist in der Schweiz nicht mehr und nicht weniger "importiert" als in ganz Westdeutschland und wurde hier zuerst einmal früher und leichter angenommen als in Bayern.

Die Ursachen dieses Hasses müssen also anderswo liegen. Zum Beispiel in der, wenn auch nur indirekten, Erfahrung des Hitlerregimes, welche die Entstehung eines nicht nur politisch begrün-// deten schweizerischen Nationalbewusstseins, eben dessen, was ich Helvetismus nannte, kräftig gefördert hat. Die Schweizer des 19. Jahrhunderts unterschieden genau zwischen dem "Schweizervolk" und den Nationalitäten, aus denen es sich zusammensetzte. Johann Kaspar Bluntschli drückte mit seinem Satz: "Die deutschen Schweizer sind und bleiben Angehörige und Genossen der grossen deutschen Nation" eine seiner Zeit durchaus geläufige Meinung aus. Die Schweizer hielten sich für ein durch seine Institutionen und seine Geschichte geeintes Volk, aber sprachlich und kulturell (, was auch immer unter "Kultur" man damals verstand,) nahmen sie nach wie vor teil am Leben von drei verschiedenen Nationen, deren Angehörige zur Hauptsache ausseralb des Landes wohnten. Bis tief in unser Jahrhundert, in die Zeit der Weltkriege hinein, sah man eben darin eine Mission der Schweiz, dass sie durch das friedliche Zusammenleben von Teilen dreier grosser, allzu oft miteinander zerstrittener Nationen Europas sich diesen als Vorbild anbot. Seither hat sich das Pathos, mit dem die Staaten früher ihre Existenz rechtfertigten, längst ebenso erledigt, wie das gesamte politisch-kulturelle Klima sich verändert hat. Hier sei nur daran erinnert, dass den Schweizern des vergangenen Jahrhunderts, den Gründern des Bundesstaates 1848, den Reformern von 1874, eben nicht daran lag, die Schweiz sprachlich und kulturell von ihrer Umwelt abzugrenzen, sondern im Gegenteil daran, ihre politische Einheit, Eigenart und Unabhängigkeit  bei gleichzeitiger Zugehörigkeit zu verschiedenen Nationalitäten zu behaupten. Die Gründerväter des modernen Bundesstaates verstanden daher unter "Vielsprachigkeit" etwas anderes als deren heutige Lobredner. Für diese handelt es sich dabei lediglich um die banale Feststellung, dass in der Schweiz mehrere Idiome gesprochen werden; jene dagegen waren stolz darauf, dass in der // Schweiz drei grosse Kultursprachen sich unter dem Dach eines Staates begegneten. Wenn die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 die deutsche Sprache als "Nationalsprache" vor dem Französischen und Italienischen nennen, so ist damit nicht dieser oder jener Dialekt, auch nicht die Gesamtheit aller in der Schweiz gesprochenen Dialekte gemeint, sondern eindeutig, das ergibt sich aus dem Kontext der zeitgenössischen Literatur, die deutsche Hochsprache und nur diese. In dieselbe Richtung weisen die staatlichen Schulordnungen seit der Helvetik: Erste Aufgabe der Schule sei es, dem Schüler zur mündlichen und schriftlichen Beherrschung seiner Muttersprache, und das ist für damalige Begriffe natürlich das Hochdeutsche, zu verhelfen.

Seit man nach den beiden Weltkriegen in ganz Mitteleuropa die französische Definition übernommen hat, wonach die Nation einfach der Staat ist, wurde die bis dahin weit verbreitete Ansicht, dass die Schweiz, sprachlich-kulturell verstanden, von Deutschen, Franzosen und Italienern bewohnt sei, durch die These abgelöst, es gebe Schweizer deutscher, französischer und italienischer Sprache. Ein auf den ersten Blick kaum merkbarer, tatsächlich aber gravierender Unterschied. Das Problem der doppelten Loyalität, einerseits gegenüber dem Staat, dem "Vaterland", anderseits gegenüber der Sprachgemeinschaft, die immer, wenigstens unterschwellig, auch als "Nation" empfunden wurde, dieses Problem, das den Schweizern im Ersten Weltkrieg schwer zu schaffen machte, schien auf einmal wie durch ein Wunder erledigt. Die Sprachnation gab es nicht mehr, sie konnte folglich auch keine Loyalität beanspruchen, übrig blieb einzig der Staat. //

Auf ihn bezog sich nunmehr alles. Wie der am Anfang zitierte Basler Rechtskundige meint, "der Eigenständigkeit und 'Selbstrealisierung' unseres Landes zuliebe", sollte fortan die deutsche Hochsprache, die zahllosen, und wahrlich nicht den schlechtesten, Schweizern über zweihundert Jahre lang geistige Heimat gewesen war, wenn nicht völlig abgeschafft, so doch zurückgedrängt, ihrer verbindlichen Bedeutung als einer Sprache der allgemeinen öffentlichen Kommunikation beraubt, ihre Verwendung dem Belieben des Einzelnen anheimgestellt werden. Ein deutscher Sprachraum existiert zwar noch für die Praxis des Kulturbetriebs, nicht mehr aber für das Bewusstsein und für das Gefühl weiter Kreise der schweizerischen Intelligenz. Und damit ist, genaugenommen, der deutschen Hochsprache in der Schweiz überhaupt die Basis entzogen.

Wie aber kam es dazu, dass das Hochdeutsche hier zuerst, wenn auch langsam und zögernd wie in den meisten Gegenden Süddeutschlands, angenommen, nachher aber wieder abgestossen wurde? Die europäischen Nationen, das Wort hier wieder im früher gebräuchlichen Sinn als Bezeichnung für eine primär sprachlich-kulturelle Einheit verstanden, bildeten sich allmählich in einem jahrhundertelangen Einschmelzungsprozess. Je intensiver eine Landschaft an diesem Prozess teilnahm, desto schneller und vollständiger wurde sie eingeschmolzen. Die deutsche Schweiz beteiligte sich zwar zeitweise aktiv an der Bildung der modernen deutschen Sprachnation, aber offenbar nicht lange und intensiv genug, um auch nur den relativ geringen Grad der Einschmelzung vieler Gegenden Süddeutschlands etwa zu erreichen. Zwischen der Spätaufklärung und dem Ersten Weltkrieg, vor allem um die letzte Jahrhundertwende, schien es dann allerdings, die Schweiz sei im Begriff, sich sehr schnell // dem allgemeinen Sprachstand anzugleichen. Das war vielleicht die Folge der für das europäische 19. Jahrhundert bezeichnenden Verbindung von nationalromantischen und rationalistisch-aufklärerischen Motiven. Die durch den vermehrten Gebrauch der Hochsprache gegebene Annäherung an Deutschland befriedigte sowohl jene, welche die Wurzeln der Eidgenossenschaft im mittelalterlichen Reich sahen und behaupteten, sie habe nicht nur dessen älteste und beste Traditionen, sondern auch einige altgermanische dazu für die Nachwelt bewahrt, wie auch die andern, die sich davon eine direktere Teilnahme am kulturellen, wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Fortschritt versprachen. Wie dem auch sei, tatsächlich hatte sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg das Hochdeutsche als Instrument der öffentlichen Kommunikation durchgesetzt und drang allmählich sogar in den privaten Umgang vorwiegend akademischer Gesellschaftskreise ein. Von Ressentiments war damals offenbar wenig zu spüren.

Die Veränderung der Dinge, die sich schliessllich als ein völliger Umsturz erweisen sollte, setzte mit dem Ersten Weltkrieg ein. Wie die Schweizer nach dem Dreissigjährigen Krieg, zusammen mit ganz Europa, immer mehr in den kulturellen Sog Frankreichs, der damaligen kontinentalen Vormacht, geraten und am Ende von ihr militärisch besetzt und politisch beherrscht worden waren, fürchteten sie jetzt, dem expansiven Deutschen Reich gegenüber in eine ähnliche Lage zu kommen. Es bedurfte dann nur noch Hitlers, damit sich die "deutsche Muttersprache" in die "importierte Fremdsprache" verwandelte, die sich von anderen Fremdsprachen allenfalls dadurch unterscheidet, dass man sie zwar noch schreibt, dafür aber auch hasst.//

In der Auseinandersetzung um Hochsprache und Dialekt geht es aber um mehr und Wichtigeres als politische Opportunität oder gar Mode. Es geht um zwei Konzeptionen der Kultur. Ich meine hier nicht den alten und, so scheint es mir wenigstens, müssigen Streit um Kultur und Zivilisation, sondern zwei Auffassungen. wovon man wiederum, grob vereinfachend, die eine als die eher französische, die andere als die eher deutsche bezeichnen könnte. Nur verlief hier die Entwicklung umgekehrt wie beim Begriff der Nation. Während sich hier die westliche Definition, wonach Nation und Staat nur zwei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache sind (das Wort "Nationalstaat" wird so überflüssig, denn jeder Staat ist Nationalstaat), durchgesetzt hat, ist, was den Begriff der Kultur angeht, die im späten 18. Jahrhundert formulierte deutsche und osteuropäische Auffassung, die ich die folkloristische nennen möchte, seit den Weltkriegen immer allgemeiner geworden. Kultur ist ihr zufolge die Gesamtheit der zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort vorhandenen menschlichen Sitten, Einrichtungen und Produktionen, die man, wie Flora und Fauna, nicht zu kritisieren oder gar zu verändern, sondern einfach zur Kenntnis zu nehmen, und, so, wie sie ist, zu akzeptieren hat.

Die Gegenmeinung, die nicht nur die französische Staatskultur spätestens seit dem 17. Jahrhundert und danach bis zum Ersten Weltkrieg, wenn auch mit Schwankungen und regionalen Unterschieden, den ganzen europäischen Kulturkreis bestimmte, versteht, wie das schon die hellenistisch-römische Spätantike getan hatte, Kultur als ein bewusstes Erzeugnis des menschlichen Geistes, als einen human geordneten Kosmos, der nicht zuletzt auf der Überwindung des Partikulären zugunsten einer möglichst allgemeinen Übereinstimmung beruht. Das liefe dann am Ende im // Politischen auf den Universalstaat, im sprachlichen auf die Universalsprache hinaus. Indes die folkloristische Kultur ihre Vollendung im Ministaat à la Monaco und in der Lokalsprache ä la Baseldeutsch fände.

Für unseren historischen Augenblick, dämmerig und vieldeutig, wie er sich darstellt, gilt wohl, dass beide Auffassungen ihre partielle Richtigkeit haben. Es käme darauf an, den Kompromiss für die Praxis zu finden. Der blosse Spontaneismus, der Kult des nur Partikulären, Lokalen und Individuellen bringt eben bestenfalls Folklore hervor, endet in Primitivität und Anarchie. Eine systematisch durchgebildete National- oder gar Universalkultur läuft Gefahr, in abstrakten Regeln zu erstarren, von Generation zu Generation leerer und schematischer zu werden, Form ohne Inhalt, im negativen Sinn klassizistisch.

In der Schweiz ist die Gefahr des Versinkens im Folklorismus zweifellos grösser. Die Mode der Zeit trifft sich hier mit einer alten, dem ganzen deutschen Sprachgebiet eigentümlichen Neigung. Zwar gewann mit der Aufklärung auch hier die Idee einer allgemeinen Humanität, die sich in einer möglichst allgemeinen Sprache äussern müsse, an Boden, setzte sich auch hier  die Nationalsprache, die es ja schon seit mindestens zweihundert Jahren gab, gegen das absterbende Latein einerseits, gegen die verschiedenen Dialekte und Regionalsprachen anderseits als Hoch- und Schriftsprache durch. Darüber darf man freilich nicht vergessen, dass bis tief ins 19. Jahrhundert hinein zumindest jeder Oberdeutsche noch ganz selbstverständlich einen Dialekt sprach. Dem jungen Goethe, wie er nach Leipzig kommt, ist das Reden "nach der Schrift", wie er es nennt, fremd und ungewohnt. //

Damals befand sich die Schweiz noch in Übereinstimmung mit einem grossen Teil des übrigen deutschen Sprachgebiets. Das Nebeneinander von Dialekt und Hochsprache war selbstverständlich und fiel, im Unterschied zu heute, niemandem auf. Die Reisenden des 18. und frühen 19. Jahrhunderts verloren, soweit mir wenigstens bekannt ist, in ihren Briefen und Berichten über die sprachliche Struktur der deutschen Schweiz kein Wort. Wohl eben darum, weil sie sich von derjenigen der angrenzenden Landschaften deutscher Sprache nicht oder nur unerheblich unterschied. Gar von einer Abneigung der Schweizer gegen das Hochdeutsche scheint auch um 1800 niemand etwas bemerkt zu haben.

Was sich in den letzten Jahrzehnten ereignete, ist eine Regression, der Versuch, hinter die Aufklärung zurückzugehen. Und zwar in einem durchaus romantischen Sinn, nämlich zurückzukehren in einen ursrprünglichen, heilen und natürlichen Zustand, den es so niemals gab, in eine von der übrigen Welt abgeschlossene, von allen fremden Einflüssen gereinigte, gleichsam authentische Schweiz. Und diese "Rückkehr" bewerkstelligte man, was die Sprache angeht, zuerst einmal dadurch, dass man einfach stehenblieb, sich nicht mehr von der Stelle rührte. Da sich aber alles andere ringsum weiterbewegte, fiel man unversehens aus den alten Zusammenhängen hinaus: man veränderte sich dadurch, dass man sich nicht veränderte. Man behielt also die alte, früher allgemeine Doppelheit: Dialekt hier - Hochsprache dort, bewusst bei, machte von einem bestimmten Augenblick an die fortschreitende Annäherung der gesprochenen an die geschriebene Sprache nicht mehr mit. Im Gegenteil, man verbannte das Hochdeutsche wieder aus vielen Bereichen des öffentlichen und privaten Gebrauchs, wo es zum Teil schon seit Generationen fest etabliert schien. Das konnte jedoch // nur gelingen, wenn man gegen die Hochsprache ein Ressentiment fasste, es nährte und pflegte. Das Hochdeutsche, dreihundert Jahre lang als Vorbild und Norm gültig, musste zum Gegenstand der Abneigung gemacht werden, wenn man es aus seiner scheinbar unerschütterlichen Stellung vertreiben wollte. So ergab sich eine ganz neue Situation. Denn der frühere Zustand der Trennung von Hochsprache und Dialekt war naiv gewesen, eine natürliche und unvermeidliche Etappe auf dem Weg der sprachlichen Entwicklung: Das Hochdeutsche lag damals gleichsam vorn, als das angestrebte Ziel. Heute jedoch liegt es hinten, als ein historisches Bleigewicht zieht es die Schweiz in eine Vergangenheit zurück, die sie sonst endgültig überwunden zu haben glaubt. So jedenfalls empfinden es viele, vor allem auch junge Schweizer. Nach meiner Beobachtung gibt es gerade auch bei den Intellektuellen nur eine kleine Minderheit, die ein unverkrampftes, ressentimentfreies Verhältnis zum Hochdeutschen hat und sich seiner mündlich ebenso leicht und gern bedient wie schriftlich.

Das Vordringen des Dialekts auf Kosten der Hochsprache hat, wie gesagt, auch Gründe, die mit der Schweiz und ihren besonderen Verhältnissen nichts zu tun haben: die allgemeine, überall in Westeruropa zu beobachtende Abwertung der Hochsprachen als Überreste des bürgerlichen Zeitalters, als Herrschaftsinstrumente des Zentralstaates und seiner Bürokratie. Und dann die Massenmedien, vor allem das Fernsehen, die, wie ich es schon darzustellen versuchte, zur Hochsprache ein zumindest zwiespältiges Verhältnis haben. Nur in der Schweiz kommen zu den allgemeinen Gründen, verstärkend, die besonderen lokalen dazu. In Bayern etwa, in Venetien oder in Neapel gibt es Umstände, die, aller Wahrscheinlichkeit nach, die italienisch bzw. deutsche Hochsprache trotz allem // nicht untergehen lassen: das Interesse der Wirtschaft und der Verwaltung an einer Gemeinsprache, die überall verstanden, gesprochen und geschrieben wird; das besondere ideologische Interesse des nach wie vor mächtigen überregionalen Staates an einer Nationalsprache, die das Bewusstsein der nationalen Einheit und Identität erhält und befördert; der Zustrom von Menschen, die den Lokaldialekt nicht sprechen, als Folge der Niederlassungsfreiheit und der Bevölkerungsmischung innerhalb der einzelnen Staaten seit nunmehr über einem Jahrhundert. Dass von all diesen Umständen, die den Hochsprachen anderswo zu Hilfe kommen, der deutschen Hochsprache in der Schweiz kein einziger von Nutzen ist, weiss jeder, der die schweizerische Situation kennt. 

Sie besteht darin, dass das Hochdeutsche in der Schweiz im Begriff ist, als Landessprache abzusterben. Heute nähern wir uns bereits dem Punkt, wo es nur noch als Schriftsprache dient, im Unterschied zur vor Lage vor zwei- dreihundert Jahren, als es schon Schriftsprache war, auf dem Weg, allmählich zur öffentlichen Verkehrssprache zu werden. War das Hochdeutsche damals in der Offensive, so ist es heute in der Defensie, in einer hoffnungslosen Defensive, wie ich glaube. Eine Sprache, deren Gebrauch nicht nur tunlichst vermieden, sondern von weiten Kreisen, wahrscheinlich sogar der Mehrheit der Bevölkerung gefühlsmässig abgelehnt wird, hat ihre Berechtigung als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel dieser Bevölkerung verloren. Sie repräsentiert, ausser vielleicht ein paar Literaten, die sich im übrigen hüten, sich unumwunden zu ihr zu bekennen, niemanden und nichts mehr. Glaubten die "Progressiven", die Liberalen und Sozialisten des 19. Jahrhunderts noch, sie seien auf das Hochdeutsche angewiesen zur Verbreitung ihrer Ideen, gibt es heute // dafür keine Entsprechung mehr. Nein, gerade in der intellektuellen Führungsschicht bestehen die grössten Reserven gegen das Hochdeutsche, in diesen Kreisen vor allem lehnt man es als "fremd" und "importiert" ab. Und das dürfte am Ende den Ausschlag geben: eine Sprache, die allgemein für eine Fremdsprache gehalten wird, ist eine Fremdsprache. Daran ändert der Umstand, dass sie immer noch eine kümmerliche Existenz als Schriftsprache führt, so scheint mir, nicht das geringste. Jahrhundertealte Gewohnheiten, mögen sie ihre Begründung auch längst verloren haben, sind hartnäckig.

In Wirklichkeit ist das Alemannische in der Schweiz ganz nahe daran, selber zur Hochsprache zu werden. Im Augenblick freilich ist es noch keine. Denn das Hochdeutsche behauptet, ausser als Schriftsprache, noch ein paar andere wenige, jedoch wichtige Positionen als, wenn auch nicht unbestrittene, Unterrichts-, Kirchen-, Paraments-, Gerichts- und Mediensprache. Es scheint mir aber nur eine Frage der Zeit, dass es auch aus diesen Positionen vom Alemannischen ("Schweizerdeutschen") verdrängt wird. Immer voraugesetzt, die Einstellung der Schweizer zu der gesamten Problematik bleibt so, wie sie sich nun schon seit Jahrzehnten darstellt. Dann wird der nächste Schritt nicht mehr lange auf sich warten lassen, man wird den bisherigen Dialekt auch zu schreiben anfangen. Und wenn meine Analyse stimmt, ist das nur zu begrüssen. Die Annahme des Alemannischen als Hoch- und Schriftsprache wird die Schweizer, wenn sie sich mit dem Hochdeutschen schon nicht befreunden können, von ihrer sprachlichen Schizophrenie heilen, ihr Verhältnis zu sich selbst und damit auch zu ihren Nachbarn entspannen. Vor allem die Beziehung zu Deutschland, gekennzeichnet von fünfhundert Jahren des Schwankens, der Ablösung, der // Wiederannäherung und der erneuten Ablösung, ein höchst komplexes Verhältnis der Hassliebe, worin freilich der Hass in den letzten fünfzig Jahren zweifellos bei weitem überwog, wird sich endlich entscheiden. Denn der Hass überwog nicht zuletzt, weil die endgültige, auch sprachliche Trennung offenbar längst als überfällig empfunden wird. Er hat die Funktion, das Eindringen des Hochdeutschen in die gesprochene Sprache, die allmähliche Subsitution des Dialekts durch die deutsche Gemeinsprache zu verhindern. Er meint, den Hassenden nicht bewusst, aber völlig zu Recht: Eine Sprache, die man nicht sprechen will, soll man auch nicht schreiben.

Das Hochdeutsche ist die Nabelschnur, mit der die Schweiz, wie widerwillig auch immer, bis auf den heutigen Tag an Deutschland festgewachsen ist. Die Nabelschnur fault längst, man schneide sie, wenn man sie nicht wiederbeleben kann und will, durch, und man wird sehen, wie frei und unbefangen die Schweizer der Welt und gerade auch Deutschland gegenübertreten werden. Sie werden endlich, jedenfalls darf man es hoffen, mit sich selbst einig sein und so reden, wie sie schreiben, so schreiben, wie sie reden.

Für den Anwalt einer weiteren, sei es auch noch so schattenhaften Präsenz der deutschen Hochsprache in der Schweiz bliebe als Argument allenfalls der Hinweis auf den praktischen Vorteil, den die Anlehnung an eine allen Bevölkerungsklassen verständliche Gross- und Weltsprache zweifellos hat. Dagegen ist zu sagen, dass heute alle kontinentaleuropäischen Sprachen ihre Weltgeltung weithin verloren haben. Die Rolle als Weltverkehrssprache ist, für den historischen Augenblick wenigstens, dem Englischen zugefallen. Diese Sprache zu erlernen, kann keiner // umhin, der sich am kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben der Gegenwart direkt und aktiv beteiligen will. Dass aber, anderseits, eine solche universale Verkehrssprache, so nützlich sie ist, eine nationale Sprache, worin sich das ganze Leben eines Landes so umfassend und authentisch wie möglich artikulieren sollte, nicht ohne weiteres ersetzen kann, versteht sich wohl von selbst.

Es ergäbe sich dann freilich noch die schwierige Entscheidung darüber, wie diese Hoch- und Schriftsprache, welche die zahllosen schweizerischen Lokalidiome überwölben müsste, am Ende aussehen soll. Wird man einen Dialekt, z. B. den Stadtzürcher oder Aargauer, zur Schriftsprache machen? Oder ist es nicht realistischer, und angesichts des Schul- und Kulturföderalismus relativ leicht, in jedem Kanton die führende Mundart, z. B. die der Hauptstadt, für verbindlich zu erklären? Die Sprachvielfalt, die zuerst einmal entstünde, liesse sich, denke ich, für eine Übergangsperiode in Kauf nehmen. Mit der Zeit würde sich die Zahl dieser ja objektiv nur sehr wenig voneinander verschiedenen Schriftsprachen immer mehr verringern, diejenigen der wichtigsten Zentren würden sich allmählich durchsetzen. Schliesslich blieben vielleicht noch Zürichdeutsch, Baseldeutsch und Berndeutsch übrig, die anderen könnten sich als lokale Varianten im mündlichen Gebrauch noch für eine, je nach den besonderen Umständen, kürzere oder längere Frist halten. Sei dem wie immer, der weitere Verlauf, wenn nur einmal die grundsätzliche Entscheidung für eine "schweizerdeutsche" Hoch- und Schriftsprache gefallen ist, lässt sich im einzelnen nicht voraussehen und ist auch nicht so wichtig. //

Wichtig ist nur: Der Anachronismus der schroffen Trennung von geschriebener und gesprochener Sprache ist endlich überwunden; der Schweizer kann und darf, wie alle anderen Europäer heute das wenigstens grundsätzlich können und dürfen, so sprechen, wie er schreibt, so schreiben, wie er spricht.

Man mag die hier skizzierte Entwicklung beklagen, den hier formulierten Vorschlag ablehnen. Wer, wie ich selbst die Balance des 19. Jahrhunderts von Kultur- und Staatsnation noch erlebt hat, in der doppelten Loyalität zur einen und zur anderen aufwuchs, wird es wohl unzumutbar, geradezu absurd empfinden, eine Wahl zwischen den beiden zu treffen. Aber wenn mich nicht alles täuscht, hat die weitaus überwiegende Zahl der Deutschschweizer, wodurch auch immer veranlasst, diese Wahl getroffen. Die Balance existiert nicht mehr. Der heutige Schweizer erlebt sein Land als einen geschlossenen, von seiner nächsten Umgebung durch eine zwar unsichtbare, aber desto schärfere Linie getrennten Raum. Stuttgart liegt ihm ferner als New York. Aber erst wenn er die Sprache, die er nun einmal für die einzige ihm wirklich gehörige hält, auch bewusst und voll akzeptiert, ist er wirklich bei sich angekommen, dort, wohin er über die Stationen 1499 und 1648 offenbar gelangen wollte. Erst mit einer Schweizer Sprache ist er im Rahmen eines heutigen Selbstverständnisses, so wenigstens fürchte ich, wirklich "frei und unabhängig" im Sinn der historischen Formel, frei auch von Ressentiments und Komplexen im Umgang mit der Vergangenheit seines Landes. Und das wäre immerhin ein Gewinn.

Typoskripte 1983 (alph.)
(Total: 89 )
Typoskripte 1983 (Folge)
(Total: 89 )
Suchen: Typoskripte 1983