Titel: FLUSSUFER / Gedichte
Verlag: Claassen Verlag, Hamburg (1963)
Druck: Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege/Werra
Inhalt: 53 Gedichte, Vorwort, Anzeige Raeber-Publikationen
Im Inhaltsverzeichnis 3 Zeiträume unterschieden:
- Gedichte 1960 (S. 7-13; 7 Gedichte)
- Gedichte 1961 (S. 14-24; 11 Gedichte)
- Gedichte 1962 (S. 25-59; 35 Gedichte)
Textträger: Bändchen mit festem, braunem Karton und Schutzumschlag, 64 Ss
Vorstufen: Notizbuch 1958-61, 1961-65, Manuskripte 1959-60, 1961, 1962, Typoskripte 1960, 1961, 1962
Kommentar: Vertragsabschluss: 29.11.1962; Beschreibung
Wer die Planke entlang
der Pyramide erklettert, erkennt
die verschollene Stadt und sieht
im Farnkraut sitzen den Toten.
05 Wer die Planke entlang
der Pyramide erklettert, der springt
ins Farnkraut hinunter und nimmt
die Katze von den Knien des Toten.
Du siehst die Kiesel nicht mehr,
die du von der Brüstung
auf den Schlafstein hinabwirfst. Der Wind
bog die Zweige und stürzte
05 dich in den Schatten. Du siehst
die Viper nicht, die unterm Schlafstein
erwacht und auf die Brüstung
heraufklimmt. Du hörst nur
das Klirren der Kiesel.
Eine Rose sprengt die Straßenmitte
auf, die Hummel
erwacht und schießt
an die Scheibe, stürzt zurück aufs Sims.
05 Dornen
sperren die Straße, und die Rose fängt,
versteckt und gierig,
Wagen, Fliegen in das Netz.
Über die betäubte Hummel weht davon der Duft
10 einer Rose, welche
sprengt die Straße in der Mitte auf.
Zu Blei
gerann der Golf dort unten,
und höher
schlagen über dem Kopf
05 die Wildgewächse zusammen.
Höher und dichter. Bald
werden sie dich halten für immer, auf daß du
nie mehr den Golf dort unten
siehst und nie mehr
10 hörst das tödliche, leise
Lied der Matrosen.
Kannst du nicht warten, bis das
Grab über dir einstürzt,
was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten, bis dir
05 der Ball hart gegen die Brust stößt,
was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten, bis dir
das Kind mit dem schmutzigen Finger
erstaunt übers Kinn streicht,
10 was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten aufs feuchte
Frühjahr, auf Kinder, auf Spiele, die dich zufällig
befreien, was klopfst du, was schreist du?
Kannst du nicht warten?
Höher die Flut,
die Pyramide ertrunken. Der Hund
lief über die Straße. Die Flut
versickert. Allein
05 Skarabaios schüttelt den Nilschlaf
ab, kriecht über den toten
Hund am Fuß der schimmelbedeckten
Pyramide. Die Flut
versickert. Allein Skarabaios.
Betrunken dring ich bei Frühlicht
in den Garten ein, der mich aus tausend
Tropfen starr ansieht. Allein
die Schildkröten regen sich und bereden,
05 im nassen Rasen versammelt,
die Gesichter der Nacht.
Sie zögen mich, wär ich bei Sinnen,
in ihr Vertrauen. Ich taumle
vorüber zum letzten
10 erleuchteten Fenster, als könnt ich
es retten vorm Sterben. Man hat
hinterm Horizont schon den
Sonnendolch Morgen geschliffen.
Nicht lang mehr, nicht lange
zuckst du im steinernen Flur
unterm Hall deiner Schritte zusammen.
Nicht lang mehr, nicht lange, du trittst
05 im Winkel des steinernen Flurs in die Bienen.
In deinen Ohren Gedröhn,
in deiner Nase der Duft
heimlich und lange und böse
im Winkel des steinernen Flurs
10 gesammelten Honigs.
Stiche.
Nicht lang mehr, nicht lange.
An dieser Insel, an jener
steig ich an Land. Am Strand
verteile ich Muscheln, unten
unter den Riffen gefunden.
05 Ich schwimme, ich tauche, ich finde,
ich steige an Land, ich verteile,
ich kaue die Kräuter, unten,
unter den Riffen gefunden.
An dieser Insel, an jener
10 steig ich an Land und verstecke
am Strand, was ich unten
unter den Riffen gefunden.
Wir sind immer auf dem steilen Abstieg zum Sommer.
Voran zwar mit weißen
Mützen und in gestreiften
Trikots flitzen Radfahrer. Aber
05 sie kommen nicht vor uns
an unten in der Mittelkammer des Sommers,
wo du auf dem Hocker,
dessen Lack abblättert,
im Scharlachumhang dich kämmst und, die Lider
10 vorm Spiegel sorgfältig schwärzend,
sie und uns alle unten am Ende des steilen
Abstiegs in der Mittelkammer des Sommers,
gleichgültige Pharaonin,
gleichgültig anschaust.
Hämisch krächzt im Anflug zur Insel,
hämisch, wenn vom Bruder nur noch ein paar
Federn weit verstreut schwimmen,
hämisch krächzt im Zurückschaun das Rebhuhn,
05 wenn von dem gestürzten, versunknen,
ertrunkenen Bruder nur noch ein paar
Federn weit verstreut schwimmen.
Hämisch krächzt im Anflug zur Insel das Rebhuhn.
An der Strandstraße kauerst du, kaust du
das bittere Blatt, wenn die weißen
Schirme im Schreien und im
Gekreisch vorüberziehn. Nicht sehen
05 wirst du, nicht hören,
bis dir mit der Woge der Seehund
über die Böschung springt in den Nacken.
Dann vergißt du zu kauen, dann rennst du,
verwirrst du, zertrittst du die weißen
10 Schirme. Die Woge, das Schreien,
das Gekreisch verläuft sich. Verwundert
schnuppert inmitten der leeren
Strandstraße der Seehund.
Kannst du nicht einen Schacht in der Wüste
aufwühlen, dort, wo der nächste
Palmengarten, der nächste
Brunnen weit weg ist?
05 Dort wird dir Öl ins Gesicht
springen, und auf dem
Bohrturm wird eine Flamme
den langen, von Dünsten bedrängten
Horizont in Stücke zerbrechen:
10 kannst du nicht wühlen?
Über dem Grab wird der Vogel
einen weißen
Schreistein auf den anderen setzen.
Die Begrabene wird
05 die Schreisäule nicht sehen, auf der
am Ende der Vogel
sich niederläßt und seine Flügel
steif breitet, damit
die Winde sie streifen zwar, aber
10 niemals verrücken.
Sieben Tage, Meer, schläfst du, bevor die
neuen Stürme dich rütteln; bevor sie
das Eisvogelweibchen vertreiben,
das durch deine Träume
05 hin- und herirrt. Vielleicht
erspäht es die Klippe, wo ich das bittre
Blatt weichkaue. Die Stürme
sind schneller, sie reißen
in den Gischt das Eisvogelweibchen, verschlingen
10 die Klippe. Nach sieben
Tagen, mein Schläfer, weiß
und wachgerüttelt, vergißt du die Träume.
Noch steht es, noch hängt es, das schwere
Ei überm Flachdach,
wo sie sich sonnen. Aber
das Ei wird zerbrechen, das Wasser
05 aufs Flachdach prasseln. Sie werden
die Jacken packen und laufen.
Das Ei wird fahren, sein Wasser
in die Straßen hinab
gießen und erst wieder halten über den dürren
10 Gärten, die leeren
Teiche zu füllen. Bald steht es,
bald hängt es, das leichte
Ei über den Gärten und schließt sich.
Sie legten ihn in das Grab
und vor das Grab einen Stein, der die Pfeile
auffinge, sicherer als
das Olivengewucher. Darin
05 versteckt rief ein Vogel
drei Tage lang ohne Pause:
»Sesam, öffne dich!«
Zähne,
kariös, aus der Lücke
dazwischen starrt eine Büste
dich an, die am Morgen,
05 wenn der Dunst schmolz,
Ewigkeit spielt.
Gäbe es singende Schlangen,
sie säßen tief
unten im Steinbruch, erschreckten
die zufällig des Wegs
05 kämen und in der Arena
sähen den Chor
schwankender grüner Gewächse,
hörten das Lied über Klippen,
über die leeren
10 Wände wiegen und wehen:
Gäbe es singende Schlangen …
Du ziehst den Faden
ab von der Rolle, die an der
Tür festgemacht ist, und ziehst ihn
um die Spiegel und Spiegelecken, so daß er,
05 wäre er nicht aus Nylon,
risse.
Dich nämlich zieht stärker,
zieht unerbittlich das Bild
des Stiermenschen, der innen,
10 hinter den Spiegeln
und Spiegelecken, versteckt
in den hochgeschossenen
Stauden, blinzelt und gähnt.
Engel im Regen,
kläglich, mit nassen
Flügeln, treiben
knapp über den Kämmen. Bis einer,
05 April, eine sonnige Stelle
findet, die Federn
schäumen auf, und die Glieder
rudern, plötzlich getrocknet, er kreist
nieder, Rieseninsekt.
10 Engel mit nassen
Flügeln treiben im Regen.
Du kauerst unter dem Gitter,
du kannst dich nicht wehren, wenn David
mit schmutzigen Füssen darüber
hinläuft, wenn Goliaths Haupt
05 niederbaumelt von klebrigen Fingern.
Wenn Goliaths Blut
dir ins Gesicht tropft,
kannst du dich nicht wehren.
Du kauerst verkrümmt unterm Gitter,
10 du kannst dich nicht wehren.
Einst bleibt
von mir nur noch die Stimme.
Du wirst mich in allen
Zimmern suchen,
05 auf den Treppen, in den langen
Fluren, in den Gärten,
du wirst mich suchen im Keller,
du wirst mich suchen unter den Treppen.
Einst wirst du mich suchen.
10 Und überall wirst du nur meine Stimme
hören, meine hoch monoton
singende Stimme. Überall wird
sie dich treffen, überall
wird sie dich foppen, in allen
15 Zimmern, auf den Treppen, in den langen
Fluren, in den Gärten, im Keller,
unter den Treppen. Einst
wirst du mich suchen. Einst
bleibt von mir nur noch die Stimme.
Schau nicht, schau nicht
hinab auf den Strom, wo im braunen
Papier, im Abschaum der Fabriken
der Kopf schwimmt mit dem
05 klaffenden Mund, den
blutigen Strähnen.
Drücke die Nase zu vor den Dünsten,
schau nicht, schau nicht
hinab auf den Strom,
10 hör nicht
auf das Schreien der Wipfel am Stromrand.