Materialien: Tagebücher

Inhalt: Tagebuchauszüge zur Poetik und zu einzelnen Gedichten
Datierung: 1948 – 1991
Umfang: Ausgewählte Textstellen aus ca. 20 Tagebuch-Heften
Signatur: C-2-a/01 …, C-2-c/01 … (Schachtel 77-79)

Wiedergabe: Textkonstitution ohne Verzeichnung der Korrekturen

Montag, 04 August 1980       )

4.8.80

Umschlagtext zu den „Reduktionen“: Diese Gedichte sind Reduktionen, sie halten von den Gegenständen der Welt, die dem Autor jemals begegneten, nur den entscheidenden Eindruck fest, die Vision, den Klang einer Begegnung, die ihn wie ein Blitz traf. Mythos, Geschichte, Natur sind zurückgeführt auf ein paar Grundfiguren. Konzentriert und allen Beiwerks entledigt, sind sie zuweilen in ihrer Knappheit Rätselsprüchen ähnlich.

Freitag, 04 Juni 1982       )

4.6.1982

Eine Sprache, die man nicht sprechen mag, soll man auch nicht schreiben. Und umgekehrt. Eine Schriftsprache, // die ihre Normfunktion für die gesprochene Sprache nicht oder nicht mehr hat, also keine Hochsprache ist, soll man aufgeben. Die Schweiz versuchte einen früher allgemeinen Übergangszustand zu petrifizieren: Gesprochene Sprache hier, geschriebene Sprache dort. Das ging aber nur so lange, als es eine eindeutige Hierarchie gab. Die Schriftsprache setzte die Norm, der man sich in der gesprochenen Sprache, wenn auch langsam und unvollkommen, immer mehr anglich. Ein Prozess, der nie vollendet sein kann, aber der notwendig ist, wenn nicht ein schizophrener Zustand sich herausbilden // soll. Wie wir ihn in der Schweiz nun nachgerade haben: Die Schweizer glauben, zwei verschiedene Sprachen zu haben und diese fein säuberlich voneinander getrennt benützen zu müssen. Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, dass man die gesprochene Sprache der geschriebenen vorzieht. Der einzig vernünftige nächste Schritt wäre, dass man die gesprochene Sprache auch schriebe und die bisherige Schriftsprache, da sie in der Schweiz offenbar tot ist, ganz aufgäbe. 

[…]

Donnerstag, 09 Dezember 1982       )

9.12.1982

Die Risiken, die der Künstler auf sich nehmen muss, wenn er wirklich ein Künstler ist, seine Kunst weder als Broterwerb noch als Hobby, sondern unbedingt und ungeteilt ausübt, sind diese: 1.) Dass er als Nichtstuer und Faulenzer verachtet wird, 2.) dass man ihn einen Parasiten schimpft, 3.) dass er wirklich auch ein „Parasit“ ist, insofern er, um seiner eigenen Arbeit willen, vom Besitz und der Arbeit anderer leben muss, 4.) // dass er über lange Strecken hin, oder sogar während seines ganzen Lebens bis zu seinem Tode, keinen Erfolg hat und darum immer wieder von Selbstzweifeln gequält wird, 5.) dass er aufgrund all dieser Umstände paranoisch wird, Verachtung und Nichtanerkennung auch dort wittert, wo gar kein Anlass dazu ist, dass er sich isoliert von den Menschen und am Ende vereinsamt.

02 Aus all dem ergibt sich, dass Anerkennung und finanzieller Erfolg für den Künstler nicht // weniger wichtig sind als für alle anderen Leute auch, jedenfalls beinahe: Im Unterschied zu diesen aber kann er sich, und das ist einer der Punkte, wo die Echtheit seines Anspruchs sich erweist, nicht einfach nach den Umständen richten und, falls er mit der einen Sache keinen Ruhm und kein Geld erlangt, kurzerhand eine andere anfangen. Der Kaufmann, der Fabrikant verlegt sich, wenn er mit der einen Ware nicht ankommt, auf eine andere; man // erwartet von ihm mit Recht, dass er das tut, denn der Zweck seiner Tätigkeit ist es Geld zu verdienen. Der Künstler indessen tut seine Arbeit um ihrer selbst willen, „L’art pour l’art“, und wenn er auch immer hofft, Geld zu verdienen und Erfolg zu haben damit, am Ende, wird ihn das nie bestimmen, weil er, wenn er tatsächlich ein Künstler ist, ein legitimer Nachfolger der Priester, Propheten und Magier des religiösen Zeitalters, // unter einem Zwang steht, dem er sich nicht entziehen kann, ohne sich selbst zu verraten.

[…]

Sonntag, 06 Februar 1983       )

6.2.1983

Der Titel des Buches „Neue Gedichte – teils in Hochdeutsch teils in Luzerner Alemannisch – mit einigen Bemerkungen zur sprachlichen Situation der deutschen Schweiz". – Eine Begründung steht an zum beabsichtigten Austritt aus dem <deutschen> Schriftstellerverband. Schon lange hatte ich ihn mir vorgenommen, aber ihn aus Ängstlichkeit – ich fürchtete Feindschaften, Intrigen, ökonomische Nachteile – nicht gewagt. Jetzt, da so viele bekannte Leute ausgetreten sind, habe ich solche Befürchtungen weniger, dafür eine neue: mich lächerlich zu machen, unter Niveau zu gehen, indem ich den Eindruck erwecke, ich liefe den anderen nach. Einen Vorwand gäbe mir im Moment // eine Umfrage des Verbandes, wie man zu ihm stehe. Sicher ist, dass ich die permanente ideologische Indoktrination und Inanspruchnahme für politische Ziele gründlich satt habe. Ich kämpfe für niemandes Befreiung, fühle mich keiner Klasse oder Gruppe verpflichtet, der „Fortschritt“ der Menschheit, im Sinn der Linken zumindest, ist nicht mein Anliegen. Als Dichter jedenfalls bin ich weder für noch gegen jemanden und erlaube niemandem, in meinem Namen politisch Stellung zu beziehen und Erklärungen abzugeben. Und dann hasse ich den kumpelhaften Umgangston, der in diesem Verein herrscht. Ich habe keine „Kollegen“ und bin niemandes „Kollege“.

Donnerstag, 07 April 1983       )

7.4.1983

Wenn ich wollte, könnte ich gegenwärtig täglich Gedichte schreiben; aber das hätte nur therapeutischen Wert, würde mich wahrscheinlich etwas aufmuntern, erheitern, doch wäre es nur Serienproduktion, ohne „innovatorischen“ Anspruch. // Ich muss mich mit diesem Zustand der Verstimmung nun einfach abfinden, ihn nicht weiter dramatisieren. […]

Dienstag, 26 April 1983       )

26.4.1983

Meine Vorahnung trog nicht: Schon gestern Abend eröffnete mir Erb am Telefon, seine finanzielle Lage erlaube ihm nicht, mein neues Buch noch im // Herbst herauszubringen. Er hoffe, bis nächsten Frühling die Mittel dafür aufzutreiben. – Was soll ich tun? Nunmehr liegen bei Erb drei Bücher: „Essays“, „Vor Anker“ und „Abgewandt Zugewandt“ zum Druck bereit. Falls er, wie er hofft, ab 1984 alle zwei Jahre ein Buch herausbringt, geht es bis 1988, dass alle drei gedruckt sind. Sollte ich in der Zwischenzeit, sagen wir bis 86, ein weiteres Buch beenden, ginge es dann u. U. bis 1990, dass auch dieses endlich gedruckt würde. Wenn er, wie ich nach meinen bisherigen Erfahrungen fürchten muss, das trotz allen Anstrengungen nicht schafft, dauert es noch länger. Ich bin nun ja wirklich kein Viel- und schon gar nicht ein Schnellschreiber; aber was mache ich mit einem Verlag, // der nicht einmal oder höchstens imstande ist, alle zwei Jahre ein Buch von mir herauszubringen? Ich bin kein Journalist, der sich in Zeitungen, Zeitschriften, im Rundfunk äussert, oder doch nur sehr nebenher, meine Form der Äusserung sind die Bücher. Wenn diese nicht erscheinen, habe ich kein Recht, mich als Schriftsteller zu bezeichnen – ich bin dann nur noch ein literarisch dilettierender Privatier. Es geht hier um meine Selbstachtung.

Samstag, 28 Mai 1983       )

28.5.1983

„Liebe Barbara Bondy, ich danke Ihnen für Ihren Brief und entnehme ihm zu meiner Betrübnis, dass die  SZ zum ersten Mal, seit ich ihr, selten genug, Lyrik zuschicke, für kein einziges der angebotenen Gedichte Verwendung hat. Das stimmt mich nachdenklich. Ich hoffe, sie empfinden es nicht als Belästigung, wenn ich es nochmals versuche // und Ihnen eine Anzahl weiterer Stücke aus dem Manuskript unterbreite. Vielleicht findet sich dabei doch noch das „Passende“. Mit freundlichen Grüssen …“

02 Dass ich immer noch solche Briefe schreiben, mich den Leuten anbieten, mich ihnen aufdrängen muss. Aber das gehört wohl zum Geschäft, man muss da ganz kalt und unerbittlich sein, darf nie das Gefühl der Gekränktheit aufkommen lassen. Wichtig ist, dass ich meine Arbeiten so weit wie möglich verbreite. Ich schreibe schliesslich nicht für mich, sondern für die Welt: ein Gedicht ist erst fertig, wenn es beim Hörer, beim Leser angekommen, in ihn eingegangen ist. –

03 „Sehr geehrter Herr Görtz, es freut mich ebenso sehr, dass sie meine Gedichte  // mit Interesse gelesen haben, wie es mich betrübt, Sie mit keinem einzigen  davon in dem Masse, das einen Abdruck in der FAZ rechtfertigen würde, überzeugt zu haben. Ich hoffe, Sie empfinden es nicht als Belästigung, wenn ich Ihnen noch einige weitere Stücke aus dem Manuskript unterbreite: vielleicht findet sich doch noch das eine oder andere dabei, das Ihren Ansprüchen genügt.
Es scheint mir angebracht, dass ich Ihnen meine, vielleicht befremdliche Hartnäckigkeit kurz erkläre: Die FAZ ist nun einmal das für die literarischen Entwicklungen im deutschen Sprachraum repräsentative Organ. Kein Autor, der Anspruch darauf erhebt, von den Zeitgenossen zur Kenntnis genommen zu werden, kommt um diese Tatsache herum. Wenn ich Ihnen also immer // wieder Muster aus meinen neuen Arbeiten zuschicke und mich in dieser Übung auch durch regelmässige Ablehnung nicht beirren lasse, hat das seinen Grund einfach in meiner Meinung von der Bedeutung der FAZ und natürlich auch – das bitte ich Sie, mir nachzusehen – in meiner Meinung vom Wert meiner Arbeit. Mit freundlichen Grüssen …“

04 Ich habe die beiden Briefe abgeschickt, der FAZ die Gedichte dazu, die mir die SZ zurückgeschickt hatte, und umgekehrt. Ich glaube zwar nicht, dass ich Erfolg habe, denn warum sollten die Leute die einen Gedichte mehr mögen als die andern? Es gibt da keine wesentlichen Qualitätsunterschiede. Allenfalls im Ton, in der Thematik, das natürlich. Aber die Serien, die ich den beiden Zeitungen gegeben hatte, waren, // soweit ich sehe, gut gemischt.

05 Immerhin, das Experiment macht mir Spass, die Leute in Verlegenheit zu bringen – sie machen es schliesslich mit mir nicht anders. So leicht wimmeln sie mich nicht ab, die Propagatoren von Wolfgang Bächler, Günter Kuhnert, Sarah Kirsch. So gut wie die bin ich auch, um von Ulla Hahn nicht zu reden.

Sonntag, 05 Juni 1983       )

5.6.1983 München

In meinem Essay über Dialekt und Hochsprache in der Schweiz verhalte ich mich entschieden opportunistisch: er ist so geschrieben, dass, wenn der Dialekt in der Schweiz wirklich zur Hoch- und Schriftsprache // werden sollte, ich mich dann als Prodromos und (Mit)Urheber dieser Idee und Entwicklung rühmen kann – wenn sie aber verworfen wird und anders verläuft, das Hochdeutsche sich am Ende doch behauptet und wieder an Boden gewinnt, dann bin ich der Warner gewesen, der seinen Schweizern die Situation bewusst gemacht, sie aufgerüttelt und aus der Gefahr gerettet hat.

02 Aber was will ich denn nun wirklich? Für wahrscheinlich halte ich, dass auf längere Dauer, bis in fünfzig, hundert Jahren der Dialekt sich durchsetzt und ganz zur Hoch- u. Schriftsprache wird. Aber meinem Geschmack, meiner Neigung entspricht das Gegenteil: dass das Hochdeutsche // aufholt und aus einer blossen Schriftsprache auch wieder zur Kommunikations- und sogar zur normalen Umgangssprache wird. […]

Mittwoch, 12 Oktober 1983       )

12.10.1983

Beginn der Frankfurter Buchmesse. Wut und Erbitterung darüber, dass mein neues Buch „Abgewandt Zugewandt“ nicht erschienen ist, dass nunmehr drei Bücher ungedruckt bei Erb liegen, obwohl er für alle drei versprochen hat, sie zu bringen, die „Essays“ sind sogar schon dreieinhalb Jahre unter Vertrag. – Ein Autor, dessen Bücher nicht gedruckt werden, ist kein Autor, ist gar nicht vorhanden, allenfalls eine // schrullige Erscheinung; er hat den Beruf verfehlt.

[…]

Freitag, 23 Dezember 1983       )

23.12.83

Nach drei Jahren eines, relativen, stetigen Erfolges bedeutet dieses Jahr 1983 einen jähen und völlig unerwarteten Absturz: Durch die Weigerung meines Verlegers „Abgewandt Zugewandt“ herauszubringen, durch // seine Inaktivität, was die drei anderen geplanten Veröffentlichungen angeht, bin ich aus dem literarischen Leben praktisch verschwunden. Die Vorabdrucke aus „Abgewandt Zugewandt“, der in Rom gedrehte Film über „Das Ei“ sind da ein geringer Trost, im Gegenteil: die folgenlosen Ankündigungen in der Presse, die wegen des Ausbleiben des Buches abgesagte Ausstrahlung des Films bedrücken mich zusätzlich, steigern meine Erbitterung. Ich fühle mich vor mir selbst und vor der Öffentlichkeit blamiert und lächerlich gemacht.

Sonntag, 05 Mai 1985       )

5.5.85

Zwei Tage in St. Gerold in Vorarlberg: Tagung österreichischer und schweizerischer Autoren. Helen Keller, Erica Pedretti, Eisendle. Ich hatte, wie schon in Luzern, vor allem Erfolg mit den Dialektgedichten. Der Propst – St. Gerold ist eine Aussenbesitzung von Einsiedeln – sagte mir, dass er den Unterschied zwischen dem „Kopfton“ der hochdeutschen und dem „Herzton“ der alemannischen Gedichte stark empfunden habe. Ich erwiderte ihm, dass Gottfried Keller, sollte das zutreffen, seine Herzgedichte wohl gar nie geschrieben habe, weil man zu seiner Zeit und auf seiner Ebene // nur hochdeutsch schrieb. Schade?

02 Gleichgültigkeit gegen die Meinungen der Menschen einüben. Unbedenklichkeit, Konsequenz, Konzentration immer stärker auf das, worauf es mir ankommt. Die archetypischen Bilder, der Rhythmus, die Musik auch der Prosasprache. Mich nie mit einer mittelmässigen, zweitrangigen Sache begnügen. Das Unzulängliche, allenfalls, eine Zeit so stehen lassen, weil ich noch nicht weiter komme.

Dienstag, 07 Mai 1985       )

7.5.85

Sollte es sich tatsächlich so verhalten, dass ein Schweizer Autor erst in seinen Dialektdichtungen seine volle Sprachkraft entfaltet, wäre das eine Bestätigung meiner Kritik am Schweizer Erziehungssystem: Dass es nämlich falsch ist, Kindern als erste und einzige Sprache in den fünf, sechs ersten Lebensjahren einen Dialekt beizubringen und nachher eine Hochsprache darüberzustülpen. Statt die Hochsprache, wenn man sie schon will, gleich von Anfang an im Umgang mit dem Kind zu verwenden. Was in den ersten Lebensjahren versäumt wurde, kann nie mehr nachgeholt // werden. Eine erst in der Schule erlernte Sprache bleibt immer eine „Kopfsprache“, wird den vollen „Herzton“ einer im frühkindlichen Alter osmotisch erworbenen Muttersprache niemals gewinnen. Meist wird das nicht bewusst und nicht sichtbar, weil der Vergleich fehlt, weil sich, auch heute noch, die wenigsten Schweizer, und schon gar nicht die Schweizer Dichter, des Dialekts für den schriftlichen Ausdruck bedienen.

Dienstag, 15 Mai 1990       )

15.5.90

Die NZZ brachte einen Artikel über Märchenmotive in der heutigen Lyrik. Darin erschien auch mein Gedicht // über das Mädchen mit dem nächtlichen Löwen. Als Beispiel für die Vergeblichkeit des Erweckungskusses. Dieser kleine Hinweis hob meine Stimmung sofort. Und ich musste über mich lachen, über meinen Durst nach Anerkennung, wie wenig schon genügt, um mich glücklich zu machen. […]

Sonntag, 24 Juni 1990       )

24.6.90

Idee für einen Roman: Expedition zur Suche nach dem Haupt Johannes des Täufers.

[…]

Mittwoch, 30 Januar 1991       )

30.1.91

Gedichtzyklus: „Der Basar“ oder „Der Soukh“: Die gewürzduftenden Schluchten, Jerusalem, die zur Grabeskirche führen und von da zur Kirche der Dormitio. Der Herr, mit den Engeln, tausend Engeln, steigt herab und füllt, mit den Engeln, den Raum und nimmt die weissgoldene Seele aus der Brust seiner Mutter und trägt sie weg über die duftenden, lärmenden Schluchten und über sein Grabhaus hinweg zu den Bergen, den Höhlen, woraus die Anachoreten hervorkommen und schauen und lauschen dem Gesang der Engel: Ich habe dich, meine Braut, meine Schwester, meine Mutter gefunden //und trage dich heim in die Rose. Ihr Duft, vereint mit allen Gerüchen der Berge, Gebirge, den Haufen der Spezereien, betäubt, eine fremde Erfahrung, die Sinne der Händler, Magier, Lehrer, Metzger, Juweliere, Schneider und Schuster. Die nicht wissen, woher das kommt, was das ist. Aber es ist in ihnen, steigt heraus aus ihrem eigenen Herzen. Ein ungeheurer, heiliger Wahnsinn.

Sonntag, 03 Februar 1991       )

3.2.91

Mein „Realismus“, wie Chr. E. das nennt: Mein Gedicht, womit ich meine Arbeit als Ganzes bezeichne, besteht und entsteht aus Worten. Eines zieht das andere nach sich. Es sind da Bilder, Gedanken, ohne Zweifel. Aber sie stützen sich auf die Worte, die mich verführen und weiterführen, Klang und Rhythmus der // Worte und Sätze sind das Netz, die Armatur, welche alles, schwingend, enthält und trägt. Es wäre da die Gefahr der leeren Rhetorik, wenn es nicht die Leidenschaft der Gestaltung gäbe, den Hauch, der durch alles hindurchweht. Der Zwang zum Ausdruck, der alles vorantreibt. Ein Spieler, ein Jongleur, so sehe ich mich als Autor, den die Worte, die Satzströme leiten. Die Bilder, Gestalten, Gedanken kommen dann als Material herbei, ohne geht es ja nicht. Aber am Ende kommt es darauf nicht an.

02 Abver natürlich stimmt das alles nur halb. Ich bin nicht imstande, das Ganze, das Eine und das Andere, gleichzeitig zu sagen. Ein anderes Mal die andere Hälfte. Es geht mir damit so wie dem heiligen Augustinus mit der Trinität am Meer. Das Ganze ist, auf einmal, nicht zu fassen. 

03 Auszuführen: Freunde, Förderer, // Kunden als Problem des Puritaners.

Mittwoch, 10 April 1991       )

10.4.91

Die Sprache trägt. Die Rhythmen und Bilder zeugen neue Rhythmen und Bilder, oft weiss ich selbst nicht, ich kann oft nicht erklären, warum gerade dies aus dem anderen folgt, der Zusammenhang ist mir zwar evident und zwingend, aber ich kann nicht sagen, warum. Es ist mir alles klar, aber nicht „logisch“ in dem Sinn, dass ich den Grund dafür benennen könnte. Ich weiss es in meiner Seele, in meinem Gefühl, aber nicht in meinem Kopf. Ein lyrisches Prinzip gleichsam, das ich walten lasse, wenn es nur im Ganzen stimmt, die Sache, die ich zeigen will, zur Anschauung bringt. Die Wahrheit // wohnt in meinem Wesen, in den Eingeweiden, im Leib, in der schreibenden Hand. Der Klang ist da, die Vision. Ein gefährliches Verfahren, weil am Ende alles falsch sein kann, ohne dass ich es merke. Aber ich habe mich meinem Dämon übergeben, der mich leitet. Ich greife zwar, ordnend, ein mit dem Verstand, doch nur sehr behutsam, um ja nicht das in den Worten, den Bildern, der Satzmelodie Verborgene [nicht] zu stören oder gar zu zerstören: „Stern und Blume, Geist und Kleid, Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit“. Oder wie Novalis es sagt: „Wenn nicht // mehr Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen, dann fliegt vor einem geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort“.

02 Aber unheimlich ist dies ohne Zweifel, ein Entlangtasten am Rand des Kraters. Hinein in die glühende Masse zu fallen, nach innen, oder hinaus in die tote graue Asche, nach aussen. Gibt es da eine Wahl?

03 Platen: Leer, akademisch, mit aus dem Kopf herbeigeholten, aus dem literarischen Fundus hervorgezogenen Gedanken und Bildern, theatralisch kostümierten Gefühlen. Es ist da wohl ein Drang zum Ausdruck, aber ohne die Glut, die von innen und unten her, von zuunterst, // alles zusammenzuschmelzen vermöchte. Er bleibt, ganz undichterisch, immer vernünftig. Verstand wohl, aber kein Pneuma.

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