GEDICHTE 1960

Titel: GEDICHTE
Verlag: Claassen Verlag GmbH, Hamburg (1960)
Druck: Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege
Inhalt: 46 Gedichte
Textträger: Broschiertes Oktavbändchen, gelber Umschlag, 56 Ss

Vorstufen: Notizbuch 1955-57, 1957-58, 1958-61, Manuskripte 1957, 1958, 1959-60, Typoskripte 1957
Kommentar: Auslieferung: 29.3.1960; Beschreibung

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ROSSE

Unten im Keller des Turms
gehen die Rosse rundum.
Sie pumpen das Wasser, es rinnt
von der wiegenden Spitze. Wir sitzen
05 im Zimmer, wir sprechen
und trinken ein Bier nach dem andern,
wir rauchen schnell Zigaretten.

Unten im Keller des Turms
laufen die Rosse rundum.
10 Das Wasser stürzt, Katarakt,
von der wankenden Spitze.
Wir irren im Zimmer, wir halten
uns an den Wänden, wir flüstern, das Bier
ist verschüttet. Wir rauchen in kurzen
15 Zügen die letzte Zigarette. Der Mond
schwimmt weg, damit ihn die Spitze
nicht aufritzt.

Unten im Keller rasen die Rosse
rundum und schwitzen.

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STEINE

Da liegen geädert die Steine
aus dem geleerten
Bergwerk. Saum des Trottoirs.
Saum des geleerten Ägyptens.

05 Du fährst am Abend wie immer
mit der Kutsche entlang
der Promenade zum Meer.
Aber am Morgen weckt dich nicht mehr das Scheppern
der Eimer und das Fegen der Besen am Pflaster.

10 Die Wüste kam über die Gärten, betäubte
die Steine, Saum
des Trottoirs, Saum des geleerten Ägyptens,
Echo des Hufschlags von den Mauern. Geädert
lägen darunter die Steine. Sie liegen,
15 wieder betäubt, für dich da im entleerten,
im verschütteten Bergwerk Ägypten.

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KARDINAL

Seine Robe rollt,
wenn er im Park spaziert,
bis fast ins Meer,
das ihn violett zurück ins Zimmer mahnt.

05 Eh er sich aber ganz gewendet,
bezaubert ihn das Sternbild, das,
die bunten Lichter wechselnd,
aus dem Dunstsaum schnell herauffährt.
So schnell, daß er Sankt Nikolaus bäte,
10 es aufzuhalten,
wenn er nicht wüßte,
daß es täglich um diese gleiche Stunde unaufhaltsam
hier durch nach Rom fliegt.

Statt seiner Robe bleibt das Rosenbeet
15 am Strande ausgebreitet,
wenn er im kleinen Kleid Zitronensaft
trinkt und beschwört die ruhigeren Bilder,
daß sie bleiben, bleiben.

Da doch manchmal schon Matrosen
20 ganz nah heran auf Paddelbooten kommen
und ihn zusammen mit den Pfauen knipsen
und ihm freundlich »Dann eben nicht« zurufen,
wenn er mit Würde ihre Zigaretten ablehnt …

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CHIRON UND ACHILL

CHIRON: Ich glaube, ich habe dich jetzt alles gelehrt, was ich dich lehren kann.

02 ACHILL: Heißt das, daß du jetzt nicht mehr mit mir sprechen willst?

03 CHIRON: Das heißt es nicht. Aber es ist nicht mehr nötig, so wie es diese drei Jahre lang vielleicht nötig war.

04 ACHILL: Nein, erst jetzt fängt unser Gespräch an interessant zu werden, seit du vor vierzehn Tagen das erste Mal die Leier weglegtest.

05 CHIRON: Nur die Leier konnte ich dich lehren. Daran hatte unser Gespräch Halt. Ohne sie bedürfte es eines Aufwands von deiner und meiner Seite, von dem ich nicht weiß, ob du bereit bist, ihn zu leisten. Und ich glaube auch gar nicht, daß du ihn leisten sollst. Ich habe erreicht, was ich wollte, was ich erhoffen durfte; du brauchst mich nicht mehr.

06 ACHILL: Du willst mich verlassen?

07 CHIRON: Du bist es, der den Abschied will. Nur weil du jung und zutraulich bist und weil man dir viel von Dankbarkeit und Treue gesprochen hat, willst du es im Augenblick nicht wahrhaben. Aber das gibt sich schnell. Es ist genau umgekehrt: ich bin der, welcher dich bitten möchte, dessen Seele bittet, den Abschied aufzuschieben, weiterzuleben mit mir wie bisher.

08 ACHILL: Aber das will ich doch.

09 CHIRON: Es ist nicht möglich, nachdem ich die Leier weggelegt habe. Du schaust mich an, Achill! Stört dich, daß ich ein Kentaur bin?

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