Sonntag, 25 November 1951

Lieber Thomas …*

Lieber Thomas,

dieser Abend ist wieder einer jener beängstigend hell-warm-feuchten, die es hier bei Schirokko gibt. Wir waren in San Clemente: die Mosaiken im Chor sind beleuchtet, in den Blumenranken reiche¿ Fruchtkörbe, Pfauen, Hirsche und menschliche Figuren in frischen Farben auf reinem Gold wie am ersten Tag. Zum ersten Mal war ich // 132 in den unterirdischen Gewölben der alten Basilika und im Mithrastempel: der Altar mit dem Relief des stiertötenden Gottes<,> dem Hund, dem Skorpion, den Fackeltragenden Jünglingen und der Schlange ist mitten in der Höhle aufgerichtet, ganz in der Apsis das Kultbild des Mithras: ein aufrechter Jüngling mit phrygischer Mütze. Die Heiligtümer dieser Religion seien immer in Höhlen gewesen, so wie ja auch die überall fast genau gleich wiederkehrende Szene mit dem Stiertöter in einer Höhle zu denken ist. (Eines dieser Bilder sah ich auch auf einer Terracotta im Basler Museum) // 133 Diese Weisheit habe ich aus Burckhardts „Konstantin“. Hier kam mir das wieder in den Sinn. Du musst das Buch einmal lesen, es bedeutet doch wohl die Entdeckung der Spätantike.

02 Hier macht man überall auf Plakaten Propaganda für und gegen den Atlantikpakt. Erstaunlich ist für uns Schweizer, wie erbittert die Prinzipien der Aussenpolitik umstritten sind. Dies und die offenbar sehr unausgeglichene soziale Lage lassen – trotz De Gasperi – hier das uns gewohnte politische Sicherheitsgefühl schwer aufkommen.

03 Das ist aber altkluges Gerede. Hast Du den Jünger-Artikel Kutters gelesen und das zugehörige Buch „Waldgang“. // 134 Jünger fröhnt seiner Neigung zum Äussersten, interpretiert die augenblickliche politische Lage auf d. pathetisch-Katastrophale hin. Das ist sehr unangenehm, eine Art verspätete Pfadfinderei: Waldlauf und Nummernspiel.

04 Grüsse die lorbeergeschmückte Vreni von uns beiden und komm zu Weihnachten nach Rom. Ob Du bei uns wohnen kannst, steht dahin, denn die Wohnung will und will nicht fertig werden.


Seite 131 (C-2-b_04_131.jpg)

 

 

 

 

 

 

Lieber Thomas,

heute dieser Abend ist

je wieder einer jener beängstigend

hell-warmen-feuchten, die es hier

bei Schirokko gibt. Wir Wir waren

in San Clemente: die Mosaiken

im Chor sind beleuchtet, in den

Blumenranken die reiche¿ Frucht-

körbe, Pfauen, Hirsche und mensch-

liche Figuren in frischen Farben

auf reinem Gold wie am ersten

Tag. Zum ersten Mal war ich //

Seite 132 (C-2-b_04_132.jpg)


in den unterirdischen Gewölben

der alten Basilika und im Mithras-

tempel: der Altar mit dem Re-

lief des stiertötenden Gottes dem

Hund, dem Skorpion und, den

Fackeltragenden Jünglingen

und der Schlange ist mitten in

der Höhle aufgerichtet, ganz in der

Apsis das Kultbild des Mithras:

ein aufrechter Jüngling mit phry-

gischer Mütze. Diese Die Heilig-

tümer dieser Religion seien
tümer dieser Religion waren immer

in Höhlen gewesen, so wie ja auch

die überall wiederkehrende Szene

fast genau gleich wiederkehrende Sze-

ne mit dem Stiertöter in einer

Höhle zu denken ist. (Eines dieser

Bilder, fast genau sah ich auch auf

einer Terracotta im Basler Museum) //

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Diese Weisheit habe ich aus Burckhardts

„Konstantin“. Hier kam mir das

wieder in den Sinn. Du musst

das Buch einmal lesen, es bedeutet

doch wohl die Entdeckung der

Spätantike.

02 Hier macht man überall auf Plakaten

Propaganda für und gegen den Atlan-

tikpakt. Erstaunlich ist für uns

Schweizer, wie erbittert die Prinzipien

der Aussenpolitik umstritten sind.

Dies und die offenbar sehr unaus-

geglichene soziale Lage machen las-

sen – trotz De Gasperi – hier das uns

gewohnte politische Sicherheitsgefühl

schwer aufkommen.

03 Das ist aber altkluges Gerede. Hast

Du den Jünger-Artikel Kutters gelesen

und das zugehörige Buch „Waldgang“. //

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Jünger fröhnt seiner Neigung zum Äus-

sersten, schreibt über interpretiert die

augenblickliche politische Lage auf d.
augenblickliche politische Lage ins pa-

thetisch-Katastrophale hin. Das

ist sehr unangenehm, eine Art verspä-

tete Pfadfinderei: Waldlauf und

Nummernspiel.

04 Grüsse die lorbeergeschmückte Vreni

von uns beiden und komm zu

Weihnachten nach Rom. Ob Du

bei uns wohnen kannst, steht

dahin, denn die Wohnung will und

will nicht fertig werden.

25.11.51

 

  • Letzter Druck: Unpubliziert
  • Textart: Brief
  • Datierung: Vollständiges Datum
  • Schreibzeug: Bleistift
  • Signatur: C-2-b/04
  • Seite / Blatt: 131 (unten), 132, 133, 134 (oben)

Inhalt: Prosanotate, Briefe, 88 Entwürfe zu 75 Gedichten (15 Endfassungen)
Datierung: 12.11.1950 – 14.12.1951
Textträger: Rotes Notizbuch, liniert, Bleistift
Umfang: 144 beschriebene Seiten
Publikation: Verstreutes (3 Gedichte)
Signatur: C-2-b/04 (Schachtel 79)

Bilder: Ganzes Buch (pdf)
Spätere Stufen: Manuskripte 1948-51, Typoskripte 1948-50, Kutter
Kommentar: 29 Texte rhythmische Prosa, 20 gereimte Gedichte, 14 reine Prosanotate und Briefentwürfe
Deckblatt oben: Kuno Räber, Mitte: Begonnen am 12.11.50
Wiedergabe: Edierte Texte, Abbildungen, Umschriften

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